Ich habe Angst vor dem Erfolg und ich genieße ihn. Meine Bücher verkaufen sich sehr gut, und ich weiß, dass mein Name ein Theater auf Monate hinaus füllen kann. In Paris, wo ich früher gewohnt habe, sowieso, ich bin eine Pariser Kulturinstitution, inzwischen auch in Belgien, wo ich jetzt lebe. Das heißt aber in erster Linie, dass die Leute mir vertrauen, und das ist eine erschreckende Verantwortung. Deshalb versuche ich immer herauszufinden, wer eigentlich meine Geschichten liest und meine Stücke schaut.
Dazu ging ich einmal an einem 24. Dezember in Paris ins Theater, ich wollte wissen, wer denn ausgerechnet an Heiligabend ins Theater geht. Ich setzte mich in Le visiteur (Der Besucher), mein Stück über Freud und seine Tochter Anna am Vorabend ihrer Emigration aus Wien. Ich habe den Schauspielern Geschenke gebracht und mich dann neben den Ausgang gestellt und das Publikum beobachtet. Darunter war ein ärmlich gekleidetes Paar, das sich wahrscheinlich einen Theaterbesuch kaum leisten kann, und ich fragte sie: "Weshalb gehen Sie ausgerechnet heute ins Theater?" Die beiden sagten: "Wir haben Sie im Fernsehen gesehen und gehört, dass das Stück gut sei, da haben wir gespart. Dies ist unser Weihnachtsgeschenk, und es hat uns sehr glücklich gemacht." Da musste ich weinen.
In Deutschland bin ich seit einem Artikel im Stern als der Mann, "der die Welt zum Weinen bringt" bekannt. Ja, das stimmt, als Kind sah ich Cyrano de Bergerac mit Jean Marais als Cyrano im Theater, und ich weinte und weinte. Ich schämte mich, weil ich dachte, der Einzige zu sein, der weint, doch da bemerkte ich, dass mit mir achthundert Zuschauer weinten. Da begann meine Liebe zum Theater und ich dachte, die Welt zum Weinen zu bringen, muss das Größte sein. Aber natürlich ist das nicht mein Ziel, Rührung ist nur ein Vektor, der anzeigt, wie nahe ich mit einem Stück oder einer Geschichte den Menschen kommen kann.
Man könnte meinen, dass ich Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran und Oskar und die Dame in Rosa mit der Absicht auf Rührung geschrieben habe. In beiden stirbt schließlich der Titelheld, in beiden wird die Geschichte aus der Sicht eines Kindes erzählt. Das ist jedoch eine falsche Annahme. Und dass gerade diese beiden Bücher auf Deutsch übersetzt wurden, ist purer Zufall. Ich habe dazwischen auch schwierigere, dicke Bücher mit Erwachsenen geschrieben.
Ein Kind sprechen zu lassen, ist eine sehr ernsthafte Angelegenheit, vor allem ein krankes, fragiles Kind sprechen zu lassen. Oskar und die Dame in Rosa ist ein Roman über einen leukämiekranken Knaben, der stirbt und sein kurzes, verbleibendes Leben in Briefen an Gott noch einmal erfindet, ordnet, genießt. Ich habe selbst einen todkranken Jungen gekannt, und mit Oskar wollte ich eine Hommage an ihn schreiben. Immer, wenn ich ihn im Spital besuchte, war ich von der lucidité, der Klarheit seiner Gedanken, von seinem Mut und von seiner Würde beeindruckt. Erwachsene belügen sich in einer solchen Lage, sie können Krankheit und Tod nicht in ihr Leben integrieren. Kinder integrieren sie einfach. Um es mit Spinoza zu sagen: Man muss die Notwendigkeit, die Unausweichlichkeit einer Situation lieben. Nicht einfach akzeptieren, sondern lieben.
In meinen Stücken habe ich mit pompösen, historischen Figuren wie Diderot (Der Freigeist), Freud, einem Literaturnobelpreisträger (Enigma) oder der französischen Schauspiellegende Frédérick Lemaître ("Frédérick") gearbeitet. Rollen, die ich für Stars wie Alain Delon oder Jean-Paul Belmondo geschrieben habe. Mit Stars zusammenzuarbeiten ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits gehen ihretwegen Menschen ins Theater, die sich normalerweise nicht dafür interessieren würden. Andererseits sind sie allein durch ihr Starsein bereits zur Leinwand geworden, das Publikum projiziert nach einer Weile die immer gleichen Träume und Wünsche auf sie und verliert das Bewusstsein für die einzelnen Rollen und Stücke.
