Die US-Gewerkschaftsbewegung ist gespalten. Auf dem Jahreskongress des Dachverbandes AFL-CIO in Chicago hatten im Juli mehrere Verbände ihren Austritt erklärt (s. Freitag 32/05). Die Vorstellungen über zeitgemäße Gewerkschaftspolitik waren einfach zu unterschiedlich. Der AFL-CIO hat nun mit dem Verlust von vier seiner 13 Millionen Mitglieder und von 20 Millionen Dollar Jahresbeiträgen zu kämpfen. Jüngst trafen sich die Abtrünnigen zur ersten Konferenz ihrer Change to Win genannten Koalition.
St. Louis schien mir ein unpassender Ort für die Gründungskonferenz einer neuen US-Gewerkschaftsbewegung zu sein. Die Stadt ist schwer zu erreichen und bietet nur wenig Attraktionen. Als ich aber hörte, dass dort fast ein Viertel (22 Prozent)
fast ein Viertel (22 Prozent) aller Beschäftigten einer Gewerkschaft angehören, begann ich zu verstehen. (In den USA sind heute etwa acht Prozent der Arbeitnehmer im Privatsektor gewerkschaftlich organisiert - eine Generation zuvor waren es noch 35 Prozent.) St. Louis steht insofern für eine Zeit in Amerika, in der die Lohnabhängigen noch Gewerkschaften beitraten, um ihre Lebensverhältnisse verbessern zu können.Die hier nun versammelten sieben Verbände der Change-to-Win-Allianz sind in starkem Maße von den Anfängen der Congress of Industrial Organizations von 1935 inspiriert. Einer der sieben anwesenden Gewerkschaftsführer, der feurige Bruce Raynor von Unite Here (der neben Textilarbeitern auch Hotel- und Restaurant-Personal angehören) sprach über die Zeit vor 70 Jahren. Damals, sagte er, dachte man nicht, Stahlarbeiter oder Autobauer seien großartige Berufe. Es waren die Gewerkschaften, die daraus gute Jobs machten und diese Arbeiter in die Mittelklasse aufsteigen ließen. Und die Arbeitnehmervertreter, so Raynor weiter, könnten das Gleiche heute wieder tun: für die Beschäftigten im Gesundheitsbereich, für Reinigungskräfte, für alle schlecht bezahlten Arbeitnehmer im heutigen Amerika.Raynors Gewerkschaft hat sich mit Giganten wie den Teamsters (angeführt von James Hoffa, dem Sohn des legendären Jimmy Hoffa) und der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU zusammengeschlossen. Die SEIU ist die größte Gewerkschaft des Landes und diejenige mit dem schnellsten Wachstum. Während andere Gewerkschaften ihrem Ende entgegen zu gehen schienen, wuchs die SEIU in den vergangenen Jahren um über 900.000 Mitglieder. Der Architekt dieses Erfolges ist ihr "Organizing"-Verantwortlicher Tom Woodruff. Er wird diese Position auch bei Change to Win übernehmen, die nach eigenen Angaben 750 Millionen Dollar - und damit drei Viertel ihres Budgets - pro Jahr für das Anwerben neuer Mitglieder ausgeben (s. Kasten) will. Die Bürokratie des neuen Verbandes wird winzig sein und ihre Führung klein. Hoffa sagte, die neue Föderation müsse eine "heißblütige Organizing-Maschine sein".Die Föderation legt indes kaum Wert darauf, Politik und Gesetzgebung zu beeinflussen. Für die Verbände in Change to Win lautet die zentrale Frage nicht, was Gewerkschaften tun sollten, sondern ob sie überhaupt weiter existieren können - deshalb ist sie derart auf das Organizing fixiert und will dies auch zum Maßstab für eine mögliche Unterstützung von Politikern bei Wahlen machen.Sollte ein Republikaner - auch wenn das sehr hypothetisch klingen mag - Gesetzesänderungen unterstützen, die gewerkschaftliches Organizing erleichtern, und