Tolle Lage, tolle Aussicht

Alltag Komfortabel und bequem ist heute die Wohnungssuche per Internet - oder: Ein Lehrstück über Lügen, Euphemismen und menschliche Raffinesse

Fünfzig Quadratmeter vollgestellter Wohnraum und zwei Menschen sind entweder ein Mensch zuviel oder ein mittelgroßes Zimmer zuwenig. Deshalb gelangen selbst ausgesprochene Phlegmatiker irgendwann an einen Punkt, an dem sie sich entscheiden müssen - entweder den überzähligen Menschen loszuwerden oder nach neuen Räumen zu suchen. Da es leichter ist, eine neue Behausung zu finden als jemanden, den man lieben kann, entscheiden sich die meisten für die Wohnungssuche.

Klassischerweise beginnt alles mit dem Lesen von Annoncen. Im Internet. Die Zeiten, in denen man sich an den Wochenenden früh morgens aus dem Bett quälen und beim nächsten Zeitungshändler anstellen musste, während der Partner die benachbarte Telefonzelle besetzte, um schneller als die anderen Wohnungssuchenden den Vermieter anrufen zu können, sind vorbei. Heute erfolgt die Wohnungssuche online - einfach, bequem, komfortabel: Man wählt den bevorzugten Stadtteil aus, gibt an, wie viele Quadratmeter das neue Zuhause haben soll und wie viel es kosten darf, und schon kann man nach Herzenslust in Anzeigen und dazugehörigen Bildern stöbern. Der Slogan des von mir bevorzugten Portals lautet "Sie suchen. Wir finden."

Wer jedoch meint, so eine Auswahl verschiedener Domizile besichtigen zu können - irrt. Es ist verblüffend, aber wahr: Von geringen Abweichungen abgesehen, scheint es tatsächlich immer die selbe Wohnung zu sein, die da heimelig, einladend auf dem Bildschirm leuchtet. Das durchschnittliche Wohnungsfoto zeigt einen leeren, blendend weiß gestrichenen Raum, in dessen Mitte sich ein zumeist vorhangloses Fenster und ein Heizkörper befinden. Das Fenster gibt den Blick frei auf Baumkronen, mit jahreszeitentypischer Belaubung. Sucht man nach Wohnungen in unterschiedlichen Größen, lernt man bald zahllose blendend weiße Räume mit wahlweise zwei bis vier Heizungsgerippen kennen und ebenso viele Ausblicke auf Laub im Wechsel der Jahreszeiten. Dies ist immerhin ein guter Anhaltspunkt dafür, wie lange die Behausung schon erfolglos angeboten wird - wirkt auf die Dauer jedoch ein wenig ermüdend.

Weicht die Bildschirmpräsentation jedoch einmal vom strengen Darstellungsschema ab, löst das beim Betrachter nicht etwa Freude über die optische Abwechslung aus, sondern massive Irritation. So wie in jenem rätselhaften Fall, als mitten im traditionellen Stilleben eine Leiter lag. Einfach so. Und nicht mal eine besonders schöne, sondern eine, deren abgetretenen, farbbeklecksten Sprossen die Mühsal eines langen Arbeitslebens deutlich anzusehen war. Hatte ein weichherziger Fotograf der zum Wegwerfen vorgesehenen Leiter noch einmal fünf Minuten posthumer Beachtung vergönnen wollen? Oder war die Leiter ein Geheimcode, ähnlich den Botschaften, die Vorgesetzte in Arbeitszeugnisse einschmuggeln, um einander vor trunksüchtigen, aufsässigen, diebischen Angestellten zu warnen? Wenn ja - was will die abgenutzte Leiter uns sagen? Achtung, wer hier einzieht, beginnt den sozialen Abstieg? Man weiß es nicht, und man wird es auch nie erfahren, denn Leiter und Räume liegen viele, viele Kilometer weit entfernt.

Egal welches "bevorzugte Wohngebiet" man nämlich vertrauensvoll in die Suchmaske des Internetportals eingegeben hat - etwa Berlin Kreuzberg, maximale Abweichung: 500 Meter -, man wird wochenlang online Baumkronen entlegener Stadtteile besichtigen. Noch weitere Wochen später wird dann eine sehr vorwurfsvolle Mail eintreffen, in der angemahnt wird, man habe ja erkennbar noch immer kein neues Zuhause gefunden und möge deshalb seine Suchkriterien noch mal überdenken. Dass die wohlüberlegte Antwort: "Könnte doch ganz einfach sein: Ich suche, Sie finden. Welcher Teil Berlins liegt 500 Meter von Kreuzberg entfernt? Ist das so schwer zu verstehen?" an die irgendwie automatisch generierte Absenderadresse nicht zugestellt werden kann, wird für einen von vielen Wutanfällen sorgen.