Natürlich gibt es da auch wunderbare Begegnungen. Josée Dayan, eine Filmregisseurin, rief mich an, sagte, sie wäre mit Catherine Deneuve im Gespräch, und ob ich nicht eine Idee für ein großes Fernsehspiel mit ihr hätte. Ich dachte mir sofort: Catherine Deneuve, eine große, reife Schauspielerin, was könnte ihr näher liegen als die Rolle der Madame de Merteuil? Ich nahm Choderlos de Laclos´ Liaisons Dangereuses (Gefährliche Liebschaften) zur Hand und dort stand: "Diese Geschichte spielt in unserem Jahrhundert, vor einiger Zeit." Natürlich ist die Deneuve eine moderne Frau, die kann man nicht ins Kostüm stecken, deshalb versetzte ich die Liaisons Dangereuses vom 18. Jahrhundert in die sechziger-Jahre des 20. Jahrhunderts. Ich machte also Josée den Vorschlag, und am nächsten Morgen rief mich die Deneuve an und sagte: "Wenn Sie das machen, mach ich das auch." Ich fiel fast vom Stuhl, erst recht, als wir auch noch Rupert Everett als Valmont und Nastassja Kinski gewinnen konnten.
Drehbücher und Drehbuch-Adaptionen wie die Liaisons schreibe ich allerdings nur nebenbei, das geht schnell, und da verdiene ich gut. Literatur dagegen ist harte Arbeit. Mehrere Jahre trage ich Ideen zu ungefähr drei Romanen und drei Stücken mit mir herum, träume davon, bin besessen davon, arbeite dafür und irgendwann kann ich schreiben. Das geht dann sehr schnell. Ibrahim und Oskar habe ich in zehn Tagen geschrieben, ohne Unterbrechung, ohne Schlaf. In meinem Garten in Brüssel stehen Obstbäume. Ich brauche nichts für sie zu tun, als ihre Früchte zu pflücken. Ein Buch schließlich zu schreiben, heißt für mich nichts anderes, als eine reife Frucht zu pflücken.
Ich selbst bin über die Jahre in meiner Haltung dem Schreiben gegenüber gereift. Aus der Sicht von Kindern zu schreiben, bedeutete für mich beispielsweise einen philosophischen Reifeprozess. Ich bin eigentlich ein sehr akademischer Mensch, die Universität fiel mir ausgesprochen leicht, aber ich wollte schon immer ein "einfacher" Schriftsteller sein. Meine Großmutter, die Näherin in Lyon war, soll meine Geschichten verstehen können, meine Freunde, die keine Intellektuellen sind, sollen sie lesen können. Ich muss also mit gewöhnlichen, alltäglichen Figuren arbeiten, auch wenn ich eine komplexe Botschaft vermitteln will. Als ich jung war, hatte ich keine Zeit, einfach zu sein, jetzt nehme ich mir dafür viel Zeit. Ich liebe es, viele Menschen zu erreichen. Deshalb ist in meinen Erzählungen auch die einfache mündliche Überlieferung sehr wichtig, also die Situation, dass eine Person einer andern etwas erzählt und vermittelt.
Das Ziel eines Buches ist es ja nicht, als Buch herumzuliegen, sondern ein Gespräch in Gang zu bringen. Ein junger Mann hat mir folgende Geschichte geschrieben: Eines Abends war er bei einer Freundin zum Essen eingeladen. Er kam in ihre Wohnung, doch sie war nicht da. Auf dem Tisch lag Oskar und die Dame in Rosa. Der junge Mann begann in dem Buch zu blättern, begann darin zu lesen, und ehe er sich versah, hatte er das Buch zu Ende gelesen. In diesem Moment kam die Freundin nach Hause, und da fand er zum erstenmal den Mut, ausführlich mit ihr über seine eigene Krankheit zu sprechen. Der junge Mann hatte Krebs.
Protokoll: Simone Meier
Eric-Emmanuel Schmitt: Oskar und die Dame in Rosa. Roman. Aus dem Französischen von Annette und Paul Bäcker. Ammann, Zürich 2003, 105 S., 13,80 EUR
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