Er war erklärtermaßen ein Nörgler und Pessimist. Atheismus hielt er für Dummheit, obwohl er nie eine Synagoge besucht hatte und auch kein getaufter Jude sein wollte. Die Versprechungen der modernen Molekularbiologie, deren Grundlagen er mit der Entdeckung der Basenkomplementarität der DNS selbst auf den Weg gebracht hatte, hielt er für Scharlatanerie. Und er haderte mit dem neuen Typus des Wissenschaftlers, dem Geld und Markt wichtiger sind als ethische Grundsätze.
Mit Erwin Chargaff ist Ende Juni 96-jährig einer der letzten Wissenschaftler "alten Typs" gestorben. Er verband naturwissenschaftlichen Sachverstand mit dem humanistischen Erbe. Er war nicht nur ein brillanter Biochemiker, sondern auch ein Sprachbesessener in der Nachfolge Karl Kraus`, bei dem er zwischen 1921 und 1928 in Wien alle Vorlesungen hörte, bis er aus materiellen Gründen zur Chemie wechselte. Er lehrte in Yale, Berlin und Paris bis er 1935 an die Columbia Universität nach New York wechselte. Seit seiner Emeritierung 1974 hat sich Chargaff als streitbarer Essayist profiliert.
Wir dokumentieren einen gekürzten, unter dem Titel Forschung erschienenen Beitrag aus der Essaysammlung Ernste Fragen.
In meinem Buch Das Feuer des Heraklit habe ich beschrieben, wie ich zur chemischen und biochemischen Forschung kam. Das war im Jahre 1928; aber selbst damals war mir klar, dass ich schließlich eine Universitätsstellung mit Lehrverpflichtungen suchen müsste, wie ich sie ein paar Jahre später antrat. Vielleicht hatte ich da eine zu hohe Meinung davon, was es bedeutet, wissenschaftliche Forschung zu treiben; vielleicht waren die Vorbilder unter den Wissenschaftlern und Forschern, die ich mir ausgesucht hatte, zu erhaben. Doch muss ich sagen, dass jemand, der an der Grenzlinie arbeitet, wo die schmale Zone, in welcher sich die Natur für uns erhellt hat, und die dahinterliegenden riesigen Kontinente des Dunkels aufeinandertreffen, wenigstens meinem jungen und unerfahrenen Blick eine schwere Last der Verantwortung zu tragen schien.
Wenn die Verantwortung groß war, so war es die intellektuelle Befriedigung auch. Es war immer noch möglich, Entdeckungen von grundlegender Bedeutung zu machen, Entdeckungen im Zentrum einer wissenschaftlichen Disziplin - Physik, Chemie, Geologie, Biologie und so weiter. Was ich verschiedentlich zu betonen versucht habe (und was man sich heute nicht hinreichend klar macht), ist: wie gering an der Zahl das wissenschaftliche Personal aller Institutionen zusammen tatsächlich bis zum Zweiten Weltkrieg war. Da ich an einer Alterskrankheit leide, die man Statistikophobie nennen könnte, habe ich keine exakten Zahlen zur Hand, aber es ist mein Eindruck, dass in manchen Bereichen der Wissenschaft sich die Anzahl des Forschungspersonals verfünfzigfacht haben dürfte. Jedenfalls hatte dieser abrupte und in ungeheuren Dimensionen sich vollziehende Wandel die zu erwartende Wirkung: Indem sich die Quantität der Forscher derartig vervielfacht hat, hat sich die Qualität der Forschung verändert. Das hat mehr als irgend etwas anderes zur Entstehung einer neuen Klasse geführt: der Wissensproduzenten. In Verbindung damit hat sich auch eine sehr wichtige Verschiebung der Verhältnisse innerhalb der Gesamtzahl der "Kopfwerker" ergeben: Die an den Universitäten lehrenden Wissenschaftler nehmen ab, es vermehren sich jene, die sich ausschließlich der Forschung widmen, ob nun an einer Universität, einem Institut oder in einer Firma.
Was ist denn eigentlich wissenschaftliche Forschung? Wenn ich Wissenschaft als die Summe jenes Teils unseres Wissens von der Natur definiere, der mit den Gesetzen von Physik und Chemie vereinbar ist, dann ist Forschung jene Aktivität, die dieses Wissen vermehrt. Ob der erforschbare Bereich, der Bereich dessen, was wir grundsätzlich über die Natur wissen können, begrenzt ist oder grenzenlos - das wird seit langem diskutiert. Ich selbst neige der ersten Möglichkeit zu, um so mehr, als ich den Eindruck habe, dass viele Wissenschaften ihre normalen Grenzen nachgerade erreicht haben. Um dieser Form technologischer Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, hat sich die Klasse der Wissensproduzenten - ihrem kollektiven Instinkt zur Selbsterhaltung folgend - ein paar Tricks ausgedacht: Man muss sich immer tiefer in die Dezimalstellen versenken. Um verständlich zu machen, was ich damit meine, ist vielleicht eine kleine Parabel hilfreich.
