Gegen Notenwahn und Alltags-korruptness

Universität An den Unis werden die falschen Prioritäten gesetzt, wichtige Kompetenzen kommen zu kurz. Die Romanistin Eva Erdmann hätte da einen Vorschlag
Ausgabe 30/2013

Am Semesterende beginnt für die Dozenten und ihre Sekretäre und Sekretärinnen die Hochsaison der administrativen Verrechnung von Leistungen der Studierenden: Klausuren korrigieren, Hausarbeiten und Essays lesen, Referate und Protokolle bewerten. Das ist gewöhnlich eine erfreuliche Arbeit, weil erstaunlich viel Neues zu erfahren ist. Nicht nur darüber, was im Laufe des Semesters vermutlich zu wenig ausführlich, falsch oder gar nicht erklärt wurde, sondern auch, was gehört, gemacht, umgesetzt, entdeckt wurde. Interessant auch, welch unterschiedliche Lesarten ein und dasselbe Material – Texte, Filme, Kulturtheorien – erlaubt.

Obwohl das Eintragen von ECTS-Punkten, das Verwalten von Teilnehmerlisten und das Stempeln von Scheinen nicht zu den genuinen Tätigkeiten des wissenschaftlichen Personals gehören sollte, muss in der Bologna-Universität eben auch das erledigt werden. Je nach Universität, Fach und Bürokratie – Provinz- oder Massenuni, Nischen- oder Großfächer, moderne oder herkömmliche Papierverwaltung – ist der Aufwand verschieden hoch. Das Spektrum reicht von lästig bis spannend: Manchmal muss man die zunehmend einfach reinkopierten Textblöcke in einer Arbeit aufspüren; manchmal liest man welche, die die Eigenständigkeit ernst nehmen.

Fehlendes Gleichgewicht

Allerdings ist eine effizientere Verteilung der beiden unverzichtbaren Aufgaben denkbar: der Betreuung der Leistungen, die im Vorfeld stattfinden, und die Abrechnung jener, die am Ende stehen – also der Hausarbeiten und Prüfungen. Da es den Anschein hat, dass wir mit der Bologna-Uni auskommen müssen, kein Aussitzen und Warten auf Reformen der Reform hilft, ist ein rasches Nachjustieren überfällig. Das fehlende Gleichgewicht von Betreuung und Abrechnung muss neu eingerichtet werden.

Es ist offensichtlich, dass der Notenwahnsinn das gesamte Semester durchzieht, während Betreuung und Austausch über inhaltliche Vorüberlegungen zunächst einmal nicht vorgesehen sind. Dieser Teil des Studiums ist es jedoch, der unmittelbar die Qualität der Leistungen steigert. Bei der Einführung der Bologna-Strukturen wurde er schlicht übersehen.

Eine Notenverschlankung kann sofort Abhilfe schaffen, sie würde im Handumdrehen den Ausbau der Betreuung ermöglichen. Es stellt sich heraus, dass die aus dem deutschen Schulsystem übernommene Notenskala von Eins bis Vier, inklusive differenzierter Zwischennoten, an Universitäten, die in Europa kompatibel sein wollen, ungeeignet ist. Angesichts fehlender Standards wird das Ausschöpfen der Skala geradezu individuell gehandhabt. Da spielt es auch keine Rolle, wenn die Zahlen – hinter denen sich wiedererkennbare Beurteilungen von „sehr gut“ bis „befriedigend“ verbergen – in Buchstaben reimportiert werden und von A bis F beurteilt wird, um 10 Prozent der Besten zu unterscheiden von denjenigen Studierenden, denen von einer Fortsetzung des Studiums abzuraten wäre. Diesem Zwecke ebenso dienlich wäre eine Einteilung der Arbeiten in drei Kategorien: eins, zwei und nicht bestanden.

Obwohl es unbestritten Leistungen gibt, die keine andere als die Bestnote verdient haben, hat die Eins als Auszeichnung ihre Wirkung verloren. Am dringendsten müssten diejenigen, die sich dem Druck der Noten am wenigstens entziehen können, davon überzeugt werden, dass eine geringere Aufmerksamkeit darauf mehr Kompetenzen und ihre Einübung befördert: die Studierenden. Denn derzeit verändert sich die Einstellung zu Noten in fast allen Kontexten, in denen sie vermeintlich unerlässlich sind.

