Es lebe Neu-Otzenrath!

GARZWEILER II Die Bagger rollen weiter auf ein niederrheinischen Dorf zu, das dem Tagebau weichen muss. Zu Besuch bei 1.700 Immobilien-Experten

Der »Otzenrather Hof« am Sonntag Vormittag: Wie überall in deutschen Landen treffen sich die Männer eines kleinen Dorfes zum Frühschoppen. Hier am Niederrhein spielen sie Skat oder stehen bei Altbier und Schnaps am Tresen. Anderswo mag man über Fußball reden, über Autos, den letzten Urlaub. In Otzenrath geht es nur um eines: Immobilien. Wer Fragen in punkto Bauland, Grundstückswert oder Bebauungsplanung hat, kann fast blindlings in der Gemeinde mit der Vorwahl 02164 anrufen. Hier wohnen 1.700 Experten, die sämtliche Tricks und Kniffe kennen.

Seit der Anstich des Braunkohlegebietes Garzweiler II beschlossene Sache ist, scheint die Zukunft Otzenraths besiegelt. Manche können nachts kaum schlafen. Vielleicht plagen sie die Gedanken an den Verlust ihrer angestammten Heimat, oder die Planungen ihres anvisierten Neubaus in der Siedlung »Neu-Otzenrath«, die einige Kilometer weiter bei Jüchen entstehen soll. Vielleicht ist es auch der Lärm der riesigen Schaufelräder und ihrer Förderbänder, die mittlerweile bis an den Dorfrand vorgedrungen sind und dort längst nicht Halt machen werden. Noch trennen ein paar Kohlfelder und eine Autobahn - die A4 - das Dorf von dem größten Loch Nordrhein-Westfalens.

Der Platzhirsch am Tresen heißt heute Ludwig Schöpgens. Der Mittfünfziger sitzt im Bürgerbeirat und weiß deshalb genauestens Bescheid. Dass der Braunkohle-Tagebau in Deutschland vor dem Aus stehen soll, ist ihm nicht entgangen. »Dat hätt in so einer Berliner Zeitung gestanden, ävver dä Clement hätt dat dementiert«, fasst er den publizistischen Wirbel der vergangenen Woche treffend zusammen. So oder so: das alte Otzenrath wird fallen, da sind sich alle einig. Es lebe Neu-Otzenrath.

In der Gemeinde waren sie beinahe einmütig gegen den Braunkohle-Tagebau. Die wenigsten von ihnen stehen bei Rheinbraun, das den Tagebau ausbeuten wird, in Lohn, die meisten sind nach Mönchengladbach orientiert und dort im Maschinenbau, der Elektrotechnik oder sonstwo beschäftigt. Die Braunkohle-Kumpels wohnen auf der anderen Seite des Lochs bei Grevenbroich. Als die NRW-Grünen im Januar 1998 auf einem Sonderparteitag in Jüchen ihr Plazet zu Garz weiler II gaben, schwanden die letzten Hoffnungen der Otzenrather. Seitdem heißt die Devise: teuer verkaufen und günstig neu bauen. Auch Margarethe Mehl ist seit diesem Tag die Munition ausgegangen. »Der Fall ist auf der politischen Ebene gelaufen«, sagt sie. Die streitbare Grüne war eine der Integrationsfiguren im Widerstand gegen Garzweiler II. Sie sitzt im Jüchener Gemeinderat und im Neusser Kreistag. Nun hält sie sich in der Öffentlichkeit zurück, obwohl der Zorn an ihr frisst. »Wir sind doch hier nur Verfüllmasse. Das ganze Gerede um Energie und Arbeitsplätze, das war doch alles dummes Zeug.«

Was der politische Widerstand nicht schaffte, das regelt neuerdings die globalisierte Wirtschaft. Braunkohle ist unrentabel geworden. In der vergangenen Woche berief sich die Berliner Zeitung auf ungenannte »Führungskreise« der RWE. Die Nutzung von Garzweiler II, so war es zu lesen, mache - wenn überhaupt - erst in einigen Jahrzehnten wieder Sinn. Mehr noch: 4.600 Arbeitsplätze bei der RWE-Tochter Rheinbraun sollen vor der Abwicklung stehen. Das wären rund 30 Prozent der bei Rheinbraun beschäftigten Menschen.

