Saison-Schluss

Widersprüche 1968 begann in der DDR 1967 mit dem Gedichtband "Saison für Lyrik"

Viel Geld hatten wir Anfang der siebziger Jahre nicht: 210 Mark Stipendium im Monat, inklusive Hauptstadtzulage. Und wenig Platz im Friedrichsfelder Wohnheim obendrein. So blieben unsere Privatbibliotheken überschaubar. In der eines Zimmergenossen fand ich bald ein Bändchen, um dessen Besitz ich ihn dann jahrelang beneidete. Denn Saison für Lyrik. Neue Gedichte von siebzehn Autoren, 1968 in der bb-Reihe des Aufbau-Verlags erschienen, Kostenpunkt: 1,85 Mark, war zu der Zeit im Buchhandel nicht mehr erhältlich.

Schon das Umschlagbild des Taschenbuchs war ungewöhnlich: ein abstraktes Muster, dicke blaue Striche auf schwarzem Grund. Oder schob sich Schwarz übers Blau? Das war wohl Ansichtssache. Auch das Resümee dieser Anthologie, so hieß es eingangs, lag in der Hand des Lesers. Sie bot "nicht mehr, aber auch nicht weniger als einen Querschnitt durch die Produktion der letzten Zeit, vornehmlich des Jahres 1967", neben Texten der Parteidichter Berger und Deicke solche von Bartsch, Braun, Endler, Sarah und Rainer Kirsch, Kunert und Kunze, also der teils jungen, teils nicht mehr ganz so jungen DDR-Lyrik-Avantgarde der sechziger Jahre.

Ehrenburgs Roman Tauwetter hatte einst der Periode nach Stalins Tod den Namen gegeben. Namensgebend für die Sechziger könnte ein im selben Jahr wie Saison für Lyrik erschienenes Gedichtbändchen sein: Zugluft von Kurt Bartsch. Den stark bewehrten Staatsinstitutionen konnte dieser Zug zwar nichts anhaben, doch blies er allerlei ideologische Nebelschleier fort. Sichtbar wurde ein Ich, dessen Erfahrungen, Bedürfnisse, Lebensziele nicht unbedingt ins staatlich bestimmte "Wir" passten und das dennoch den Anspruch stellte, legitimer Teil dieser Gesellschaft zu sein. Den ökonomischen Eigensinn der Betriebe hatte Ulbricht 1963 in einer Rede akzeptiert; ein System ökonomischer Hebel sollte das betriebliche Interesse fortan dem der Gesellschaft anpassen. Den literarischen Eigensinn eines Großteils der Autorinnen und Autoren zu akzeptieren, die damals ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückten, fiel der Staatsführung schwerer; ihnen war mit Hebeln auch schlecht beizukommen. "Die sich ausdifferenzierende Weltanschauung", schrieb der Literaturwissenschaftler Dieter Schlenstedt 1964 zu ihren Texten, "füllt sich mit den Widersprüche der Realität". Im Gespräch darüber konnten sich Autor und Leser auf gleicher Augenhöhe treffen. Anders als im Westen war der fällige Abschied vom Autoritären in der DDR öffentlich fast nur in der Kunst möglich.

"Große Sprünge kann ich mir nicht erlauben, mal ein Bier", konstatiert Bartsch in einem seiner Saison-Gedichte. Also lobt er als sein Glück "die kleinen dinge.// ich ziehe uhren auf: nun wird es zeit./ mein atem, kurz, füllt gläser, leere Tüten." Fehlten einem solche Fähigkeiten, konnte man in Bedrängnis kommen: "nachmittags mahle ich kaffee/ nachmittags setze ich den zermahlenen kaffee/ rückwärts zusammen schöne/ schwarze bohnen/ nachmittags ziehe ich mich aus mich an/ erst schminke dann wasche ich mich/ singe bin stumm" war von Sarah Kirsch zu lesen. Volker Braun wurde in seinem Lagebericht deutlicher: "Zufriedene schanzen sich in den Ebenen ein/ Auf die Schminktöpfe trommeln die Heilskünstler, Lob/ Trieft aus den Blättern.../ Die permanente Feier verkünden Schaumschlägertrupps". Doch in den Hallen, setzt er dagegen, "erhöhn die Brigaden die Drehzahl, der Plan/ Prüft ihre Kraft; stärker greifen sie in die Debatten/ Über ihren Köpfen. Die Kinder lernen fragen." Das Präsens stand für Künftiges, das schon begonnen haben sollte. Diese Hoffnung war mir vertraut, trotz im August ´68 erlebter Ohnmacht: Irgendwie, so dachte ich damals, musste sich das hässliche graue Entlein doch noch zum Schwan mausern.

