Wir alle haben schon einmal die Erfahrung gemacht, ein altes Foto anzusehen, auf dem jemand mit dem Lächeln und dem Vertrauen eines Menschen in die Kamera blickt, der weiß: das Leben wird ihm mit Güte und Großzügigkeit begegnen. Wir blicken in das lächelnde Gesicht und wissen, was er oder sie nicht weiß: Dass er in wenigen Tagen oder Wochen tot sein wird, ausgelöscht durch einen unvorhersehbaren Unfall oder eine Kriegsmaschinerie. Wir blicken auf das lächelnde Gesicht und empfinden ein ungewöhnliches Mitgefühl, sowohl aufgrund des tragischen Endes, das ihn erwartet, als auch aufgrund seiner heiteren Unkenntnis dieses Schicksals. Wir wissen, dass er nicht weiß, dass sein Lächeln und seine Hoffnung vergebens sind.
Mit einem solch tragischen Mitgefühl habe ich The Oslo Diaries angesehen, eine Dokumentation aus dem Jahr 2018 von Mor Loushy und Daniel Sivan. Der Film erinnert an die Diskussionen, die zum Osloer Abkommen von 1993 geführt haben. Er dokumentiert das Misstrauen, mit dem Palästinenser und Israelis sich einander genähert haben, und die zutiefst menschliche Art und Weise, wie die Beziehungen zwischen ihnen sich entwickelten, während sie versuchten, den blutigen, jahrhundertalten Konflikt beizulegen.
Naivität, die berührt
Mich berührte die Naivität – jene Szenen, in denen Yossi Beilin, Ron Pundak, Yair Hirschfeld, Abu Alaa (Ahmed Qurei) und selbst Yasser Arafat für einen kurzen Augenblick daran glaubten, Hass und Misstrauen könnten durch Hoffnung ersetzt werden. Ich sah, wie sie sich freuten, und wusste, was sie noch nicht wussten: dass ihre Hoffnung auf Frieden schon bald durch den Mord an einem Premierminister zerschlagen werden sollte, der von jemandem begangen wird, der an die Überlegenheit des Judentums glaubt.
Einen Augenblick lang schien die Hoffnung bereit, das Schicksal zu ändern. Am Ende schaffte sie es aber nicht. Warum wurden Hoffnung und Mut besiegt? Der Film gibt eine klare Antwort: Als die geheimen Gespräche in Oslo öffentlich wurden und damit begonnen wurde, den Kern des Abkommens umzusetzen, begannen Extremisten auf beiden Seiten damit, Terroranschläge zu verüben, um den Prozess scheitern zu lassen. Ein Mord auf der einen Seite führte zu einem weiteren Mord auf der anderen Seite. Mit dem immer größer werdenden Berg an Toten wuchs der Druck, die Opfer nicht „zu verraten“.
Es war also eine sehr spezielle Dynamik, die diese Chance auf Frieden scheitern ließ: Es war der Ruf der Toten, die von uns, den Lebenden, verlangen, sie zu rächen und die Erinnerung an sie aufrechtzuerhalten. Um zu verstehen, warum dieser Konflikt kein Ende finden kann, müssen wir die Rolle der Toten und deren Heiligkeit in diesem historischen Drama verstehen. Von allen Orten ist die Erfahrung von Hebron am repräsentativsten für die Rolle, die die Heiligkeit des Todes spielen kann.
In Hebron befindet sich das Grab Abrahams, der von Juden und Moslems gleichermaßen verehrt wird. 1929 kam es vor dem Hintergrund des einsetzenden palästinensischen Nationalismus und des Streits um die Kontrolle über die heiligen Stätten zu schweren Unruhen unter den Palästinensern. Im Verlauf einer Woche kam es im ganzen Land zu Zusammenstößen zwischen Arabern und Juden, an deren Ende 133 Juden und 110 Araber getötet worden waren.
