Wie Brecht beinahe ein Einstein-Stück schrieb

Erinnerung Die subjektive Tragödie eines großen Wissenschaftlers in der Debatte zwischen Kritiker und Autor

Mit Bertolt Brecht seit Juni 1949 persönlich bekannt, konnte ich mich mit ihm in den folgenden Jahren wiederholt in Ostberlin, aber auch in München, wo ich als Journalist und Publizist lebte und arbeitete, treffen. Unsere Gespräche schlossen nicht nur künstlerische, sondern auch politische und wissenschaftliche Probleme ein.

Am 22. April 1955 kam Brecht von Frankfurt am Main, wo er an den Endproben zur Inszenierung des Kaukasischen Kreidekreises in der Regie von Harry Buckwitz teilgenommen hatte, nach München, um mit dem Intendanten und Regisseur Hans Schweikart und Caspar Neher die Inszenierung des Guten Menschen von Sezuan in den Münchner Kammerspielen vorzubesprechen.

Wir trafen uns im Foyer des Hotels Vierjahreszeiten. Im Zusammenhang mit den beiden Stücken debattierten wir über die dramatische Parabel, der Brecht eine große Zukunft voraussagte, "weil sie die Wahrheit so elegant zu servieren vermag." Eine analoge Funktion der Distanzierung zum Verständnis von Gegenwärtigem könnten aber auch Geschichtsdramen, Stücke von historischer Authentizität oder doch hohem historischen Gehalt gewinnen, da sie per historiam von größerer Tiefe seien, in der sich geistige wie gefühlsmäßige Beeinflussungen vollzögen.

Diese Erörterung war durch die deutsche Erstaufführung von Leben des Galilei noch einmal befördert worden. Sie hatte am 16. April 1955 in der Regie von Friedrich Siems in den Kammerspielen der Stadt Köln stattgefunden. Brecht bestätigte mir, dass er unter dem Eindruck der Weiterentwicklung der A- zur H-Bombe, der Atombombenversuche der USA auf dem Eniwetok-Atoll und deren verheerende Auswirkungen auf japanische Fischer, schließlich auch durch den Prozess gegen Robert J. Oppenheimer im Jahr 1953, die Tendenz der amerikanischen Fassung des Galilei noch verstärkt habe. Der zeige ihn als genialen Wissenschaftler, der sein geistiges Produkt den gesellschaftlichen Machthabern überlässt, die "es zu gebrauchen, um es zu missbrauchen." In einer "mörderischen Analyse" komme Galilei gegenüber seinem früheren Schüler Andrea zu einer Selbstverurteilung, die noch schärfer ausfalle, als es in der amerikanischen Fassung der Fall war. In die deutsche Neufassung habe er noch den Satz eingefügt, dass - so sinngemäß - Galilei auch zum Anstifter eines "hippokratischen Eides der Naturwissenschaftler" hätte werden können, wenn er nicht abgeschworen hätte.

Seit den Abwürfen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki an der Atomproblematik interessiert, war mir bekannt, dass ein solcher hippokratischer Eid, der Atomforscher daran hindern sollte, sich an Arbeiten für den Krieg zu beteiligen, von Frederic Soddy in seinem Buch The Story of Atomic Energy vorgeschlagen worden war. Kurz vor der Münchner Begegnung mit Brecht hatte ich in der Deutschen Woche, in deren Redaktion ich arbeitete, zwei ganze Seiten dem "Aufstand der Menschen gegen die Atombombe" gewidmet.

Sie gipfelten in einer Zusammenstellung der Äußerungen von Wissenschaftlern aus aller Welt gegen die Weiterentwicklung der Atombombe zur Wasserstoffbombe. Ich konnte die von Brecht berichtete Verschärfung der "mörderischen Analyse", in der sich sein Galilei in der neuen deutschen Fassung als "Urvater" des "Sündenfalls" der modernen Atomforscher selbst verurteilt, nur begrüßen, wandte aber ein, dass damit nicht nur "die historische Wahrheit" verletzt werde, sondern auch die Problematik der modernen Naturwissenschaftler viel zu wenig konkret erfasst würde.

