Schiere Schutzlosigkeit

Indien Auf dem Subkontinent mit seinen 1,3 Milliarden Menschen tritt die Corona-Pandemie vor allem als infra-strukturelle Krise zutage
Mumbai, März 2020
Mumbai, März 2020

Foto: Indranil Mukherjee/AFP/Getty Images

Am 22. März, bereits inmitten der Corona-Krise, rief Premierminister Narendra Modi zu einer 14-stündigen „freiwilligen Ausgangssperre“ auf. 1,3 Milliarden Menschen, größtenteils Tagelöhner und über zwei Millionen Obdachlose, sollten zu Hause bleiben und sich in social distancing üben. Zugleich bat der Premier darum, jeweils um 17 Uhr auf die Balkons zu treten, zu applaudieren und Glöckchen zu läuten. Dies sollte ein Zeichen der Dankbarkeit für die Mitarbeiter des Gesundheitswesens sein, die allerdings bis dato auf Hinweise zum Umgang mit der drohenden Pandemie von seiner Regierung warteten. Die Aufforderung von Modi könnte naiv oder auch verblüffend erscheinen.

Sie stellt sich aber als Ablenkungstaktik eines gewieften Politikers heraus, der neben dem religiös verbrämtem Aufhetzen (vor allem gegen Muslime) den Rückzug des Staats aus den meisten gesellschaftlichen Sektoren als Strategie verfolgt. Dies ist durchaus typisch für das populistisch-neoliberale Verständnis von Governance, das heutzutage in vielen Ländern der Welt vorherrscht. Doch im heutigen Indien zeichnet es sich aus durch mantrahafte Appelle an Werte wie Geduld, Disziplin, Aufopferung und „service as duty“, die als Tugenden eines orthodoxen Hinduismus gelten.

Kosmische Energie

Es erregt nur mäßig in der angeblich säkularen Demokratie, wenn der first citizen gegen Ende seiner Rede an die Nation, deren Ausstattung für die drohende medizinische, infrastrukturelle und ökonomische Krise äußerst prekär ist, die kosmische Energie von Shakti (eine Göttin, die für die Urkraft des Universums steht) evoziert. Natürlich heißt dies nicht, dass sich die gesamte Bevölkerung auf den Schutz himmlischer Kräfte verlassen würde. Ganz im Gegenteil, die Angst vor Ansteckung, verschärft durch falsche, teils tendenziöse Informationen in den sozialen Medien, ist im kollektiven Bewusstsein längst verankert. So kam es in den letzten Wochen zu punktuellen Übergriffen auf Ausländer und Inder aus dem Nordosten des Landes: „Ihr bringt Corona mit!“, hieß es. Es fehlt zudem nicht an Leuten, denen die „freiwillige“ Ausgangssperre als Test für weitere Restriktionen gilt – auch jenseits der medizinische Notwendigkeit. Bevölkerung verunsichert

So gut wie nichts kann über die Hilflosigkeit des politischen Apparats hinwegtäuschen. Auf einen ersten Beschluss der Zentralregierung musste bis zum 22. März gewartet werden. Dieser sah Sperrmaßnahmen in 75 Bezirken vor, in denen Ansteckungen festgestellt worden waren, darunter Delhi und Metropolen wie Mumbai, Kalkutta, Chennai und Hyderabad. Weiterhin gilt seit dem 22. März eine Sperre für internationale Flüge, inzwischen ebenso für Inlandsflüge, sowie für den Passagierverkehr der Eisenbahn, nachdem sich herausgestellt hatte, dass mehrere Infizierte, die eigentlich in Isolation gehörten, über mehrere Tage in Langstreckenzügen durch das Land gereist waren. Vielen Chefministern kamen diese Maßnahmen zu spät, sodass sie selbst die Initiative ergriffen: Manche schlossen öffentliche Ämter und Schulen, andere sperrten die Grenzen des eigenen Bundesstaates.