In ihrem Buch Lords of the Land: The War Over Israel’s Settlements in the Occupied Territories, 1967-2007 weisen Idith Zertal und Akiva Eldar darauf hin, dass David Ben-Gurion die Tode dazu nutzte, die jüdische Community um sich zu scharen. 19 Jahre vor der israelischen Unabhängigkeitserklärung sagte er Folgendes: „Unser vergossenes Blut verlangt nicht Mitleid und Beistand (pity and succor), sondern nach noch mehr Kraft und Anstrengung in diesem Land.“ Die Autoren kommentieren dies wie folgt: „Die zionistische Bewegung verstand es nur allzu gut, historische Katastrophen in heroische Mythen, in Geschichten von Tapferkeit und Opfer umzuwandeln, um mit ihrer Hilfe alle auf nationale Einheit, soziale Solidarität und politische Aktion einzuschwören.“
Die Einnahme Hebrons
Nach Gründung des Staates Israel schwand die Erinnerung an das Massaker von Hebron aus dem nationalen Bewusstsein, was die Vermutung nahelegt, dass das kollektive Gedächtnis sich aussucht, welcher Toten es gedenkt und welcher nicht. Schließlich gab es neue Opfer und Helden zu betrauern, Menschen, die während des Unabhängigkeitskrieges gestorben waren. Nach dem Sechstagekrieg im Juni 1967 besetzte Israel jedoch Hebron zusammen mit dem Rest der Westbank und installierte eine Militärregierung, um das Gebiet zu verwalten. Die Einnahme Hebrons entfachte die Vorstellungskraft von Messianisten und diese ließ die Toten wiederauferstehen.
„Nach 40 Jahren historischen Schlafes“, schreiben Zertal und Eldar, „erwachte die alte Geschichte des Massakers von Hebron wieder und wurde zum wichtigsten politischen Katalysator in den Händen der jüdischen Siedler in den von Israel 1967 besetzten Gebieten.“ Während die militärischen und politischen Führer vorsichtig waren, um nur ja nicht arabische Sensibilitäten zu missachten und Aufruhr zu provozieren, überwanden die Messianisten ihren Pragmatismus und ihre Vorsicht; Hebron wurde zur Brutstätte von inbrünstig Gläubigen – eine Gemeinschaft, die eine göttliche Mission zu erfüllen hat. Aber was genau ist es, das diesen harten emotionalen Prozess, ein Extremist zu sein, am Laufen hält? Was ermöglicht es Menschen, an unnachgiebigem Nationalismus und Extremismus festzuhalten? Ein Ereignis in der Geschichte der Stadt kann in Bezug auf diese Frage vieles erklären. Die Geschichte von Sarah Nachshon zeigt, wie die Toten das Leben der Lebenden verändern können.
Sarah Nachshon gehörte zu einer kleinen Gruppe von Leuten, die sich nach dem Krieg von 1967 entschlossen, so nah wie möglich am Grab der Patriarchen, der Ruhestätten der drei jüdischen Erzväter Abraham, Isaak, Jakob und ihrer Frauen Sara, Rebekka und Lea, zu leben. In der Grabstätte befindet sich eine Moschee und seit kurzem wurde dort auch das jüdische Gebet abgehalten. Doch die Militärverwaltung weigerte sich, eine jüdische Siedlung in Hebron zu errichten, aus Angst, die Gefühle der Araber zu verletzten und die Stimmung anzuheizen. Doch Nachshon fasste den Entschluss, sich über das Verbot hinwegzusetzen, das Verteidigungsminister Moshe Dayan erlassen hatte. Sie und ihr Mann hielten am Grab eine Beschneidungsfeier für ihren neugeborenen Sohn ab – eine Handlung, die die örtliche palästinensische Bevölkerung zweifellos vor den Kopf stoßen würde.
Nachshons Geschichte wird von Chana Weisberg erzählt, auf einer Internetseite, die zur chassidischen Gruppe Chabad gehört, welche offensichtlich mit Nachshons Sache sympathisiert. Die Geschichte wird aus ihrer Perspektive erzählt, weshalb meine Interpretation sich nur nach dem richten kann, was auf der Seite zu lesen ist.