Ich war darauf gestoßen, als ich für die Deutsche Woche den Nachruf auf Albert Einstein zu schreiben hatte, der am 18. April 1955 in Princeton gestorben war. Ich stützte mich dabei vor allem auf die deutsche Ausgabe der Einstein-Biographie Das Drama Albert Einsteins von Antonina Vallentin, die im Günther Verlag Stuttgart erschienen war. Für mich war es nicht nur ein Drama, es war eine Tragödie, dass Einstein, weltweit bekannter Pazifist und Präsident der "Internationale der Kriegsdienstverweigerer", im August 1939 Präsident Roosevelt die Entwicklung einer Atombombe empfahl, nachdem den deutschen Physikern Otto Hahn und Lise Meitner die Urankernspaltung gelungen war. Als tragische Klimax musste Einstein empfinden, dass seiner Forderung nach einer öffentlichen Vorführung der A-Bombe im Frühsommer 1945 nicht statt gegeben, sondern die neue Waffe ohne Ankündigung gegen die offenen Städte Hiroshima und Nagasaki eingesetzt wurde. Als er erkennen musste, dass die USA einer grundsätzlichen Ächtung der Atomwaffen nicht zustimmten, sondern mit der Entwicklung der H-Bombe das atomare Wettrüsten vorantrieben, wuchs sein "Schuldgefühl" bis zur Äußerung, er würde, falls er wieder geboren würde, lieber Hausierer oder Spengler als nochmal Physiker werden.

Ich zog aus dieser verkürzten Wiedergabe der subjektiven Tragödie Einsteins den Schluss, eine möglichst dokumentarische dramatische Nach-Gestaltung des Lebens von Einstein mache das Problem der gesellschaftlichen Verantwortung der Naturwissenschaftler nicht nur anschaulicher, sondern auch zwingender, als es das historische Schauspiel Leben des Galilei selbst bei einer "Tendenzierung" machen konnte.

Brecht hatte nachdenklich an seiner Zigarre gepafft, war aber überzeugt, dass er mit der Inszenierung des überarbeiteten Galilei im Berliner Ensemble, die er nun als die wichtigste Aufgabe in Angriff nehmen wollte, schon zeigen werde, dass der Bezug auf die modernen Naturwissenschaftler nicht so eskamotiert werden könne, wie es in der Reaktion auf die Aufführung in Köln geschehen war.

Wie sehr es aber in ihm gearbeitet haben musste, verriet schon seine gleichsam an sich selbst gestellte Frage: "Aber wie ein ›Leben Einsteins‹ dramatisch machen? Als ein ›historischer Schinken‹ geht das überhaupt nicht. Das zeigt sich ja schon am Galilei. Nein, wenn, dann überhaupt nur in einer viel höheren Form der Verfremdung, viel demonstrativer, exemplarischer, abstrakter, vielleicht mit einem ausgeprägten Wechselspiel zwischen Protagonisten und Chören, und unter Verwendung von filmischen oder sonstigen Dokumentationen des Historischen, oder so..."

Er brach ab, fragte mich, ob ich ihm nicht die Dokumentation von Wissenschaftlern zu den Atombombenversuchen in der Deutschen Woche zukommen lassen könnte. Ich brachte sie ihm an den Nachtzug München-Berlin. Schon am Abteilfenster stehend, bat er mich, ihm doch noch Titel und Verlag der Einstein-Biografie von Antonina Vallentin aufzuschreiben. "Darüber muss man ernsthaft nachdenken."