Dysfunktional und veraltet ist der Notenwahnsinn deshalb, da andernorts Entscheidungsträger zunehmend davon abrücken, ein Praktikum, einen Master-Platz oder eine Anstellung von zuweilen willkürlich zustande gekommenen Zeugnissen und Zertifikaten abhängig zu machen. Die Einführung von Motivationsschreiben und persönlichen Gesprächen dient der Ergänzung der reinen Aktenlage. In weitblickenden Unternehmen ziehen Personalchefs heute Bewerber und Bewerberinnen vor, die eine geringere Hartnäckigkeit darin investieren, ein Klassenfeld, ein Seminar oder gleich den ganzen Jahrgang zu überragen, sondern außerhalb vorgegebener fremdbestimmter Leistungserwartungen selbstständige Tätigkeiten erwägen. Auch wenn diese Qualität an keiner Stelle honoriert und nicht unmittelbar als Lob rückerstattet wird. Wo sollte auch sonst Innovation herkommen?

Zum anderen hat die aktuelle Relativierung von Qualifikationen als Zahlen und Urkunden in der Arbeitswelt damit zu tun, dass durch die Noteninflation im Bereich „sehr gut“ und „gut“, welche Hand in Hand geht mit den „summa cum laude“-Skandalen, den sogenannten Spitzenkandidaten der Beigeschmack der Unredlichkeit anhaftet.

Komische Züge

Das ist gegenüber den tatsächlich herausragenden Studierenden ungerecht, aber nicht zu ändern. Fast erweist man Studierenden mit einer glatten Eins keinen Gefallen mehr, seit jene grassierende korruptness nicht mehr nur als Gerücht getuschelt, sondern öffentlich dokumentiert ist. Da die Vergleichbarkeit von Zeugnissen und Noten weder uniweit noch deutschlandweit funktioniert, wie könnte sie europaweit, geschweige denn international gültig sein?

Die Korruption geht über die nackte Notengebung natürlich weit hinaus, die einschlägigen Praktiken der Sekundärtugenden wie ihre Strategien sind hinreichend transparent. Manch unverzichtbares Zertifikat wird dann eben von der Großtante zweiten Grades väterlicherseits ausgestellt. Der alltägliche korrupte Leistungswille fällt manchmal dabei gar nicht mehr auf. Berufstätige Mütter schreiben, ohne mit der Wimper zu zucken, in bundesweit gelesenen Magazinen flockig humoristische Artikel darüber, wie sie über den schulischen Facharbeiten ihrer Söhne schwitzen. Man fragt sich, wer da schmunzeln soll und vor allem, was genau daran lustig sein soll. Und man darf hoffen, dass es Leser gibt, deren Humorgrenze bei der Lektüre solcher Unterhaltungsartikel erst gar nicht erreicht wird.

Und wenn es keine korrupte Energie ist, so sind es Missverständnisse, die eine kooperative Zusammenarbeit an der Uni blockieren. Als vor Langem eine Beschwerde über ein „befriedigend“ für eine Hausarbeit eintraf, eine im Juristenjargon verfasste Nachricht, versendet mit der höchsten Lieferpriorität, drei Ausrufezeichen, rot, mit der Aufforderung, diese umgehend nach oben zu korrigieren, da sie schließlich in die Endnote einginge – da wurde mir klar, dass man mich für eine Behörde hielt, während ich dabei war, über poetische Semantiken und ihre Uneindeutigkeiten zu sprechen. Eine solche gegenseitige Fehleinschätzung trägt zuweilen komische Züge.

Letztlich traurig bleibt dabei die Botschaft, dass die inhaltliche Einschätzung faktisch niemanden interessiert: keine Studierenden, kein Prüfungsamt, keinen Fachbereich, keine der nicht existierenden Abteilungen für Qualitätskontrolle in der Lehre. Solange studentische Evaluationen nach wie vor mit launigen Kommentaren durchsät sind, über schöne Stimmen und die Ablehnung von Pünktlichkeit in Deutschland, wird niemand sie ernst nehmen, und sie wandern gesammelt in den Müll. In dieser Beschwerde-Episode war reine Vollstreckung im Sinne langfristig gurchgeplanter Lebensläufe gefragt. Wozu sollte die Dozentin dann überhaupt im Seminar erscheinen?

