Es ist ein ganz normaler Tag im September. Wie an so vielen Tagen vorher oder danach, suchen Hunderte von Männern, Frauen und Kindern irgendwo einen billige, sichere Mitfahrgelegenheit auf dem langen Weg durch Mexiko, unterwegs ins Gelobte Land, nach "Amerika".
Eine dieser "indocumentados", wie die Migranten ohne Papiere genannt werden, ist die 27jährige Alicia Luna Flores aus Honduras. Den Grenzübertritt nach Mexiko hat sie in Tapachula schon geschafft, doch bleibt noch ein weiter Weg, der für eine der vielen Geschichten sorgt, die sich täglich auf der ruta mortal - der mörderischen Route - zutragen und jäh zu Ende sein können.
Alicia will ihr erbärmliches Leben in Honduras gegen ein besseres in den Vereinigten Staaten eintauschen. Dafür nim
tauschen. Dafür nimmt sie eine Strecke von mehr als 3.000 Kilometern in Kauf, deren Dimension sie weder geographisch noch von den unterwegs drohenden Gefahren her erfassen kann. Mit ein paar Lempiras in der Tasche ist sie aufgebrochen, beseelt von der Hoffnung, es wird, es muss alles gut gehen.Fünf Jahre zuvor schon ist ihr Mann, der Vater der vier Kinder, in Richtung Norden verschwunden. "Einmal schickte er 1.200 Lempiras (etwa 80 Euros - die Red.) für mich und die Kinder. Danach hat er sich nie wieder bei mir gemeldet, nur noch bei seinen Eltern."Für Alicia beginnt ein Überlebenskampf. Sie nimmt jede Arbeit an, die sich ihr bietet, egal ob als Tagelöhnerin bei der Kaffee-Ernte oder zuletzt in den "Maquilas", wo sie im Zweigwerk eines der großen Unternehmen arbeitet, die in den Freihandelszonen von San Pedro Sula, der honduranischen Wirtschaftsmetropole, angesiedelt sind. Dort näht sie an sechs Tagen in der Woche zwischen sieben und fünfzehn Uhr Unterwäsche für gerade einmal 500 Lempiras (23 Euro). Ihre Kinder sieht sie kaum noch. Die Zeit und das Geld reichen nicht, um am Sonntag nach Hause, in ihr Dorf, zu fahren.Alicia leidet unter der Trennung und weiß, die Schwiegereltern, bei denen sie die Kinder gelassen hat, erwarten von ihr mehr Geld für den Unterhalt. Ihre Verzweiflung wächst. Da erzählt eine Freundin, man müsse nicht länger in diesem Elend leben, es gebe einen Ausweg aus der Misere. Sie schlägt Alicia vor, doch nach Norden zu gehen, "wo Arbeiterinnen wie wir gebraucht und viel besser bezahlt werden."Abgefangen und ausgewiesenEs ist heiß in Tapachula, eine schwüle, drückende Hitze, Alicia unterbricht ihren Bericht bei der Erinnerung an das Gespräch mit der Freundin vor wenigen Wochen. Sie zögert, als habe sie keine Lust mehr, das alles noch einmal zu durchleben. "Sie hat mich mit ihrer Zuversicht aufgerüttelt, und ich dachte: Geh´ mit! Das ist eine Chance. Was hätte ich sonst tun sollen?"Anfang September soll die Reise ins Gelobte Land beginnen. "Am schlimmsten war der Abschied von den Kindern." Ihre zehnjährige Tochter, die älteste der vier, bittet sie: "Wenn du ankommst, schick uns ein Handy, dann können wir immer mit dir sprechen." Tief traurig lässt sie ihre Kinder zurück, fährt nach San Pedro Sula, trifft sich mit der Freundin, der Weg nach Norden beginnt - Kilometer für Kilometer auf der ruta mortal legen sie zurück wie so viele andere.Waren es während der achtziger Jahre vorwiegend politische Gründe, die Zehntausende aus Honduras, El Salvador oder Guatemala wegen der jahrelang köchelnden Bürgerkriege zur Flucht trieben, so wollen die Menschen heute dem täglichen Joch eines zermürbenden Überlebenskampfes entgehen. "El sueño americano" - der amerikanische Traum - ist mehr als ein Hoffnungsschimmer. Ungeachtet der Operation Gatekeeper, eines vor Jahren begonnenen Programms der US-Regierung zum Ausbau eigener Grenzanlagen, um illegalen Einwanderern den Weg in die Vereinigten Staaten zu versperren, ungeachtet der Deportationen, mit denen die Emigranten gewaltsam in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden, ungeachtet der Berichte und Gerüchte über Tote und Verstümmelte entlang der Route - der Exodus aus Zentralamerika erfasst allein 2004 mehr als 300.000 Menschen.Schon in Mexiko werden die meisten Emigranten - mehr als die Hälfte derer, die unterwegs sind - abgefangen und ausgewiesen, abgeschoben nach Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua.Du wirst, du musstDiejenigen, die es "schaffen" und tatsächlich in den USA als Billigarbeiter Jobs finden, halten ihre Familien zu Hause mit Geldsendungen - den "Remesas" - finanziell über Wasser. Untersuchungen zufolge lebt zwischen der Südgrenze Mexikos und der Nordgrenze Costa Ricas zwischenzeitlich ein Viertel der Bevölkerung von Überweisungen der Arbeitsnomaden im Norden. 