Ein Schiff aus Staub

Kategorie der Notwendigkeit Ein Hinweis auf Max Aubs Roman "Bittere Mandeln" und auf das Bemühen, seinen Verfasser endgültig zu besiegen. Am 2. Juni wäre der Chronist des Spanischen Bürgerkriegs 100 Jahre alt geworden

In seinem Tagebuch La gallina ciega, der bitteren Chronik einer Reise durch Franco-Spanien, hat Max Aub die Begegnung mit einem alten Freund festgehalten. "Wir werden dich zu deinem 100. Geburtstag groß feiern", sagt der Mann, den er nach 30 Jahren wiedersieht, und Aub antwortet: "Schon möglich. Ja, wenn ich es mir genau überlege, bin ich sogar sicher, daß du recht hast." Das war 1969, drei Jahre vor seinem Tod, als in Spanien kein Hahn nach ihm krähte. Jetzt, am 2. Juni, jährt sich Aubs Geburtstag zum hundertsten Mal, und es ist, als hätte sich die Prophezeiung erfüllt. Schon zu Jahresanfang hat der spanische Ministerpräsident José María Aznar das "Centenario Max Aub" ausgerufen, in dessen Verlauf dem Schriftsteller mit etlichen Ausstellungen und Kongressen, Lesungen, Theaterinszenierungen, Filmabenden, einer Sonderbriefmarke und mehreren Bänden seiner "Sämtlichen Werke" gedacht wird.

Aub ist kein gebürtiger Spanier. Er wurde in Paris geboren, als Sohn eines Deutschen und einer Französin, und kam erst als Elfjähriger nach Valencia. Die Stadt und ihr Umland haben ihn geprägt, er betrachtete sie als seine eigentliche Heimat, schrieb auf Spanisch, leitete ein Studententheater, engagierte sich auf seiten der Volksfront, beauftragte Pablo Picasso damit, für den Pavillon der Spanischen Republik bei der Weltausstellung von Paris, 1937, ein Gemälde zu schaffen (Guernica sollte es heißen), drehte mit André Malraux mitten im Bürgerkrieg das Meisterwerk Sierra de Teruel. Anfang 1939 floh er nach Frankreich, überlebte die berüchtigten Internierungslager Le Vernet und Djelfa, starb im mexikanischen Exil, in dem er nicht heimisch wurde. Eine Literaturzeitschrift, die er dort herausgab, trug den bezeichnenden Titel Sala de espera, Wartesaal.

Premier Aznar, ein gebürtiger Madrilene, gelernter Finanzbeamter und engherziger Taktierer, stammt aus einer stockkonservativen Familie, hat als neofrankistischer Provinzpolitiker gegen die "revanchistischen Stürme" der jungen Demokratie polemisiert, ist zum großspanischen Eiferer und zuletzt, vor und während des angloamerikanischen Überfalls auf den Irak, zum Kriegsrabauken avanciert - lauter Eigenschaften, die Aubs grimmigen Einspruch hervorgerufen hätten. Aber was beweist dies, und was tönt falsch im gegenwärtigen Aub-Trubel?

