Für eine kurze Weile hatte er noch gehofft, sie vielleicht ignorieren zu können. Es hätte ja ein Täuschung sein können, ein Irrtum. Der Schlaf hatte womöglich vergessen, sie wegzuräumen, hatte sie fälschlicherweise übrig gelassen nach einer Party, einer Nacht in den Clubs. Kim lacht auf, kurz und hell, so als sei seine Erschöpfung nichts als ein absurdes Versehen.
Er hatte damals Jura studiert, hatte gerade eine Staatsrechtklausur bestanden und sich nebenbei als Archivar in einem Krankenhaus Geld verdient. Sonntags nahm ihn seine Freundin zu ihren reichen Eltern mit, und im Grunde, sagt Kim, habe er den Eindruck gehabt, das Leben meine es gut mit ihm. Kim greift sich an die Schultern, streicht über seinen linken Arm wie über ein Stück totes Holz. "Etwas ist abgerissen", sagt er, "etwas hat aufgehört zu funktionieren."
Vor vier Jahren ist es passiert: Der Schlaf erklärte Kim die Feindschaft. Anstatt ihn zu erfrischen, ihn am Morgen erholt und ausgeruht einem neuen Tag in die Hände zu spielen, hob er an, ihn zu vernichten, ihn zu zertrampeln und unter dem Schutt zentnerschwerer Gewichte zu begraben. Sein Körper fühle sich an wie nach langer Fiebernacht, sagt Kim. Seit vier Jahren sei da jeden Morgen ein unmissverständlicher Gedanke: "Ich kann nicht."
Kim räuspert sich, wie um eine Rede zu halten. Ferien habe er sich zu Anfang verordnet. "Ferien." Das Wort klinge albern. Naiv irgendwie. Nach wenigen Wochen hatte Kim kapituliert und sich in die Praxis eines Arztes geflüchtet. "Vielleicht, dass dieses Gefühl der Schwäche nie wieder verschwinden würde." Das hat er denken müssen. Panik stieg in ihm auf. Und der Arzt? Kim winkt ab. Der Arzt habe ihm zugehört, ihn ruhig betrachtet und dann "die Schilddrüse, wahrscheinlich ist es die Schilddrüse" gesagt.
Es war nicht die Schilddrüse, weder eine Unter- noch eine Überfunktion des Organs war Schuld, auch das Herz war es nicht oder die Lunge. Kim hatte eine ganze Weile den verschiedensten Auslegungen seines Leidens zugehört. Möglich - so einer der Experten - es bestehe eine neurologische Grunderkrankung. Vielleicht sei das Blut nicht in Ordnung, außerdem stimme etwas mit Kims Energieverbrauch nicht. Der junge, blonde, äußerst schlanke, und vielleicht zu schlanke Mann brauche erstaunlich lange, um sich von einer geringfügigen Anstrengung zu erholen. Der Atem beruhige sich nicht schnell genug, der Puls sei deutlich zu hoch. Man bedauerte. Leider könne man nicht wirklich erklären, warum jede Nacht bei Kim stets nur dieselbe, tiefe Schwäche hinterlasse, warum der Patient erst gegen Nachmittag zu sich komme und ihm nach mindestens zehn Stunden Schlaf und einer mehrstündigen Phase des mühsamen Erwachens im besten Fall vier Stunden Tatkraft, meistens jedoch sehr viel weniger zur Verfügung stehe. "Chronisches Erschöpfungssyndrom", nannten es die Ärzte.
Kim sitzt am schattigen Tisch eines Biergartens und lehnt sich für einen sehr kurzen Augenblick zurück. Mit der Erschöpfung, sagt er in diese kleine Pause hinein, sei noch etwas Anderes geschehen. Etwas Schönes, Interessantes, Aufregendes. Kim sieht sich um und bestellt ein zweites Malzbier bei der Bedienung, die seiner Meinung nach ein zu weit ausgeschnittenes T-Shirt trägt. Sein Denken, sagt Kim, habe sich beschleunigt. Es sei "krasser" geworden, "radikaler". Im Grunde habe er das Gefühl, dass mehrere Gedankenströme gleichzeitig durch ihn hindurch fließen. Kim sucht nach einer ihm angemessen erscheinenden Zahl. "Acht", sagt er, "acht Gedankenströme könnten es sein." Die Fließgeschwindigkeit sei hoch, und sein eigenes Ich spüre er darin wie ein Rauschen. Er werde sich selbst angenehm fremd, sagt Kim, und sein Denken erstaune ihn, so dass er im Traum oft laut lachen müsse. Wer wolle da ausschließen, dass etwas in ihm nach der Weltformel forsche? Kim hebt die Augenbrauen wie zur Warnung.
