Ins „Judenhaus“ umziehen zu müssen, war im Dritten Reich für Menschen jüdischer Herkunft ein schwerer Einschnitt ins Leben – und ein Verwaltungsschritt auf dem Weg zur Deportation. Auch Felix Ganz, ein vermögender Mainzer Kaufmann und Kunstsammler, musste 1941 mit seiner zweiten Frau Erna aus der großzügigen Villa mit Rheinblick in ein Mietshaus umsiedeln. Ein Zimmer pro Familie war vorgesehen, die meisten Habseligkeiten blieben zurück. Zu den beengten Verhältnissen kam die Ausgangssperre; das Hauptquartier der Gestapo lag direkt gegenüber. Für jeglichen kleinen Komfort – eine Kochplatte, ein Bügeleisen – war Felix Ganz nun auf einen Gefallen angewiesen. Briefe an seinen Freund Heinrich belegen, wie er h
höflich, aber mit untergründiger Verzweiflung um die Haushaltsgegenstände ansucht.Felix Ganz hat 1942 eine Skizze des winzigen Zimmers angefertigt, in dem er mit Erna über ein Jahr lang lebte. Seine Zeichnung war der Ausgangspunkt für Felix’s Room, ein Musiktheater-Projekt des Berliner Ensembles und der Komischen Oper. Im Programm „Spielräume!“ forschen sie gemeinsam an neuen Erzählweisen zwischen Digitalem und Analogem, Theater, Oper und Games. Den Text zu Felix’s Room hat Adam Ganz geschrieben, Felix’ Urenkel.Er ist unter anderem Professor für Drehbuchschreiben an der Royal Holloway University in London – ein Fachmann also fürs Geschichtenerzählen. Neben der Zeichnung des Zimmers und den Briefen hat er auch eine Kommode ausfindig gemacht, die Felix und Erna Ganz mit ins „Judenhaus“ in der Mainzer Kaiserstraße genommen haben müssen. Das Möbel wurde 1942 enteignet, als das Ehepaar ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde. 2019 tauchte es im Mainzer Landesmuseum wieder auf. Die Kommode ist ein stummer Zeitzeuge – und Adam Ganz wollte sie zum Sprechen bringen.ScanLab Projects hat 3D-Laserscans für „Felix's Room“ erstelltDafür hat der Brite auf der Probebühne des Berliner Ensembles ein Singspiel mit Orchester inszeniert. Mittendrin: die Original-Kommode aus Walnussholz, wie man aus dem Programmheft erfährt. Wie ein Museumsstück steht sie im Eingangsbereich, wird dann auf einem Wägelchen an ihren Platz in Felix’ Zimmer gerollt. Um sie herum ist nun aber kein naturalistisches Interieur aus dem Theaterfundus errichtet, sondern, und das ist der Clou der Inszenierung, der Raum ersteht aus holografischen Projektionen. Auf der Grundlage von Fotos und Objekten hat das britische Kreativstudio ScanLab Projects 3D-Laserscans erstellt und das Zimmer am Computer nachmodelliert.Grafische Umrisslinien zeichnen die Möbel und Fenster weiß in den dunklen Raum, dann wieder zieren eine altroséfarbene Tapete und bunte Vorhänge das mit dem Nötigsten stilvoll eingerichtete Zimmer. Werden akustisch die Luftangriffe auf Mainz simuliert, zoomt die Theatertechnik das Zimmer so klein, dass sich Veit Schubert vom Berliner Ensemble als Felix und Alma Sadé von der Komischen Oper als Erna in eine Ecke der Kammer ducken müssen, in die sie für die knapp 50-minütige Aufführung gesperrt sind wie das Ehepaar Ganz in sein Ein-Zimmer-Quartier.Schubert zitiert aus den Original-Briefen, die Adam Ganz gesammelt hat. Um eine mögliche Ausreise aus Deutschland geht es, um die Deportation Hunderter jüdischer Stadtbewohner und um den Suizid der Schwester. Friedlich eingeschlafen sei sie, schreibt Felix Ganz: Alles ist verklausuliert, sodass die Briefe die Zensur der Gestapo passieren können. Schließlich müssen die Briefe ihren Empfänger erreichen – auch wenn Heinrich dem Ehepaar letztlich nicht mehr helfen kann.Adam Ganz wahrt die Würde seines UrgroßvatersSadé verleiht den Szenen musikalisches Zeitkolorit. Mit dem Operettenwalzer Küss mich des jüdischen Komponisten Oscar Straus träumt sie sich zu den privaten Bällen in der Villa auf dem Michelsberg zurück. Julia Domke als Felix’ ins Ausland gerettete Tochter Olga singt eine Verdi-Arie, und einmal noch wiegt sich Erna mit Felix im Walzertakt, auch wenn die Streicher schon gefährliche Missklänge in den Schmelz mischen. Drohendes tönt in der Musik, wie die Schritte, die überlaut rund um das Zimmer dröhnen und seinen Bewohnern Todesangst einjagen.Am Schluss treten Schubert und Sadé aus dem beengten Raum. Felix Ganz hat das letzte Wort: „Man wollte, dass wir gehen. Wir sind geblieben.“ Bis zum bitteren Ende. Adam Ganz, der von einem Tisch am Rand der Bühne aus als Erzähler waltet, wahrt die Würde seines Urgroßvaters: Nach ihrer Deportation werde man die beiden in Felix’s Room nicht mehr zu sehen bekommen, sagt er. Erinnern soll man die beiden als Menschen, die ihr Leben trotz des Terrors bis zum Schluss aufrecht lebten.Verdienstvoll ist dieses Anliegen, und der Stoff sowie die technische Umsetzung sind interessant. Dass Felix und Erna Ganz eher zweidimensionale Figuren bleiben, liegt nicht an den Spieler:innen – Alma Sadé gibt eine wache, warme, treu ihrem Mann ergebene und doch eigenständige Erna, Veit Schubert mimt Felix verquält und in sich gekehrt, wie man es in der Situation verstehen kann. Die etwas bemüht wirkende Konstruiertheit von Felix’s Room liegt eher an einem Zuviel an Einzelteilen: Der Raum spielt eine Hauptrolle, das Orchester will zur Geltung kommen, die historische Akkuratesse muss ebenso beachtet werden wie eine stimmige Dramaturgie. Das findet nicht ganz zusammen, was die Relevanz von Felix’s Room nicht schmälert.