Mit dem eben erschienenen sechsten Roman liegt Max Aubs epischer Zyklus über den Spanischen Bürgerkrieg auf deutsch vollständig vor. Bittere Mandeln ist der umfangreichste Band dieses magischen Labyrinths, Abschluss und Höhepunkt einer Saga, in dem noch einmal alle Gestalten - reale und erfundene - auftreten, handeln, sinnieren, lieben, streiten, verzweifeln, irren, sich ducken, aufrecht untergehen und noch im Sterben für das Leben optieren. Der Roman setzt am 28. März 1939 ein, kurz vor dem Fall Madrids. Dort hat Oberst Casado gegen die Regierung Negrín geputscht (und die zum letzten Widerstand entschlossenen Kommunisten verhaften lassen), um mit General Franco eine ehrenhafte Niederlage auszuhandeln. Eine Illusion, dieses Abkommen, das wissen alle, nur nicht der Oberst. Schon hat die Massenflucht ans Mittelmeer eingesetzt, nach Valencia und weiter nach Alicante, in den Hafen, wo dem Vernehmen nach britische Schiffe die Flüchtlinge aufnehmen werden. Aber mitten in diesem Chaos, in der Aussichtslosigkeit des Beharrens, in Hellsicht und Verblendung verleiht der Autor seinen Geschöpfen die Kraft, sich über die fatalen Verhältnisse zu erheben und rührende wie mitreißende Gespräche zu führen - über Gott und die Welt, Mut und Verrat, Kommunismus und Christentum, Tod und Sexualität, Disziplin und Souveränität, die französische Revolution und das Wesen der Spanier. Mit einem Fuß schon im Grab, mit dem anderen auf der Flucht, behaupten sie die Gegenwärtigkeit dessen, was gerade verloren geht, Demokratie oder Revolution, und deuten es andererseits von der Zukunft her, die ihnen versperrt ist. "Alles wird davon abhängen, wie die Geschichte geschrieben wird", sagt einer, und ein anderer behauptet: "Die einzigen vertrauenswürdigen Quellen sind: Romane." - "Aber die sind doch erfunden!" - "Eben darum. Deshalb gründen sie wenigstens auf etwas Realem, der Einbildungskraft."

Die Größe dieses Romans, Summe jahrzehntelanger Inbrunst und Trauer, beruht darauf, dass Aub die Grenzen jedes Genres sprengt, indem er sich aller denkbaren Gattungen, Mittel und Sichtweisen bedient: Allwissenheit, personale Erzählperspektive, innerer Monolog, Diachronie, Gleichzeitigkeit des Geschehens, nüchterner Bericht, lyrische Überhöhung, dramatischer Dialog, Sarkasmus, Groteske, zarte Anspielung. Jedes dieser Elemente wird überlegt eingesetzt, es kompensiert, neutralisiert, stärkt oder negiert das jeweils andere und formt sich zu einem literarischen Gebilde, das der Intensität des Empfindens gerecht wird. Bittere Mandeln kennt keinen Höhepunkt und steuert doch, unausweichlich und barmherzig, auf diesen zu: An den ersten Apriltagen müssen Zehntausende republikanische Flüchtlinge - Angehörige der geschlagenen Volksarmee, Gewerkschafter, Gemeindevertreter, Spanier ohne Ämter und Funktionen, vertriebene Juden aus Mitteleuropa, Männer, Frauen und Kinder, ganze Familien - auf der Mole von Alicante zusehen, wie die Schiffe, die sie retten sollen, an der Hafeneinfahrt wenden und wieder Kurs aufs offene Meer nehmen. Und auf der anderen Seite, landeinwärts, haben schon italienische Truppen, Mussolinis Leihgabe an den strammen Patrioten Franco, Sperren errichtet.

Ich kenne die Tragödie von Alicante aus den Erzählungen des anarchosyndikalistischen Journalisten Eduardo de Guzmán, der damals dabei war, dem vielleicht eine der Stimmen gehört, die Aub zu einem Chor vereint und deren Menschen er zugleich ihre Einzigartigkeit belassen hat. Wie viele der hier Porträtierten wurde Guzmán in einen Mandelbaumhain getrieben, den die Sieger flugs in ein behelfsmäßiges Konzentrationslager verwandelten, dann in ein Gefängnis geworfen, zum Tod durch Erschießen verurteilt. Das Urteil war beinahe schon eine Gnade, gemessen am Schicksal der anderen, die wie Fliegen starben, oder wie Hunde, oder wie Schweine geschlachtet wurden. (Die Begnadigung später, "zu zwanzig Jahren und einem Tag", war Zufall oder Glück.) Von den Selbstmorden im Hafen hatte Guzmán berichtet, und von den Diskussionen, in denen er und seine Gefährten das Für und Wider abwogen. Philosophische Erwägungen angesichts des Todes: Lohnt es sich, von eigener Hand zu sterben, um das Leid abzukürzen, der Gefahr zu entgehen, unter der Folter Namen preiszugeben, oder ist es besser, die Chance zu wahren, als einer unter Tausenden zu überleben, um irgendwann einmal die Untaten zu bezeugen. Bei Aub kommen die Selbstmorde anfangs fast beiläufig zur Sprache, umso größer ist das Erschrecken, steigern sich dann, bis sie schließlich die Normalität ausmachen. "Noch immer hört man Explosionen: Diejenigen, die zum Spaß herumschießen, bevor sie ihre Waffen ins Wasser schleudern; diejenigen, die weiter Patronen in die Lagerfeuer werfen; und andere wie Federico Salazar, der seine drei Kinder tötet, bevor er sich selbst umbringt, als er die Melodie der Giovinezza und das Gejohle ›Duce! Duce!‹ hört."