sein demokratischer Widerpart dies ablehnen, wird Change to Win den Republikaner unterstützen - selbst wenn dieser Kandidat bei vielen anderen Fragen völlig konträre Auffassungen haben sollte. Die neue Föderation wird sich nahezu ausschließlich auf den Wiederaufbau starker Arbeitnehmerorganisationen beschränken.Kritiker sagen, der Bruch zwischen den sieben Change to Win-Gewerkschaften und dem syndikalistischen Rest sei gewissenlos. Und ein Journalist bezeichnete die Versammlung in St. Louis gar als "Hunde- und Pony-Show" - zentral von der Bühne gesteuert, wenig demokratisch und ohne wirkliche Debatte. Dies mag stimmen. Andererseits: Verändern sich die Gewerkschaften nicht radikal, wird es sie schon für die nächste Generation in Amerika nicht mehr geben.Die Föderation schrieb übrigens auf ihrem Kongress Geschichte, indem sie mit Anna Burger die erste Frau an die Spitze eines US-Gewerkschaftsverbandes setzte. Als Nummer zwei der Föderation wurde Edgar Rommey nominiert - der damit bisher höchstrangige afro-amerikanische Gewerkschafter.Innerhalb der AFL-CIO war der Vorschlag von Change to Win, die Gewerkschaften zu industrieweiten Giganten zu verschmelzen, nicht aufgegriffen worden - nun wird die neue Föderation ihre Gewerkschaften entlang der Industriebranchen neu organisieren. Und die wollen nicht nur untereinander, sondern auch mit jenen Gewerkschaften Konkurrenz vermeiden, die der AFL-CIO treu geblieben sind. Am Vorabend des Kongresses in St. Louis gab die SEIU deshalb einen bedeutsamen Nicht-Angriffspakt mit der AFSCME bekannt (der zum alten Verband zählenden Gewerkschaft der Landes-, Kreis- und Gemeindeangestellten).Die Föderation kündigte außerdem Unterstützung für die Gründung starker globaler Gewerkschaften an, um der Herausforderung durch transnationale Unternehmen zu begegnen. Dazu präsentierte man konkrete Beispiele grenzüberschreitender Solidarität etwa beim Streit um Gate Gourmet, eines Catering-Großunternehmens in Großbritannien.Vielleicht war der Bruch gewissenlos und vielleicht hätten die sieben Gewerkschaften all dies auch im Rahmen der AFL-CIO tun können. Angesichts des drohenden Bedeutungsverlusts der Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten überhaupt, bleibt nur zu hoffen, dass Change to Win wirklich einen Neuanfang wagt.Eric Lee lebt als Publizist in den USA, Israel und Großbritannien. Er berät verschiedene Gewerkschaften bei der Nutzung des Internet für ihre Arbeit.Aus dem Englischen von Steffen Vogel"Organizing"...... kann als Mitgliederwerbung übersetzt werden, geht aber in seiner Bedeutung darüber hinaus. In den USA gibt es keine individuelle Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft - insofern bedeutet Organizing, alle Beschäftigten eines Betriebes von den Vorteilen einer gemeinsamen Interessenvertretung zu überzeugen. Stimmen die Arbeitnehmer dem zu, wird das Unternehmen zum "union shop" erklärt, und alle dort Arbeitenden müssen der Gewerkschaft beitreten. Neben "Volunteers" verfügen die US-Gewerkschaften zu diesem Zweck eigens über hauptamtliche "Organizer". - Der derzeitige AFL-CIO-Vorsitzende John Sweeney hatte 1995 vor dem Hintergrund anhaltenden Mitgliederschwunds den Übergang von Service- zu Organizing-Gewerkschaften proklamiert. Geschehen - so kritisiert Change to Win - sei dies aber zu zaghaft, der Dachverband bleibe sehr auf Lobbyarbeit fixiert.