Weisberg schreibt: „Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 traten Nachshon und ihr Ehemann, der chassidische Künstler Baruch Nachshon, einer Gruppe idealistischer Aktivisten bei, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die alte jüdische Gemeinde im neuerlich befreiten Hebron neu zu begründen. Der Lubavitcher Rebbe [der in New York residierte, Anm. der Freitag] ermutigte sie und segnete sie viele Male für ihre Bemühungen. Diese Aktivsten verstanden die große Bedeutung, die es hatte, eine jüdische Präsenz in der ältesten der vier heiligen Städte zu etablieren, wo jahrhundertelang eine jüdische Gemeinde existiert hatte, bis arabische Einwohner 1929 bei einem Massaker 67 Juden töteten. Ihnen war auch klar, dass die Aufrechterhaltung einer jüdischen Gemeinde in Hebron der einzige Weg war, um einen kontinuierlichen jüdischen Zugang zum Grab der Patriarchen zu garantieren, der zweitwichtigsten Stätte des Judentums; der Zugang war Juden über 700 Jahre lang, bis 1967, von der muslimischen Verwaltung verboten worden.“
Sie gaben nicht auf
Ein Jahr nach dem Krieg schlossen sich Sarah, Baruch und ihre vier kleinen Kinder den Aktivisten an und zogen in ein in arabischem Besitz befindliches Hotel in Hebron. Später erinnerte sich Sarah Nachshon daran, wie, „,ein Vertreter der Armee kam, um sich mit unserer Gruppe zu unterhalten und uns sagte, dass wir ihm auf die Nerven gingen‘“. Gleichzeitig informierte er sie darüber, dass die Regierung einer Gruppe von sieben Familien und 15 Jeshiva-Schülern aus Angst um ihre Sicherheit erlauben wolle, auf ein Armeegelände in der Nähe der Stadt zu ziehen.
„,Sie dachten, wir würden die schrecklichen Bedingungen nicht lange aushalten – mit all unseren vier Kindern in einem Zimmer zu wohnen und uns mit allen anderen eine Küche teilen zu müssen, die einzigen Badezimmer draußen‘“, zitiert Weisberg Nachshon. „,Die Armee sah uns mit unseren kleinen Kindern und dachte sich, innerhalb weniger Wochen würden wir aufgeben und gehen. Sie dachten, dass unser Traum, in Hebron zu leben, gleich dort vor Ort sterben würde.‘“
Doch die Familien zogen nicht aus. Stattdessen kamen im Laufe der darauffolgenden drei Jahre weitere 30 Familien hinzu.
Sarah Nachshon brachte drei weitere Kinder zur Welt und wagte den angesichts der Rechtslage gefährlichen Schritt, ihre Jungen innerhalb des Grabs der Patriarchen beschneiden zu lassen – das erste Mal seit siebenhundert Jahren, dass diese Zeremonie an diesem Ort vollzogen wurde.
Weisbergs Erzählung fährt damit fort, wie Sarah Nachshon 1975 einen weiteren Jungen zur Welt brachte, dem sie den Namen Avraham Yedidya gab und der sechs Monate später an plötzlichem Kindstod starb.