Tests verordnet

Freilich hat die Spontaneität und Raschheit dieser Beschränkungen die Bevölkerung nur weiter verunsichert und Tausende von Arbeitsmigranten zu improvisierten, für ein Eindämmen des Virus kontraproduktiven Heimkehraktionen gezwungen. Anfang April zählt Indien mit seiner riesigen, hochmobilen, dichten und oft medizinisch unterversorgten Bevölkerung zu den Ländern, in denen die wenigsten Coronavirus-Tests durchgeführt wurden. Erst nach vehementer Kritik indischer und internationaler Wissenschaftler, sowie der Opposition, hat die Regierung letztendlich Tests verordnet, die mangels geeigneter Infrastrukturen teilweise von privaten Kliniken ausgeführt werden. Umfassende, vor allem vertrauensbildende Maßnahmen für die Pflege von Erkrankten, für Tausende von gestrandeten Arbeitsmigranten sowie für die Armen, die von Ausgangssperren, Jobverlust und Versorgungsengpässen am härtesten getroffen sind, hat der Premierminister bisher nicht angekündigt. Bei seiner Rede vom 24. März fiel nur die Häufigkeit auf, mit der er den privaten Sektor und NGOs erwähnte.

Es verstetigt sich der Eindruck, dass der Staat kaum etwas für die Menschen tun wird, weil er das einfach nicht „kann“. Warum ist das so? Weshalb sind staatseigene Krankenhäuser ungenügend ausgestattet? Beim Verfolgen der Live-Ticker aus Deutschland und Italien fällt mir auf, dass die Unentschiedenheit der indischen Regierenden und die Widersprüchlichkeit ihrer Aktionen in Europa ein Pendant finden. Dementsprechend verunsichert fragt sich die Bevölkerung nach der Handlungsfähigkeit des Staats und stellt fest, er „kann“ wenig tun. Warum, eigentlich? Die gleichzeitige Wahrnehmung hochgradiger Verletzlichkeit und schierer Schutzlosigkeit in weiten, sehr unterschiedlichen Teilen der Welt ist neuartig und muss ernst genommen werden.

Es sind Hoffnung und Orientierung vermittelnde Antworten nötig, bevor sie durch katastrophistische, defätistische, populistische, rechte und xenophobe Positionen komplett vereinnahmt wird – Panikeinkäufe, Grenzziehungen und rassistische Attacken gegen asiatisch aussehende Menschen sind freilich auch in Europa schon lange Realität. Warum ist die Corona-Krise neuartig? Verschiedene Kommentatoren haben angemerkt: Vor allem im Westen hat die Angst vor dem Corona-Virus Menschen wie Regierungen zu Einschnitten bei Freiheiten und Lebenskomfort bewegt, die sich angesichts der tiefgreifenden Krise, welche der Klimawandel darstellt, nie hätten durchsetzen lassen.

Unsicherheit und Not

Dabei fußt auch Fridays for Future, die jüngste und an Spannbreite und Rezeption gemessen wohl erfolgreichste Umweltbewegung, auf der Wahrnehmung einer gravierenden Gefährdung. Letztlich mit den Bewegungen der Jahre 2011 und 2012, von Occupy zu den Indignados, die an verschiedenen Orten der Welt gegen unerträgliche Sparpolitiken protestierten und faires Wirtschaften forderten, war die Hoffnung aufgetaucht, dass die Krise – damals die Finanzkrise 2007/08 – den Anfang vom Ende eines politisch-ökonomischen Systems markieren könnte, welches Prekarität ungleich verteilt (um die Philosophin Judith Butler zu zitieren).

Diese Hoffnung währt, und auch die, dass der Kampf um ein ökologisches Zusammenleben letztendlich gewonnen wird. Gleichzeitig wissen wir, dass überall hart und relativ skrupellos an der Beibehaltung des Status Quo gearbeitet wird. Somit ist es auch klar, dass die Maßnahmen gegen die Verbreitung vom Coronavirus nur dank ihres vermuteten temporären Charakters akzeptiert worden sind. Obwohl einige dieser Maßnahmen – wie bereits gewarnt wird – die Vorboten einer vollkommenen Überwachungsgesellschaft zu sein scheinen, betreffen andere einen Lebensstandard, den schon Viele als sozial und ökologisch unverträglich empfinden und ablehnen. Damit diese letzteren keine Ausnahmefall-Maßnahmen bleiben, sondern zu einem tatsächlichen Wandel beitragen können, müssen wir eine nähere Analyse engagieren.