2004 sind das Gelder im Wert von mehr als 30 Milliarden Dollar. In Honduras behauptet dieser Transfer Platz zwei unter den Deviseneinnahmen, nur die Gewinne aus den "Maquilas", den Weltmarktfabriken, liegen höher.Auch Alicia hofft, ihren schlecht bezahlten Maquila-Job in San Pedro Sula gegen einen besser bezahlten Putzjob irgendwo in Arizona, New Mexico oder Kalifornien eintauschen zu können.Der Wunsch, möglichst bald das erste Geld an die Kinder zu schicken, treibt sie vorwärts. Sie geht illegal über die Grenze am Rio Suchiate zwischen Guatemala und Mexiko, fährt mit dem billigen Überlandbus nach Norden, marschiert zu Fuß. Sie weiß, die schnellste, billigste, aber auch gefährlichste Möglichkeit, Mexiko zu durchfahren, ist die Reise als blinder Passagier eines Güterzuges."Der Mann meiner Cousine hatte mir vorher noch gesagt: Wenn du das riskierst, musst du höllisch aufpassen. Er selbst hatte es nicht fertiggebracht, auf einen fahrenden Zug zu springen. Ich dachte mir, du wirst, du musst den Mut aufbringen, Frauen sind sowieso mutiger als Männer".Vier Tage sind sie schon unterwegs, vier Tage von San Pedro Sula bis in den Süden Mexikos. Sie sind müde, haben Hunger und kaum noch Geld.Aufspringen und festhalten"La Bestia" - die Bestie, wie dieser von einer schweren Lokomotive angetriebene Zug überall genannt wird, schiebt sich auf alten, tiefliegenden Gleisen vorwärts. Langsam fährt er an ihnen vorbei. Plötzlich tauchen die blinden Passagiere aus allen möglichen Verstecken auf. Alicia und die Freundin schaffen es, sich seitlich an der Verriegelung eines Güterwaggons hoch zu ziehen und auf ein Trittbrett zu springen. Alicia fühlt so etwas wie Stolz, es geschafft zu haben. Die Anspannung bleibt enorm. Ständig bremst der Zug ohne Vorwarnung. Alle geraten in Panik."Du wusstest nie, was passiert. Bremst der Zug, weil er in einen Bahnhof einfährt, oder wegen einer Straßensperre der Migra (der Einwanderungspolizei). Immer musstest du bereit sein, schnell herunter zu springen und abzutauchen."Bei Huixtla, kurz hinter der Stadt Tapachula, gibt es keinen Zweifel. Eine Patrouille der "Migra" stoppt den Zug. Die Bremsen quietschen. Hunderte von Migranten springen aus Waggons, von Trittbrettern und Dächern und versuchen, die Sperre zu umgehen. Es ist kurz nach Mitternacht.Alicia und ihre Freundin erreichen ein gutes Stück hinter der Sperre keuchend und zitternd vor Angst wieder die Bahngleise und bald darauf hören sie auch schon, wie "La Bestia" näher kommt."Mir war so kalt, und die Angst saß mir in allen Gliedern". Die Freundin schafft den Aufsprung, erwischt sofort die Streben. Alicia rennt hinterher. "Ich wollte auch aufspringen, am nächsten Waggon, rannte am Zug entlang und suchte nach einem Griff zum Festhalten, um mich hoch zu ziehen. Meine Finger waren so klamm. So rutschte ich ab und fiel unter den Zug. Sofort fühlte ich eine fürchterlich brennende Hitze in meinen Beinen. Es war alles zu spät, der linke Oberschenkel war völlig zermatscht ..."Als Alicia ins Hospital gebracht wird, hat sie viel Blut verloren. Ihre Überlebenschancen seien gering, hört sie. Doch sie schafft es. Der rechte Fuß und das linke Bein müssen amputiert werden. "Im Krankenhaus fühlte ich mich unendlich einsam und war verzweifelt. Mein Körper war verstümmelt. Alle anderen Patientinnen im Zimmer wurden besucht, nur ich nicht."Seit Ende September nun lebt Alicia in der Herberge Jesús el buen pastor (Jesus, der gute Hirte) in Tapachula und hofft, irgendwann Prothesen zu erhalten. "Dann muss ich nur noch Arbeit finden oder auf andere Weise das Geld für die Fahrt nach Honduras - nach Hause - auftreiben, damit ich meine Kinder wiedersehen kann".In der Herberge, einer einfachen, privaten Unterkunft, bietet Olga Sánchez Martínez, den Opfern der "Bestie" ein Dach über dem Kopf, sie sorgt für Essen und Pflege. Olga hilft ihren Gästen vor allem deshalb, damit sie ihr Schicksal nicht allein ertragen müssen, sondern es mit anderen teilen können.Sammellager und AbschiebecampsIn der Mehrzahl sind es Männer, die den Weg nach Norden nicht geschafft haben, viele Männer, nur einige wenige Frauen und Jugendliche. Bisher habe sie - so Doña Olga - in ihrem Haus fast 5.000 Menschen mit oft schweren Verletzungen eine Zuflucht gegeben. Die meisten kämen aus Honduras. "Aus dem Krankenhaus werden die Opfer der ruta mortal nach der Behandlung schnell wieder entlassen. Aber in ihrem Zustand, ohne Geld und Beistand, haben sie keine Chance, die Heimfahrt antreten". Für Doña Olga ist ihre Herberge ein Ort christlicher Nächstenliebe, für die Betroffenen die Rettung vor einem Dahinsiechen als Bettler in den Kloaken von Tapachula.Im Januar 2005 wurde Olga Sánchez von Vicente Fox persönlich mit dem Nationalen Menschenrechtspreis ausgezeichnet. Während des Zeremoniells versprach der mexikanische Präsident, seine Regierung werde in Tapachula Unterkünfte für Migranten bauen, die größten Zentralamerikas. Er vergaß zu erwähnen, dass die Anlage in Wirklichkeit als Abschiebecamp für die illegal nach Mexiko eingewanderten Arbeitsnomaden des Nordens gedacht ist.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.