„An dem schrecklichen Morgen, an dem Nachshon ihr Baby leblos in seiner Krippe fand, war ihr Mann nicht in der Stadt und sie hatte keine Möglichkeit, ihn zu erreichen. Als sie die Vorbereitungen für die Beisetzung ganz alleine traf, versuchte sie, während sie weinte und betete, sich daran zu erinnern, dass alles, was Gott tut, einen Zweck hat, auch wenn dieser uns verborgen sein mag. Plötzlich verstand sie, dass ihr verlorener Sohn eine traurige, aber entscheidende Rolle beim Wiederaufbau der Stadt der Patriarchen spielen sollte. ,Ich entschied‘, erinnert sie sich später, ,ihn in Hebron zu beerdigen. Unser Avraham Yedidya sollte der erste Jude sein, der seit der Beerdigung der 67 Juden, die 1929 ermordet worden waren, auf dem alten jüdischen Friedhof von Hebron bestattet wird.‘“
Da sie ahnten, dass die Siedler versuchen könnten, eine Beerdigung auf dem Friedhof durchzuführen, und da sie die Reaktion fürchteten, die dies bei den einheimischen Palästinensern auslösen könnte, hatte die israelische Armee Straßensperren errichtet. Als sie Avrahams Beerdigungszug stoppten, während dieser aus Kiryat Arba kam, stieg Sarah Nachshon aus ihrem Wagen und trat ihnen mit ihrem in ein Laken gewickelten Kind im Arm entgegen: „,Sucht ihr nach mir? Sucht ihr mein Kind? Mein Name ist Sarah Nachshon. Hier ist mein Baby, in meinen Armen. Wenn ihr uns nicht zum Friedhof fahren lasst, dann gehen wir zu Fuß …‘“
Weisberg fährt fort: „Die Soldaten, die nicht in der Lage waren, diese junge Mutter zurückzuweisen, die um ihr Kind trauerte, funkten ihre Vorgesetzten an: ,Wenn ihr diese Frau aufhalten wollt, kommt her und macht das selbst!‘ Einer der Soldaten stieg aus seinem Wagen und bat Nachshon mit Tränen in den Augen, ,Frau Nachshon, es ist zu weit, um zu Fuß zu gehen! Bitte lassen Sie mich Sie zum Jüdischen Friedhof fahren.‘“
All die symbolischen Ebenen
Weisberg zufolge war Sarah Nachshon selbst drei Jahrzehnte später noch zu Tränen gerührt, als sie sich an die Hunderte von Menschen erinnerte, die mit ihr an jenem Abend ihren Sohn zu Grabe trugen. „Ich sagte ihnen, ,Es war ein harter Tag, aber da ist etwas, das ich euch sagen muss. Ich, Sarah, halte mein totes Baby, Avraham, in meinen Armen. Und so wie Avraham unser Vater nach Hebron gekommen ist, um seine Sarah zu beerdigen, bin ich hierhergekommen, um meinen Abraham zu beerdigen. In diesem Augenblick weiß ich, warum Gott mir dieses unersetzliche Geschenk nur für sechs Monate gegeben hat: um den alten Jüdischen Friedhof von Hebron wieder zu öffnen.‘“
Diese Episode spielte eine bedeutende Rolle bei der Entstehung einer der heute extremsten jüdischen Siedlungen im Westjordanland, eine Analyse ist daher lohnenswert.
Das Ereignis hat viele symbolische Ebenen. Als erstes sollten wir auf die Bedeutung hinweisen, die der Durchführung einer brit mila (Beschneidung) an dieser historischen Grabstätte zukommt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Lebenden aus der Heiligkeit der Grabstätte der Vorväter Kraft, Sinn und einen Auftrag erhalten. Zweitens: Hebron selbst gilt als heiliger Ort, weil dort das Grab der Patriarchen liegt, wo vermutlich auch Sarah, die Matriarchin, begraben liegt. Mit anderen Worten: Es sind die Toten, die geografischen Orten ihre Heiligkeit verleihen.
Es ist ein seltsamer Umstand unsers religiösen und kulturellen Lebens, dass die Toten weiter unter uns leben. Bei einigen religiösen Gruppen (wie etwa den Buddhisten) sind die Toten Vorfahren, die zuhause in der eigenen Wohnung verehrt werden. Diese Ahnen haben ein Auge auf die Lebenden und beschützen sie. In anderen Kulturen – insbesondere in monotheistischen – verleihen die Toten bestimmten Gebäuden, Zeiten, Objekten und Orten Heiligkeit. Die Christen kultivierten den Märtyrerkult in einer sehr elaborierten Art und Weise, da Jesus selbst ein Märtyrer ist. Wie Christen wurden auch Juden verfolgt und hatten unter ihre eigenen Märtyrer.
Da sie kein geographisches oder architektonisches Zentrum hatten, neigten Juden eher dazu, die Toten in der Erinnerung zu sakralisieren als durch physische Objekte (in Form von Reliquien). Grabstätten aber, die in verschiedenen Kulturen im gesamten Mittelmeerraum als Pilgerorte dienten, gaben den Toten räumliche und ortsgebundene Heiligkeit.