Es war einmal ein Marsmensch, der - wegen schlechter Führung - auf unsere Erde verbannt wurde, mit der Auflage, Struktur und Funktion des ersten Dinges zu untersuchen, auf das er stoßen würde. Als er an ein geparktes Auto kam, zerlegte er es, inspizierte die diversen Organe des Geräts, setzte alles wieder zusammen und kam zu dem Schluss, dass es sich im wesentlichen um einen Verbrennungsmotor handelte, der die Räder antrieb. Da er nicht die Absicht hatte, selbst ein Auto zu bauen, erklärte er seine Aufgabe für beendet: Er hatte Struktur und Funktion des Automobils untersucht. Er war sogar stolz auf seine wahrhaft außerirdische Intelligenz. Doch als er sich bei seinem marsianischen Bewährungshelfer meldete, kam die Anweisung: "Genauer!" Dieser Befehl wurde nach jedem Zwischenbericht wiederholt. Und so ist der Marsmensch immer noch tätig, er analysiert die genaue Zusammensetzung jedes einzelnen Teils, Gummi und Glas, Plastik, Stahl, Legierungen, Klebstoff und Lack. Er musste sich ein großes Labor bauen und alle möglichen Apparate installieren, um viele winzige Bestandteile vermessen zu können. Struktur und Funktion? Danach dürfen wir ihn nicht fragen, denn er weiß nicht mehr, dass er ein Automobil studiert; er steckt tief in der Entwicklung einer neuen Methode zum Nachweis von Mangan durch Mikroanalyse. Er hat vollkommen Recht, wenn er erklärt, dass sich seiner Forschung endlose Perspektiven eröffnen.
Aber Perspektiven sind eben nur so gut wie das, was man im Vordergrund und am Horizont tatsächlich zu sehen bekommt. Und ich muss gestehen, ich habe das Gefühl: Je lauter die Wissenschaftler schreien, welch wunderbarere Ausblicke ihre Forschungen ermöglichen, desto weniger ist für den Rest der Menschheit tatsächlich zu sehen. Am Ende haben wir vielleicht gelernt, noch die winzigste Spur Mangan nachzuweisen.
Meine bescheidene Parabel versucht darzustellen, was meines Erachtens mit der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Forschung während der letzten vierzig Jahre geschehen ist. Ich möchte es als inflationäre Banalisierung bezeichnen. Aber man darf das nicht missverstehen: Es sind nicht so sehr die Ergebnisse, die ich banal nennen will (obwohl viele es in der Tat sind), als die Art und Weise, wie sie erlangt werden. Die Phantasie ist die Triebkraft allen menschlichen Schaffens. Man hat die Wissenschaft zur Technik gemacht, man hat jegliche Überprüfung der Frage, ob die wissenschaftliche Vorstellungskraft auf dem richtigen Wege ist, mechanisiert, man hat das Ziel überbetont und den Weg ignoriert, man hat die Forschung zu einer Art Tourismus durch die Wunder der Natur pervertiert. Ich habe mich oft gefragt, ob wir jetzt deshalb so viel mehr Wissenschaftler haben, weil es so viel mehr wissenschaftliche Probleme gibt, die gelöst werden müssen - oder ob es umgekehrt ist. Letzteres, glaube ich. Die alten Griechen waren in ihrem begrenzten Universum mehr zu Hause als wir, und das gelang ihnen dadurch, dass sie mehr dachten und weniger fragten. Dem Einwand, dass dies doch wohl nicht das Verfahren des Sokrates war, des größten aller Fragesteller, lässt sich leicht erwidern: Sokrates` Fragen waren bereits das Ergebnis profunden Nachdenkens und trugen ihre Fragezeichen sozusagen als Maske.
Die Wörter research, recherche, ricerca sind von einem Verb abgeleitet, das die Bedeutung "suchen" hat; das entsprechende deutsche "Forschung" und die verwandten skandinavischen Wörter bezeichnen das Fragen, Befragen; ähnlich ist es im Russischen. Die wissenschaftliche Forschung ist also eine an die Natur gerichtete Frage. Die Natur aber ist bekanntermaßen stumm. Wir müssen unsere Fragen allesamt selbst beantworten, wenn uns auch die alte Weisheit zur Warnung dienen sollte: Wer keine Fragen stellt, bekommt auch keine Lügen zu hören (wie übrigens ja auch ein Narr mehr fragt, als zehn Weise beantworten können). Das Problem besteht also darin, törichte Fragen zu vermeiden.