Traum schließt sich an Traum. Keiner gerät in Vergessenheit. Vor wenigen Tagen erst, sagt Kim, habe er von einer neunzehnjährigen Schönheit geträumt. Er habe ihr Geburtsdatum auf einer Tafel gelesen und wusste, sie würde Selena heißen. Er verfolgte die Spur. Immerhin, sagt Kim, seine kleine, stetig anwachsende Privatbibliothek liefere genug Material zur Recherche. In einem Lexikon fand er einen Absatz über die Mondgöttin Selene. Ob es nicht merkwürdig sei, dass Selene ihren sterblichen Geliebten in ewigem Schlaf versetzte, ihn nur von Zeit zu Zeit zum Leben und zur Liebe weckte durch einen Kuss? "Das hat mit mir zu tun", sagt Kim, "bloß was?"
Auf die Rätsel der Nacht folgt die stumpfe Routine des Tages. Er harre aus, sagt Kim, er warte auf die Stunden am späten Nachmittag. Erst dann habe sich das erforderliche Quantum an Energie gesammelt. Erst dann könne er etwas tun, lesen, sich vorbereiten für seinen Roman, den er, hätte er nur die Kraft dazu, morgen anfangen würde zu schreiben. Kim rollt das Malzbierglas zwischen seinen Fingerspitzen. Vier Jahre, sagt er, habe er keinen Sonnenaufgang mehr gesehen, vier Jahre keinen Sex gehabt. Er ist jetzt 25 Jahre alt, und immer noch muss er bei seiner Mutter leben. Allein seiner Krankheit wegen. Einzig aus Gründen der mangelhaften Qualität seines Schlafes. "Entsetzlich", sagt Kim und hustet als werde in den Sätzen über die Familie die Luft ziemlich dünn.
"Raff´ dich auf", "unternimm´ etwas". So betet es ihm die Mutter vor. Als habe er eine Wahl. Die Mutter begreife nichts. Kim könne seinen Romans ja trotzdem schreiben, nur sei es höchste Zeit, an eine Ausbildung zu denken. Kim schüttelt den Kopf. Die Mutter halte ihn für einen dieser Loser, die ihr Leben verschlafen. Sie höre nicht zu, und es sei aussichtslos, ihr das Universum der Träume zu erklären. Nichts ahne sie von den Möglichkeiten der nächtlichen Bilder. Kim kann sich nicht beruhigen. Wie intensiv die Gefühle dort sind! Wie großartig der Humor! Wie erlösend die Befreiung von der elenden Kategorie der Wahrscheinlichkeit! Das alles ignoriert die Mutter. Und auch Hellen begreift es nicht. Hellen, der wichtigste Mensch in seinem Leben! Auch sie verkennt das Problem. Zu einem Kineosologen wollte sie ihn schleppen, dorthin, wo seine Erschöpfung zum esoterischen Schwachsinn verkommt. "Die Schlafforscher", sagt Kim, "einzig die nehmen das Geheimnis ernst."
Zwei Nächte untersuchten sie ihn im neurologisch-psychiatrischen Schlaflabor. Verklebten seinen Körper mit Elektroden, schnallten Dehnungssensoren um den Brustkorb und plazierten eine Rektalsonde zur Messung der Körpertemperatur. Keine einzige Aktivität des Gehirns, kein Muskelzucken, keine Veränderung der Atmung oder Herzfrequenz würde ihrer Aufmerksamkeit entgehen. Eine Kamera zeichnet auf, Mikrofone überwachen jedes kleinste Geräusch. Im Nebenraum sitzt ein Arzt vor dem angeschlossenen Monitor.