Im Hinblick auf mein weiteres publizistisches Engagement gegen das atomare Wettrüsten kam mir sehr zupass, dass ich im Juni 1955 am Weltfriedenstreffen in Helsinki teilnehmen konnte. Unter der Präsidentschaft des französischen Atomphysikers Frédéric Joliot-Curie diskutierten hochrangige Wissenschaftler aus aller Welt, unter ihnen Leopold Infeld, Polen; Wiktor A. Ambarzumjan, Sowjetunion; Meghnad Saha, Indien; John D. Bernal, Großbritannien, über die Ächtung der Atomwaffen, verbunden mit einer wirksamen internationalen Kontrolle und allgemeinen Rüstungsreduzierung.

Als ich mich Ende Juli nach einer Rundreise durch Polen mit Brecht in seinem Sommersitz in Buckow treffen konnte, berichtete ich ihm über meine Eindrücke. Er seinerseits überraschte mich mit der Mitteilung, auf seiner Reise nach Moskau zur Entgegennahme des Stalin-Friedenspreises Leopold Infeld in Warschau getroffen zu haben. Spontan wollte ich wissen, ob er ihn nicht auf ein Leben Einsteins angesprochen habe. "Natürlich", sagte er, aber er glaube "Einstein sei kein Dramenheld; ein Genie ohne wirklichen Gegen- oder Mitspieler, sozusagen undramatisch."

"Und Sie?"

"Ich bin von Paul Dessau während des Gastspiels des Berliner Ensembles beim Theater der Nationen in Paris von dem Einfall überrascht worden, er denke an eine Einstein-Oper. Aber zu einem Einstein-Stück ist mir noch wenig eingefallen." Er sah nachdenklich auf den Schermützelsee, dann: "Dabei liegt die Sache ja wirklich in der Luft."

Er berichtete, dass der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell in London mit einer Erklärung vor die Weltöffentlichkeit getreten sei, die das letzte politische Vermächtnis Einsteins ausdrücke. Und fasste den Inhalt sinngemäß etwa so zusammen, dass Einstein, Russel und andere wissenschaftliche Koryphäen die Wissenschaftler der Welt dazu aufriefen, in einer Konferenz die Gefahren zu prüfen, die aus der Entwicklung der Massenvernichtungswaffen für die ganze Menschheit erwüchsen. Er hatte auch verfolgt, dass sich auf der Insel Mainau im Bodensee die Nobelpreisträger der Welt getroffen und an die Weltmächte appelliert hatten, einen Atomkrieg zu verhindern.

Auf mein weiteres Nachfragen, welche dramaturgischen Möglichkeiten er denn sehe, erwiderte er schließlich, "das Ganze" müsste wohl am besten "streng widersprüchlich, demonstrativ gesetzt, nur dialektisch behebbar" dargestellt werden.

"Klarer als bisher ist mir geworden, dass Einstein einen kollektiven Gegenspieler braucht, der ihm in der Marxistischen Arbeiterschule in Berlin als der aufgeweckte Arbeiter vor Augen trat. Es müsste in noch abgehobenerer Form als in der Auseinandersetzung zwischen den Agitatoren und dem Chor, oder den Chören, in der Maßnahme vor sich gehen." Jedenfalls sei er weiter am Sammeln von Material über Einstein. Die Vallentin habe er sich schon besorgt; sollte ich weiteres einschlägiges Material zur Kenntnis bekommen, bitte er um Hinweis. Seinen Sohn Stefan habe er wegen der englischen Einstein-Biographie angeschrieben.

Aus Anlass der ersten Internationalen Konferenz über die friedliche Anwendung der Atomenergie in Genf veröffentlichte ich in der Deutschen Woche vom 31. August 1955 einen ganzseitigen Aufriss "Von der kriegerischen zur friedlichen Verwendung der Atomenergie". Und verfasste einen langen Bericht über "Die Auswirkungen der Atombomben-Experimente." Ich veranlasste auch, dass ab 21. September 1955 in der Deutschen Woche mit dem Abdruck von Leopold Infelds "Meine Erinnerungen an Einstein" begonnen wurde.