Wenn „Bildung für alle“ nicht zu einer Floskel verkommen soll, müssen nicht nur die Noten in ihrem Hoheitsrecht sofort eingeschränkt werden, es müssen auch die Vandalen bitte draußen bleiben. Damit sind nun nicht diejenigen gemeint, die mit unverwüstlichen Sprayprodukten Sätze wie „Uni ist schei…“ auf altehrwürdige Mauern schreiben. Die Zerstörungswut des Bildungsvandalismus geht diskreter zu Werk. Er zeigt sich in der Auffassung von Uni als Noten-, Abschluss- und Titel-Abholservice, in dem die Bedienmentalität des „Her damit“ regiert, welche die bürgerlich-konsumistische Mitte als Lebensform verinnerlicht hat. Den Bildungsvandalismus kann man auch kaum als uneinsichtige Fehltritte oder auch nur philologische Dusseligkeit in der Zitiertechnik einzelner Politiker und Politikerinnen abtun. Noch als abstrakt institutionelle corruptness von absichtlich intransparenten Strukturen.

Die Bildungsvandalen bedienen sich auf jedweder Etage ungeniert an Materialien, um daraus Resultate zu kollagieren. Eine Praxis, die damit beginnt, an erster Stelle nach komplett gescannten Readern und Folien zu fragen, bevor jede Seminararbeit begonnen hat. Aber sind nicht bereits Studierende, die das Anordnen, das Bleibenlassen durch Delegieren, die Beschwerde und das Befehlen von klein auf gelernt haben, ohnehin immer schon fit für einen kapitalistischen Arbeitsmarkt, auf dem im Wesentlichen Durchlauf produziert wird, kurze rasche Produkte, ob Bücher, ob Waren, ob Kultur, Hauptsache schnell, Hauptsache rentabel? Wozu schleppen diese Immer-schon-fertig-Profis sich gelangweilt durch ein gesamtes Studium?

Wenn Exzellenz jemals in der Lehre ankommen soll, dann muss das Hauen und Stechen um Noten, das von Studierenden praktiziert, von Prüfungsämtern sekundiert und von Gesellschaft und Wirtschaft suggeriert wird, ein Ende haben, und die Administration muss erst einmal zurücktreten. Nur so können die notwendigen Lehrbedingungen aufgebaut werden, die in der Einführung der Bologna-Universität vergessen wurden. Die Grundlage einer kooperativen Arbeit mit Studierenden zu schaffen bedeutet, die Betreuung von Leistungen ihrem Umfang entsprechend zu garantieren. Verschlankung der Notengebung bewirkt eine höhere Betreuungsqualität.

Es wird Zeit, sowohl im 21. Jahrhundert anzukommen als auch die fatalen Ausrutscher akademischer Selbstbedienung nicht wiederholbar zu machen. Das Studieren sollte im Bachelor schneller gehen als im alten Magister und Staatsexamen. Und es ist ein Vorteil von Bologna, Studierende deutlicher auf zeitliche Abläufe, auf Arbeitspragmatiken und auf „employability“ zu verweisen. In der Umstellung auf „schnell, schnell“ war den Verantwortlichen aber aus dem Blick geraten, dass das Studieren sich nicht in der Beherrschung eines bürokratischen Apparats erschöpfen kann. Da war noch was dazwischen. Zwischen Einstufungstest, Immatrikulation, nächtlicher Online-Kurs-Buchung in erster oder letzter Minute, regelmäßiger Einsicht in die Leistungsübersicht, Rückmeldung und Erasmus-Bürokratie. Wir müssen es nicht Bildung nennen, wir sprechen ja nur von lesen, überlegen, diskutieren und schreiben. Es könnte aber eine Ausbildung zur Bildung sein.

Eva Erdmann unterrichtete bereits vor der Bologna- Reform in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft und in Romanistik. In der Reform sieht sie Vor- und Nachteile. Sie lehrt und forscht im In- und Ausland und lebt in München. Weitere Infos eva-erdmann.net

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