Das Ergebnis: Eine leichte Intensivierung der Rem-Phasen war feststellbar. Als Lösung des Problems aber tauge das nicht, erklärte der Chefarzt zum Schluss. Noch habe man viel zu wenig über den Schlaf begriffen. Leider. Und man könne Kim noch nicht wirklich helfen. In ein, zwei Jahren vielleicht. Die Forschung stehe ja erst am Beginn.
Kim schließt die Augen. Jeden Abend kommt sein Vater zu Besuch. Ankunft, 20:08 Uhr. Der Vater, der schon lange nicht mehr zu Hause wohnt, bringt täglich neue Vorschläge zum Thema Erschöpfungssyndrom. Jeden Abend nimmt er zuerst einen Moment in der Küche Platz. Kim wartet in seinem Zimmer auf das Klopfen an der Tür. Erst gestern, sagt Kim, habe der Vater gemeint, die Müdigkeit hinge vielleicht doch mit früheren Infektionen zusammen, mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber oder einer verschleppten Grippe. Kim fröstelt. "Ich höre zu", sagt er, "aber ich antworte nichts." Um 21.43 Uhr verlässt der Vater die Wohnung. Ein Gedanke bleibt. Die Eltern sind alt, und du bist verantwortlich für sie." - "Verantwortung", "Wahrheit". Am Biergartentisch sammelt Kim die Wörter wie schwere Steine.
"Spaß." - Auch so ein Wort. Seine Freunde halten Kim für einen Moralisten. Er raucht nicht, er trinkt nicht, er kifft nicht. Er denkt über das Welthandelsabkommen nach und nimmt es Frauen übel, wenn sie zu viel Wert auf die Marke ihres T-Shirts legen oder wenn sie zu tiefe Ausschnitte tragen. Wenn seine Freunde Dope kaufen im Park, erklärt er ihnen, dass sie so vielleicht nicht direkt den internationalen Terrorismus unterstützen, aber es laufe doch ziemlich in die Richtung. In den Plattenläden der Stadt kann man ihn gelegentlich finden. Ins Gespräch mit den Verkäufern vertieft. Wie sie das verantworten könnten, fordert Kim sie heraus, und ob sie nicht wüssten welcher Verrat am Hip-Hop im Namen des so genannten Deutsch-Raps begangen werde. Hellen begleitet ihn oft. Hellen, die nicht weiß, dass Kim sie liebt und schon immer geliebt hat, seit er sie mit 14 Jahren über den Schulhof laufen sah und in ihr eher eine Fee erkannte als ein menschliches Wesen.
Er misstraut seiner Sehnsucht. Sie mache ihn angreifbar, verwirre seinen Geist und lasse ihn, der ein begabter Basketballer ist, verkrampft und unbeweglich wirken. Er habe an einen Tanzkurs gedacht, sagt Kim, an einen Salsa kurs womöglich, um diese Steifheit im Rücken zu lockern, "um weicher zu werden." Kim rückt das Malzbierglas in die Mitte des Tisches und sagt dann, die Überraschung genießend: "Ich habe jemanden kennen gelernt."
Studentin der Medizin ist sie. Hübsch, intelligent, vielleicht, so Kim, eine Spur zu interessiert an ihrem Aussehen. In einer Bar hatte er sie getroffen und sich das erste Mal seit Jahren wieder auf jene hitzige Art des Small-Talk eingelassen, die ihn viel Kraft kostet, zu viel Kraft, als dass er das alles einfach wiederholen könnte. Nach einer Stunde war es vorbei, und Kim trollte sich zurück in seine Höhle aus Phantasie und Erschöpfung. Sechs Wochen und ein paar Mails und Handybotschaften ist es her.
Er hatte dieser Frau den Song geschickt, über den sie gesprochen hatte, und eine Kurzgeschichte. Die Frau aus der Bar aber antwortet nicht mehr. "Wahrscheinlich findet sie mich seltsam", sagt er, "oder verrückt." Kim lächelt ins Weite und wendet dann den Blick zur Kellnerin, die ein Glas Wein an den Nachbartisch bringt.
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