Anfang Oktober 1955 erwähnte ich betont, dass ich in der Deutschen Woche den Abdruck der Erinnerungen Leopold Infelds an Albert Einstein in Fortsetzungen veranlasst hatte. Brecht griente: "Ich hab schon verstanden", aber es sei jetzt endgültig entschieden, dass das Leben des Galilei zur Hauptproduktion der neuen Spielzeit im Berliner Ensemble werde.

Am 22. November 1955 gab die Sowjetregierung bekannt, dass über Sibirien eine Wasserstoffbombe zur Explosion gebracht worden sei. Damit war das Monopol, das die USA seit dem 1. März 1954 innehatten, gebrochen, aber auch der Rüstungswettlauf war verstärkt.

Mir erschien um so dringlicher, die moralischen Probleme der Atomforschung aus dem Leben von Einstein hervortreten zu lassen, statt sie dem historischen Stoff des Galilei als "Tendenz" aufzukleben. Ich lenkte das Gespräch auf die sowjetische Wasserstoffbombe. Brecht reagierte: "Ich weiß, Sie hätten meine Arbeit gern ›einsteiniger‹, aber darüber reden wir erst nach der Galilei-Premiere im nächsten Juni weiter."

Ich war indes kaum nach München zurückgekehrt, als mich ein vom 17. Dezember 1955 datierter Brief erreichte, in dem mich Isot Kilian, die Mitarbeiterin von Brecht, wissen ließ: "Brecht bittet Sie sehr, die Nummern der Deutschen Woche, München, in denen der Infeld-Artikel über Einstein steht, recht bald zu besorgen und zu schicken. Er braucht sie dringend für seine Arbeit."

Sollte Brecht doch "angebissen" haben und am Leben des Einstein weiterarbeiten?

Erst Ende März 1956 sollte das Gespräch in Brechts Wohnung ein weiteres und, was ich damals nicht ahnen konnte, letztes Mal auf das Einstein-Stück kommen. Brecht blieb aber dabei, sich ausschließlich auf die Galilei-Proben zu konzentrieren.

Ich erlaubte mir, darauf hinzuweisen, dass im März 1956 im Verlag der Universität von Princeton als letztes Werk von Einstein die Revision der einheitlichen Feldtheorie erschienen sei, und zwar als Anhang zum fünften und letzten Teil der Bedeutung der Relativität. "Schlau", meinte Brecht interessiert, "schlau", aber dann in gespielter Abwehr: "›Apage, Satanas‹! Sie werden mich nicht ablenken. Erst nach dem Galilei werde ich über einen Einstein weiter reden."

Für mich sollte sich keine Möglichkeit mehr bieten, den "Satanas" zu spielen. Die Proben zu Galilei mussten abgebrochen, die für Juni angekündigte Premiere verschoben werden. Nach Brechts Tod im August 1956 übernahm Erich Engel die Regie.

Dass Brecht eine Textkopie der dänischen Fassung von Leben des Galilei aus dem Jahr 1938 im Mai 1939 auch an Einstein geschickt hatte, schien ihm selbst entfallen zu sein. Erst jetzt zum 50. Todestag von Einstein konnte Erdmut Wizisla im Einstein-Archiv der Jewish National and University Library in Jerusalem den Antwort- und Dankesbrief Einsteins, der offensichtlich nicht abgeschickt worden war, ausfindig machen. Einstein hob darin die Aktualität des Stückes hervor: "Sie haben es verstanden, einen dramatischen Rahmen zu schaffen, der ungemein fesselnd ist und uns auch durch die starken Beziehungen zu den politischen Problemen der Gegenwart besonders interessieren muss." Die Einstein-Oper Paul Dessaus kam erst 1974 nach einem Libretto von Karl Mickel in der Staatsoper Berlin zur Uraufführung. 20 Jahre nach Einsteins Tod erfolgte im Volkstheater Rostock in der Regie von Hanns Anselm Perten die Uraufführung meiner als "Biophysical" angelegten Dramatisierung des Lebens von Einstein unter dem Titel Die Versuchung des Forschers. Visionen aus der Realität.


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