Sollte man aus der Welt der virtuellen Wohnungsansichten und wortgewandten Beschreibungen den Weg in die Wirklichkeit der Miethäuser gefunden haben, wird sich herausstellen, dass die Annoncen den Suchenden keineswegs auf das vorbereiten, was ihn im Gelände erwartet. Das liegt zum großen Teil an der Liebe der Wohnungsmakler zum Euphemismus. Da wird zum Beispiel ein von einem Grobmotoriker mit bedauerlicher Vorliebe für Holzarbeiten hergestelltes vierschrötiges Geländer als "handgeschnitzte Treppe" angepriesen. Und die "hochwertige Auslegware" entpuppt sich in schöner Regelmäßigkeit als muffig-plüschiger schweinchenfarbener Teppich, auf dem seit den frühen Siebziger Jahren eine tonnenschwere Nachtspeicherheizung gestanden hat. Eine Wohnungsbesichtigungstour ist immer auch ein Gratiskurs im Fach "Bodenbeläge im Wandel der Zeiten".

Diese Exkursionen in die Ideenwelt vom guten Wohnen sind unbestritten von hohem pädagogischen Wert. Vor allem aber erweisen sie sich als wahre Lehrstücke in Sachen menschlicher Raffinesse: "Schatz, denk dran, dass Du morgen dieses wichtige Meeting mit dem Vorstand hast", ruft etwa eine Frau im lautestmöglichen Flüsterton ihrem anderthalb Meter weiter mit der Inspektion eines wackligen Heizungsknopfs beschäftigten Lebensgefährten zu. Blöderweise hat der Immobilienmakler diesen aussagekräftigen Satz nicht gehört, deshalb klappt die Mietwillige entschlossen ihr Handy auf und tippt solange auf den Tasten herum, bis der Herr über die Wohnungsvergabe in Hörweite steht. "Schatz, Herr Doktor Meier hat noch keine Reservierungsbestätigung für das Treffen mit Professor Müller geschickt", stößt sie nun in besorgtem Ton hervor. Dies wiederum veranlasst die Mitglieder der Mädchen-WG in spe dazu, aktiv zu werden: "Dein Vater, der Bankdirektor, bürgt für die Kaution, nicht wahr?", brüllt die eine. "Natürlich, und Dein Papa wird seinen Handwerksbetrieb ein paar Tage allein lassen und die Renovierung übernehmen, ja?"

Makler haben jedoch eine Art umgekehrtes absolutes Gehör entwickelt, die Fähigkeit, komplette Sätze einfach wegzufiltern - so verläuft der schöne Coup im Sand. Dank dieser Gabe reagieren sie ebenfalls gelassen auf die Mitteilung, dass man sich angesichts des Treppenhauses mit endlosen Reihen stählerner Wohnungstüren und eisernen Treppenhäusern an Filme über Alcatraz erinnert fühlt. Ungeheuer praktisch sei dieses Ambiente, schwärmen sie ungerührt, denn niemand halte sich auch nur eine Minute länger als irgend notwendig hier auf, was ungeheuer positive Auswirkungen auf Hygiene und Sicherheit habe. Auch die Bemerkung, dass das, was in der Annonce mit den Worten "großzügig geschnittene Terrasse" angepriesen wurde, streng genommen ein schwimmbeckenblau kolorierter Balkon ist, der die Assoziation "Sprungbrett" auslöse, beeindruckt sie nicht. Ist das Ding für ein Sprungbrett nun großzügig geschnitten oder nicht? Na also.

Zum Lakonischen neigen ebenfalls Noch-Wohnungsinhaber. Ihr Job ist es, herumzustehen und sich sehr zu bemühen, große Begeisterung für die Bude vorzutäuschen, aus der sie, das Vorhandensein eines Nachmieters vorausgesetzt, nun endlich ausziehen können. Strategisch so positioniert, dass sie die am schlimmsten knarrenden Fußboden-Stellen abdecken, erzählen sie von toller Lage, toller Hausgemeinschaft, toller Aussicht und unterbrechen ihre Elogen nur dann kurz, wenn jemand auf einen anderen wunden Punkt im Bodenbelag zusteuert. Der Laminatboden knacke wirklich nur an dieser einen Stelle im Flur, erzählen sie, und das auch nicht immer - an manchen Wintertagen zum Beispiel gebe er absolut keinen Mucks von sich. Und nein, die Nachbarn drunter störe das absolut nicht - gut, die seien auch gerade ausgezogen - aber die beiden alten Herrschaften hätten wirklich niemals solch unschöne Worte wie "Trittschall" auch nur erwähnt. Und aus der Wohnung drüber höre man außerdem auch praktisch nichts. "Außer den normalen Lebensgeräuschen", wirft die Maklerin an dieser Stelle ohne rot zu werden ein.

Falls man ein misstrauischer Mensch sein sollte, ist dies der Zeitpunkt, ein Stockwerk höher zu steigen und die vor der Tür geparkten Schuhpaare anzusehen, auf die jeweiligen Größen zu überprüfen und gegebenenfalls zu zählen. Und dann sehr nachdenklich zu werden: Wozu eigentlich dieser ganze Aufwand? Laute Nachbarn, weiße Wände, Fenster mit Aussicht und Heizkörper - das alles hat man ja im Grunde schon. Zwei Menschen und fünfzig Quadratmeter vollgestellte Wohnung können es - bei Licht betrachtet - eigentlich doch sehr gemütlich miteinander haben.


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