„Krise“ steht im Altgriechischen für bedenkliche Lage, Unsicherheit oder Not und gleichzeitig für Wendepunkt, Zuspitzung oder Entscheidung. Die Coronavirus-Pandemie kann als Krise angesehen werden und insbesondere, als infra-strukturelle Krise. „Infrastrukturell“ insofern, als die derzeit geltenden Einschränkungen der Mobilität und des Alltagslebens mit dem ausdrücklichen Ziel eingeführt worden sind, eine Infrastruktur vor dem Zusammenbruch zu schützen und eine andere Infrastruktur zum bestmöglichen Funktionieren zu verhelfen. Nämlich, die Gesundheitsinfrastruktur – Krankenhäuser sollten nicht aus den Nähten platzen – und die Forschungsinfrastruktur – von Universitäten und Forschungszentren wird erhofft, dass sie in Zusammenarbeit geeignete Medikamente entwickeln.

Die tatsächliche Gefahr für das menschliche Leben, die vom Virus per se ausgeht, ist zahlenmäßig niedrig; was unbedingt vermieden werden soll, ist ein Kollaps des Gesundheitssystems. Mit anderen Worten: Die Verwundbarkeit, an die viele Menschen derzeit erinnert werden, ist weniger medizinischer Natur als eine Folge des Unvermögens unserer Institutionen, eine unvorhergesehene Nachfrage im Gesundheitswesen zu managen. Natürlich herrscht auch die Angst, dass die von Europa bis Indien getroffenen (oder bevorstehenden) Präventionsmaßnahmen weitere Infrastrukturen beeinträchtigen, zuerst einmal die Lebensmittelversorgung. In den dramatischen Szenarien, die dieser Tage die Social Media überfluten, führt ein mit der gestörten Mobilität verbundener Zusammenbruch des Arbeitsmarkts, der Wirtschaft und der Börse, zu Gewaltausbrüchen, Konflikten und Krieg.

Jahrelang nicht gesehen

Diese Ängste, die Menschen auf der ganzen Welt inzwischen erfasst haben, wurzeln gleichzeitig in der Unsichtbarkeit des Virus. Wir können es nicht sehen: Wie es sich bewegt, wie es angreift, und wen. Ich spreche von einer „infra-strukturellen“ Krise, um genau dieser Tatsache Rechnung zu tragen. „Infra“ in „Infrastruktur“ deutet nicht einfach auf etwas hin, das sich „unten“ befindet oder etwas Anderes stützt, sondern auf das, was sich unter einer wie auch immer gearteten Struktur befindet, und daher unsichtbar ist.

Infrastrukturen sind, aus verschiedenen Gründen und auf jeweils unterschiedliche Art und Weise, unsichtbar bzw. infra-sichtbar. Ich schaue vom Balkon hinunter und sehe den Boden, aber nicht die Kabel, Rohre, die U-Bahn oder Kanalisation, die unter ihm verlaufen; schaue ich aus dem Fenster, so sehe ich das Ensemble Geschäft-Nachbarhaus-Bäume-Himmel – und ich neige dazu, die Strommasten und -kabel zu ignorieren; blicke ich etwas weiter weg, so definieren Autos und Passanten (auch hier sind sie selten geworden) meine Ansicht, während ich die Straße als solche nicht beachte. In all diesen Fällen sind die Infrastrukturen, die unsere städtischen, aber auch ländlichen Umwelten abstützen, unter etwas verborgen: und sei es unter Dingen, denen wir größere Aufmerksamkeit schenken. Es ist womöglich auch wegen dieser Infra-Sichtbarkeit, dass wir die gravierenden Implikationen der von der Austeritätslogik diktierten Reformen und Kürzungen an der Gesundheitsinfrastruktur jahrelang nicht „gesehen“ haben.

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