Die Teheraner Krankenhäuser sind voll von Demonstranten, die mit Schädelwunden und Knochenbrüchen eingeliefert werden, aber – und das merkte die Journalistin Christiane Hoffmann beim jüngsten ARD-Presseclub an – es gibt bisher kaum Schusswunden. Das Regime will die Totalkonfrontation vermeiden. Kein Wunder, wenn man sich in der iranischen Geschichte etwas auskennt: Stirbt ein Mensch, kommen 40 Tage nach seiner Beerdigung Familie und Freunde zusammen, um seiner zu gedenken und zu trauern. Dieser Brauch verlieh der revolutionären Bewegung Ende der siebziger Jahre ihre ungeheure Dynamik. Im Januar 1978 war in einer königstreuen Zeitung ein Schmähartikel gegen Ayatollah Chomeini erschienen, in vielen Städten wurde daraufhin protestiert. Der Schah scheute sich nicht, das Militär gegen unbewaffnete Demonstranten in Stellung zu bringen, es gab Tote. Einen Monat später kamen die Menschen erneut zum Trauerzug zusammen, auch dieses Mal wurde geschossen, und so marschierten 40 Tage später die schwarz gekleideten Massen erneut. So ging es Monat für Monat. Bald schien es, als sei ganz Iran auf den Beinen, um Tote zu beweinen und den Schah als Mörder anzuklagen. Am 16. Januar 1979 floh die königliche Familie, zwei Wochen später kehrte Ayatollah Chomeini aus dem Exil zurück. Die Revolution hatte gesiegt.
Revolutionäre der ersten Stunde
Wer sollte diese Dynamik besser kennen als der jetzige Geistige Führer Ali Chamenei, der als Aufrührer vor der Revolution mehrfach inhaftiert und nach dem Sturz des Schah Mitglied des neu gegründeten Revolutionsrats wurde? Es müsste ihm in den Ohren klingen, hat doch auch der Anführer der Demokratiebewegung, Mir Hossein Mussawi, seine Anhänger zuletzt gebeten, sich schwarz beim Totengedenken zu vereinen und trauernd zu schweigen. Mussawi ist eben wie Chamenei gleichfalls ein Revolutionär der ersten Stunde.
Die Gründer der Islamischen Republik sind sich heute in ihrer Mehrheit nur noch darüber einig, dass diese in ihren Grundzügen erhalten bleiben soll. So erklärt auch Mussawi, dass "wir nicht gegen das islamische System und seine Gesetze sind, sondern gegen Lügen und Abweichungen". Über die Notwendigkeit von Reformen und die Loyalität zu Präsident Ahmadinedschad gehen die Meinungen allerdings weit auseinander. So empört sich sogar der konservative Parlamentssprecher Ali Laridschani seit Monaten mit wachsender Heftigkeit über Ahmadinedschads Regierungsstil und die Marginalisierung des Parlaments. Auch unter den Geistlichen selbst wenden sich inzwischen viele den Reformern zu. Für Ayatollah Sanaei ist die Akzeptanz dieser Wahl sogar „haram", das heißt mit dem Islam nicht vereinbar. Doch wie schwer es ist, eine schlagkräftige Opposition zu bilden, zeigt allein die Tatsache, dass es in diesem Land 220 im Innenministerium registrierte Parteien und Gruppierungen gibt. Meist sind die nicht mehr als Zusammenschlüsse Gleichgesinnter, die sich um eine charismatische Persönlichkeit scharen.
Eine ausschwärmende Gemeinschaft
Inzwischen gibt es unter Politikwissenschaftlern eine Debatte über die Bedingungen, die eine demokratische Wende erleichtern könnten. Michael McFaul, Direktor des Instituts für Internationale Studien der Standford Universität, der sich mit vergleichbaren Zäsuren in Russland, und in der Ukraine beschäftigt hat, meint dass eine lebendige Opposition für die Demokratisierung eines autoritär geführten Landes zwar wichtig, aber nicht der alleinige Schlüssel sei. „Der Standardweg für einen Wechsel sind Risse innerhalb der alten Ordnung, zwischen Hardlinern und Reformern", sagt er. Dadurch käme es zu neuen Allianzen von Opposition und Zivilgesellschaft. Die Machtbalance innerhalb eines autokratischen Regimes bleibe davon nicht unberührt.
Über Internet und Handy bilden im Iran Hunderttausende eine fluide ausschwärmende Gemeinschaft, die in ihrer hochgestimmten Spontanität nicht zu ersticken ist. Doch über allem hockt, schwer wie ein Koloss, der geistige Führer, der um sein Überleben kämpft und damit auf Ahmadinedschad angewiesen ist. Nach Ausschreitungen in Teheran und Shiraz verkündete Chamenei im Fernsehen, man werde die Ruhestörer bestrafen. Augenblicklich sitzt die mittlere Garde der Reformer – die jüngeren und radikaleren besonders – schon im Gefängnis. „Sollte er verhaftet werden oder plötzlich verschwinden, sollte überall im Land die Arbeit niedergelegt werden", schreibt Mussawi auf seiner Homepage. Also Generalstreik – auch das wäre eine Form von Neuwahlen. Er sei bereit, „dafür zum Märtyrer" zu werden. Eine Warnung an Chamenei, dass er nicht aufgeben wird.
Und dann wartet noch jemand anderes auf seine Gelegenheit: Ayatollah Yazdi, der Ziehvater von Ahmadinedschad, ist kein Freund von Demokratie: „Sollen wir etwa das wankelmütige Volk, das mal dieses, mal jenes will, entscheiden lassen?"
Elisabeth Kiderlen war 1990-1998 Redakteurin bei Merian. Zeitschrift für Kultur und Reisen, 1998-2004 Feuilletonleiterin der Badischen Zeitung. 2005/06 hatte sie einen Lehrauftrag an der Universität Isfahan. Zuletzt erschien von ihr auf freitag.de: Der Kulturkrieger Herausforderer Mussawi gibt sich als Reformer - war aber als Premier für die Hinrichtung Zehntausender verantwortlich
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