RWE kann sich Sentimentalitäten inzwischen ebenso wenig leisten wie Rücksichtnahmen auf die Befindlichkeiten der NRW-SPD. Durch die Liberalisierung des Strommarktes ist aus dem ehemaligen Monopolisten plötzlich ein Wettbewerber geworden. Früher lieferte die Rheinbraun ihre Kohle zu einem unbekannten Festpreis an die Mutter. Der Essener Konzern verbrannte den Rohstoff in nahegelegenen Kraftwerken und reichte den entstandenen Strom ebenfalls zu Festpreisen an den Kunden weiter. Inzwischen hat RWE eine entscheidende Umstrukturierung vorgenommen. Auch die Braunkohle-Kraftwerke gehören nun zu Rheinbraun. Die Tochter muss das Endprodukt, den Strom, selbst herstellen und an die Mutter verkaufen. Diese tritt nicht mehr als Produzentin, sondern vielmehr als Händlerin von Strom auf. Der Braunkohle-Strom muss sich auf dem internationalen Markt behaupten, auf dem sich ebenfalls die RWE bedient. Man kann es auch so sehen: Die RWE hat einen defizitären Unternehmensbereich unter dem Namen Rheinbraun zusammengefasst, um ihn bei passender Gelegenheit wie lästigen Ballast abzustoßen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hält bis heute 50 Prozent der RWE-Aktien. Wolfgang Clement saß lange Zeit im Aufsichtsrat. Schien es in den vergangenen Jahren so, als plane der »Macher« ganz im Sinne des Konzerns, beispielsweise durch seinen erbitterten Widerstand gegen die Ökosteuer Ende 1999, so zeichnet sich inzwischen ein anderes Bild ab. RWE soll offensichtlich Clement einen Gefallen tun und gegen die ökonomische Vernunft handeln. Zweierlei steht auf dem Spiel: viele Arbeitsplätze und das SPD-Image von einer Partei der Kohle-Kumpel.

Die Presseberichte vom Garzweiler-Aus dementierte RWE postwendend als Beiträge »zur Füllung des Sommerlochs«. Um die Füllung eines ganz anderen - ungleich realeren - Loches wird es dem Essener Energiekonzern gehen, wenn die Bagger in Zukunft gegen Otzenrath rollen. Der überdimensionale Krater namens Garzweiler muss zugeschüttet werden, um die Natur der Region in einem halbwegs passablen Zustand zu hinterlassen. Die ursprünglich dafür vorgesehenen Schuttberge bei Grevenbroich sind jedoch längst begrünt. Auf einem steht ein Segelflugplatz, auf einem anderen prestigeträchtige Windkrafträder. Und es braucht viel Schutt, sehr viel Schutt, wenn aus der Mondlandschaft eine Kulturlandschaft werden soll.

Die Inhaberin des Otzenrather Hofes wird deshalb zum zweiten Mal in ihrem Leben umsiedeln müssen. Elisabeth Mehl, die um ein paar Ecken mit der grünen Aktivistin Margarethe Mehl verwandt ist, trägt's mit Fassung. Früher hat sie in Garzweiler einen Lebensmittelladen gehabt, heute bewirtschaftet sie das Stammlokal des SV Otzenrath 09 und morgen wird sie eine Kneipe in Neu-Otzenrath bei Jüchen besitzen. Soviel scheint ihr sicher zu sein in diesem Spiel, das viele Verlierer kennt. Die Otzenrather verlieren ihre Heimat, die Kumpels der Rheinbraun ihre Arbeitsplätze, und Wolfgang Clement verliert seine Glaubwürdigkeit. Der Gewinner heißt: RWE.

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Geschrieben von

Elmar Wigand

Autor und Sozialforscher. Arbeitet als Berater für Gewerkschaften und Betriebsräte. Vorstandsmitglied + Redakteur der aktion./.arbeitsunrecht e.V.

Elmar Wigand

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