Das ist jedoch ein Problem, das ungelöst geblieben ist. Der sehr festgefügte und komplex ausgebaute Rahmen der grundlegenden Naturwissenschaften, Physik und Chemie, der im Verlauf von Jahrhunderten errichtet worden ist, hat im allgemeinen das Schlimmste verhütet, jedenfalls bis zur Kernspaltung. Die Biologie und die von ihr abgeleiteten angewandten Wissenschaften wie die Medizin sind in einer viel prekäreren Situation, da sie es mit dem wissenschaftlich nicht in den Griff zu bekommenden Leben zu tun haben. Es mag schon sein, dass der stolze Satz "All systems go" für den Wissenschaftsbetrieb zutrifft, aber wohin es "geht", das weiß keiner. (Ich entschuldige mich für diesen infantilen NASA-Jargon, aber die Mondlandungen stehen exemplarisch für das, was ich als dumme Frage bezeichnen würde.)
Es gibt in der wissenschaftlichen Forschung ein Suchen und ein Finden. Sucher sind nicht notwendigerweise auch Finder, aber sie verfassen die wertvolleren Reisebeschreibungen. Die älteren Generationen von Wissenschaftlern - und auch die meisten vor meiner Zeit - gehörten vorwiegend zum Typ des Suchers. Das Suchen enthält auch ein Stück Träumen, und man könnte sagen, dass manch ein großer Wissenschaftler seinen großen Fund wie im Traum machte, wobei er übrigens nicht immer das fand, was er suchte. Die heutige Forschung aber misst dem Finden allzu große Bedeutung zu und pflügt ihre Abkürzungen mit dem Bulldozer durch die stummen Wiesen der Natur. Im vergangenen Jahrzehnt sind wahrscheinlich mehr sogenannte wissenschaftliche Fakten entdeckt worden als im ganzen Jahrhundert davor. Ihre bloße Anzahl hat zur Entwertung eines jeden einzelnen geführt, und es ist nur gelinde übertrieben, wenn ich sage, dass zumindest für mich viele der Wissenschaften, mit denen ich nach wie vor einigermaßen vertraut bin, sich in einem Zustand ernster Stagnation befinden. Zweifellos werden tausend Supply-Side-Wissenschaftler nun aufspringen und das bestreiten. Es ist ein allgemeines Phänomen, dass der einzige Beweis für die Wahrheit in der Lautstärke ihrer Leugner liegt. Unglücklicherweise ist es kein ausreichender Beweis, denn viele Wahrheiten fallen einfach unter den Tisch, unbemerkt und ohne Widerspruch. [...]
Ich wünschte, ich könnte beschreiben - oder gar erklären! -, was geschehen ist. Wenn ein Gebäude nach einem Erdbeben einstürzt, gibt man dem Fundament die Schuld. Doch lässt sich das Fundament, das die Menschheit Tausende von Jahren lang getragen hat, nicht so einfach ausmachen. War es eine Art gyroskopischer Kontrolle, die verhindert hat, dass die Bäume in den Himmel wachsen, und uns gleichzeitig vor dem Aussterben bewahrt hat? Ich zögere, die Kontrollmechanismen zu nennen, denn Wörter wie Glaube, Liebe, Mäßigkeit, Bescheidenheit, Mitgefühl lassen sich nicht länger verwenden. Es ist einfacher, anzudeuten, was die Rolle des Erdbebens übernommen hat: Revolutionen, Kriege, Explosionen (die französische und die russische, doch auch die industrielle Revolution; zwei Weltkriege und der dritte und vermutlich letzte, der am Horizont aufzieht; die Atombombe, aber auch die Informationsexplosion - die Liste ist viel zu lang).
Dass die wissenschaftliche Forschung hieran ihren Anteil hatte, das lässt sich nicht leugnen. Trotzdem ist sie am Ende nur ein Rädchen in einer großen Maschinerie der Zerstörung. Die Forschung hatte zu Anbeginn wohl ihren Ursprung in einer uralten Sehnsucht des Menschen: die Welt zu untersuchen, die ihn umgibt, sich Rechenschaft abzulegen, wie sie funktioniert, die Werkzeuge zu verwenden, die sie ihm bietet. Dieser Ursprung wird gewöhnlich nur unzulänglich erfasst, wenn es heißt, sein Auslöser sei die dem Menschen eigene Neugier gewesen - nicht gerade eine der edelsten Leidenschaften der Menschheit. In unserer Zeit ist aus diesem Impuls etwas völlig anderes geworden: der Versuch, das Schicksal des Menschen zu ändern, abzuschaffen, was Millionen von Jahren hervorgebracht haben, die Schöpfung nachzubessern. Dieser Versuch wird misslingen.
Aus: Erwin Chargaff: Ernste Fragen. Essays. 288 Seiten. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2000. Wir danken dem Verlag für die Abdruckgenehmigung.
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