Die Einbildungskraft ist das einzig Reale, haben wir gelesen. Und tatsächlich endet der Roman im September 1939 mit einem Gerücht, das unter den Besiegten umgeht. Dass nämlich Rafael López Serrador - eine fragwürdige Gestalt, die Aub schon im ersten Roman des Labyrinths hatte sterben lassen - als Guerillero in den Bergen gesehen worden sei. Und dann kommt der "Nachtrag" - die Stimme einer namenlosen Frau, die dem Autor, was das Schicksal einiger seiner Heldinnen betrifft, widerspricht und im Widerspruch das ganze Ausmaß jenes Verbrechens zu erkennen gibt, das mit Worten wie "Vergeltung" oder "Diktatur" oder "Nachkrieg" so unzulänglich bezeichnet wird. "Schreiben Sie unbedingt, was im Frauengefängnis passiert ist, denn das wird niemand aufschreiben. Ein Mädchen, achtzehn Jahre alt, das bedeutet, zu Beginn des Krieges war sie fünfzehn (was konnte sie vom Leben und von der Politik schon wissen?), töteten sie, weil sie einen blauen Overall getragen hatte. Die Nonnen im Gefängnis sagten ihr: ›Sie werden dich nicht töten.‹ Sie konnte sehr gut singen, und an dem Morgen, als sie zur Erschießung abgeholt wurde, ließen sie sie das Ave Maria singen... Sie hieß Amparo, wie die Jungfrau. Sie war meine Tochter."

Mitten im Roman unterbricht Aub die Geschichte, um Rechenschaft über sein Schreiben abzulegen. Sie wird ihm zum Eingeständnis des Scheiterns: einen Roman geschrieben zu haben, der die Zeit nicht aufhalten, die Niederlage nicht abwenden, die Akteure nicht retten kann. In eine seiner Gestalten, die liebende Asunción, hat er sich verliebt. "Asunción wurde mir 1939 geboren; jetzt, 1966 - wenn die Zahlen nicht trügen - ist sie siebenundzwanzig Jahre alt; ich werde demnächst dreiundsechzig. Und ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll. Mit Spanien ist die Sache schlichter: Sie lassen es mich nicht sehen, es kreist in meinen Gedanken, noch immer bin ich an der Mole, nähre eine Hoffnung, erfinde den Rauch eines möglichen Schiffes, dabei ist es nur Staub."

Die Realismusdebatte lässt den Autor kalt, "für mich zählen Freiheit und Gerechtigkeit". Das klingt naiv, als wollte Aub eine fruchtlose Diskussion wiederbeleben. Seinen literarischen Widerpart Francisco Ferrís hat er über tausende Seiten seines Romanzyklus´ mitgeschleppt, nach dessen Tod (Bauchschuss, von einem Wachsoldaten, weil er seine Füllfeder nicht hergeben will) legt Aub die Aufzeichnungen des egoistischen Schriftstellers vor, dem der tote - vielleicht totale - Roman vorschwebte, der "Gipfel der Reinheit, der Entmenschlichung; der von nichts abhängt, außer von mir ... Eine Geschichte ohne Vorgeschichte, ohne Ziel, in der nichts passiert. Ein Roman, der nichts bedeutet. Ein leerer Roman. Ein Roman, der für das Erzählen das ist, was Kandinsky für die Malerei von Geschichte ist. Ein kalter Roman." Das ist ein Konzept, das die politische und militärische Niederlage künstlerisch vollzieht. Als Aub an seinem Roman schrieb, als er für kurze Zeit nach Spanien zurückkehrte, als der Roman dann erstmals erschien, hatten sich Ferrís´ Adepten überall breitgemacht. Sie bestimmen auch heute noch, was als Kunst zu gelten hat. Nur sind sie duldsamer geworden, milder oder gewitzter, messen die Qualität eines Werkes gerne an der Glaubwürdigkeit seines Inhalts, nicht daran, ob es auch notwendig sei. Freiheit und Gerechtigkeit aber sind Kategorien der Notwendigkeit.