Den zuständigen Instanzen war solche Hoffnung nicht genug. Die üblichen Hürden auf dem Weg zur Veröffentlichung hatte der Verlag im Falle von Saison für Lyrik noch ohne größere Schwierigkeiten genommen. Im Februar 1968 hatte der Außengutachter die Publikation trotz einiger Bedenken befürwortet, der von der vorgesetzten Behörde, der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Kulturministerium, zusätzlich bestellte Gutachter trotz stärkerer Bedenken ebenfalls, die Druckgenehmigung wurde erteilt. Ein Jahr später, im Februar 1969, kam die Anthologie endlich in den Handel. Doch in diesem einen Jahr war im Osten viel geschehen: Die Prager Reformbewegung und die Proteste gegen ihre Niederschlagung hatten die Herrschenden im Lande zutiefst beunruhigt. Eine ideologische Kampagne gegen alle "unsicheren Elemente" begann - zu ihnen zählte auch das Gros der Saison-Autoren.

Am 10. März 1969 erschien an prominentester Stelle, im SED-Zentralorgan Neues Deutschland, eine scharfe Kritik des Buches. Zwar bescheinigte Rezensent Frank Beer, ein Mitarbeiter der erwähnten Hauptverwaltung, den jungen Dichtern eingangs "thematische Erweiterung und bewusstere sprachkünstlerische Gestaltung". Seine Erwartung, im Vorfeld des 20. Jahrestages der DDR "Verse des Preisens und Lobens im Becherschen Sinne" zu finden, erfüllte sich jedoch nicht. Statt dessen stieß er auf die "Gestaltung von Widersprüchen", auf "abseitige Schauplätze und Randerscheinungen", auf die Tendenz zur "elitären Selbstverständigung". Dem Herausgeber, Aufbau-Lektor Joachim Schreck, warf er den "Verzicht auf eine programmatische Konzeption" vor, die "Einfluß auf das lyrische Schaffen nimmt." Sein Fazit: "Die Anthologie weist unübersehbar darauf hin, daß vor allem die jüngere Lyrikergeneration Schwierigkeiten hat, vorzustoßen zum Zentrum des Lebens in unserer Republik..."

Schärfer noch äußerte sich einige Wochen später am gleichen Ort eine Leserin unter dem Titel "Lyrik? Wuchernde Worte!": "Wir ... erwarten, von jedem einzelnen, daß er die sozialistische Revolution und ihre Inkarnation verteidigt, ja sogar feiert." Auch auf dem VI. Schriftstellerkongress Ende Mai 1969 war mehrmals von dem bb-Bändchen die Rede, aber immer nur ablehnend. Noch drei Jahre später, in der von Adolf Endler initiierten Literatur-Debatte in Sinn und Form, kam der Literaturwissenschaftler Martin Reso auf die Anthologie zurück: Hier hätten sich "bildhaft-poetisch" die Exponenten einer früheren Diskussion zu Wort gemeldet, die damals abrupt beendet worden sei, da in ihr "Auffassungen gefestigt wurden, die ... einer Revision entscheidender kulturpolitischer Erkenntnisse sehr nahegekommen waren." Dass sie 1966 in der Wochenzeitung Forum stattgefunden hatte, erwähnte Reso nicht - anscheinend wollte er es Neugierigen nicht zu leicht machen.

Es blieb nicht bei Worten. Sarah Kirsch und Günter Kunert, die sich schon in dieser Diskussion missliebig gemacht hatten, konnten etliche Jahre nur für die Schublade schreiben. Joachim Schreck wurde aus der SED ausgeschlossen und musste 1969 den Verlag verlassen. Erheblich schwerer noch als die beanstandete Herausgeberschaft wog, dass er sich geweigert hatte, die Militärintervention vom 13. August 1968 zu begrüßen. Der Restbestand von Saison für Lyrik wurde vom Verlag makuliert. Carsten Wurm, früher Aufbau-Archivar, jetzt Antiquariatsbuchhändler, vermutet allerdings, diese Aktion sei vor allem als Beruhigungspille für die Hauptverwaltung gedacht und die 25.000er Auflage zu dieser Zeit (nicht zuletzt dank verkaufsfördernder ND-Kritik) schon weitgehend vergriffen gewesen. Denn antiquarisch sei das Buch heute mühelos zu beschaffen.

Man scheint damals auch nicht mit preußischer Gründlichkeit makuliert zu haben. Mitte der siebziger Jahre war das kleine Staatliche Antiquariat in der nördlichen Friedrichstraße, das ich manchmal besuchte, wegen Renovierung längere Zeit geschlossen; zur Wiedereröffnung hatte man ein Regal mit bb-Restbeständen bestückt. Kaum ein Titel, der mich interessierte, doch dazwischen: ein Exemplar Saison für Lyrik.


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