Warum also die jähe Begeisterung für das "magische Labyrinth", Aznars Schützenhilfe für "das Jahrhundert des Max Aub"? Der spanische Erzähler Rafael Chirbes, Verehrer und Nachfahre seines Kollegen, hat das schon vor fünf Jahren erklärt, in einer Rede über Literatur und Bürgerkrieg: "Ich sehe heute diejenigen, die kaum Zeit hatten, die Uniform auszuziehen, in der sie ihre Gegner getötet haben, wie sie diesen huldigen, Stiftungen einweihen, die nach den Opfern benannt sind, und Konzerte zu ihren Ehren geben und sie damit noch einmal schlagen. Mit diesen Gesten wollen sie uns zeigen, wie nutzlos alle Worte sind, die man schreibt, und die Fäuste, die man gegen die Macht ballt, weil sie immer in den Besitz derjenigen übergehen, die alles besitzen." Max Aub würdigen, so, mit offiziellen Feierstunden, heißt, seine Niederlage feiern. "Ja, ich bin sogar sicher, daß du recht hast."

Auch in den deutschsprachigen Feuilletons werden aus Anlass des runden Geburtstags und des Erscheinens der Bitteren Mandeln lobende und im Lob beschwichtigende Aufsätze erscheinen, vielleicht von denselben Kritikern, die jüngst über Louis-Ferdinand Célines Roman Reise ans Ende der Nacht ins Schwärmen geraten sind. Des Antisemiten und Vichy-Kollaborateurs Hauptwerk handelt, las ich, "vom Schmutz der Welt", es sei "gnadenlos", "opulent" "temporeich", "atemberaubend", "virtuos". Es ist vor allem das Gegenstück zu Aubs Roman, ein Hochgesang auf die Lüge, der Abscheu eines Menschen, der im andern immer nur sich selbst gespiegelt hat ("Ich, ich...!") und dem - wie Ferrís - die Füllfeder wichtiger war als Mitleid und Ohnmacht. Der Unterschied wird kaum jemandem auffallen.

Aubs Übersetzer Albrecht Buschmann und Stefanie Gerhold waren gezwungen, für die umgangssprachlichen Wendungen Begriffe zu finden, die den Glanz des Originals wenigstens durchscheinen lassen. Das ist nicht immer gelungen ("Scherzkeks", "Spitzbübin", "verknusen"). Dass ihre Version nicht ganz sprachüblich klingt, erhöht andererseits den Reiz der Lektüre. Das gesprochene Spanisch wird zum leicht verfremdeten Deutsch, den Wörtern wachsen zarte Widerhaken. Mercedes Figueras hat 70 Seiten Anmerkungen beigesteuert, klug, knapp, uneitel.

Max Aub: Bittere Mandeln. Aus dem Spanischen übersetzt von Albrecht Buschmann und Stefanie Gerhold. Herausgegeben und kommentiert von Mercedes Figueras. Eichborn, Frankfurt am Main 2003, 814 S., 34,90 EUR

Im selben Verlag sind auch alle anderen Bände des "magischen Labyrinths" erschienen: Nichts geht mehr; Theater der Hoffnung; Blutiges Spiel; Die Stunde des Verrats; Am Ende der Flucht.

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