Die dritte historische Ebene ist diese: Sarah Nachshon, wie die Siedlerbewegung im Allgemeinen, erinnerte sich lebhaft an das Massaker von 1929, hielt die Erinnerung daran wach und verlieh denjenigen, die im Kampf für die Nation ums Leben kamen, bleibende Präsenz. Idith Zertal und Akiva Eldar, die das Buch Lords of the Land publizierten, erklären, dass die Massaker von Hebron im Bewusstsein der Siedler weitaus stärker präsent sind als in dem der israelischen Gesamtbevölkerung, sie seien sozusagen prägend für ein subnationales Bewusstsein gewesen. Warum? Weil die Toten oft mobilisiert werden, um politische Ziele zu rechtfertigen und den Lebenden das Gefühl zu geben, eine Mission zu haben.
Ein Tod bekommt Sinn

Foto: imago images / UPI Photo
Ist erst einmal ein politisches oder theologisches Ziel bestimmt, werden die Toten zu einem Vehikel, um dieses Anliegen mit Bedeutung aufzuladen. In Nachshons Augen starb ihr Baby, um den Jüdischen Friedhof in Hebron wiederzueröffnen. Seinem Tod wird ein Sinn zugeschrieben, und ist dieser Sinn erst einmal etabliert, wird er heilig. Der Tod garantiert menschlichem Handeln Heiligkeit. Zum Beispiel „rufen“ die Toten die Lebenden „dazu auf“, das Land zu verteidigen, das durch die Toten, die dort begraben liegenm, heilig wird.
Viertens: Das tote Baby, das die Armee dazu bringt, vor der Gruppe von messianischen Juden zu kapitulieren, erweitert die Liste der Toten. Sarahs Kind, Avraham, erhöht nach seinem Tod die Heiligkeit des Ortes, an dem es beerdigt wird. Sobald es einen Jüdischen Friedhof gibt, wird es für Juden unmöglich, den Ort zu verlassen, denn der Boden, auf dem Juden begraben liegen, wird heilig. Indem sie eine direkte Linie zwischen dem biblischen Symbolismus und dem gegenwärtigen nationalen Kampf zieht, gibt Sarah ihr Baby hin wie ein Opfer.
Wir haben in dieser Geschichte also drei Fälle von heiligem Tode, die sich gegenseitig überlagern. Die Matriarchin Sarah, die jüdischen Opfer von 1929 und Sarah Nachshons Baby – alle drei werden mobilisiert, um die Heiligkeit des Ortes, der Nation und der Religion auf einmal heraufzubeschwören. Die Armee hat ebenfalls ihren Anteil an diesem kollektiven Drama, durch den Symbolismus der Heiligkeit der Toten und des Landes, in dem sie begraben liegen. Sarahs Name und der ihres Sohnes sind dieselben wie die der Patriarchen. Diese Namen rufen Erinnerungen an nationale und religiöse Opfer und Martyrologien wach. Sobald das Baby gestorben war, war es, als sei es für etwas gestorben – in diesem Fall für das Volk und die Nation. Wenn ein Baby für die Nation stirbt, dann kann die Nation (d. h. die Armee) nicht seine Beerdigung verweigern. Das Wort „extremistisch“ ist daher falsch: Was einen Extremisten kennzeichnet, ist nicht, dass er am Ende eines Kontinuums steht, sondern eher, dass er oder sie die Fähigkeit besitzt, Dinge in unantastbare heilige Entitäten zu verwandeln und willens zu sein, zur Verteidigung solcher Heiligkeit zu sterben.
Baruch Goldstein, wie viele Märtyrer vieler Religionen, ist ein gutes Beispiel für diese Dynamik. Es ist kein Zufall, dass er in der israelischen Siedlung Kirjat Arba am Rande Hebrons lebte.
Goldstein, ein 37-jähriger, in den USA geborener Arzt, verkörperte einen bedeutenden Teil der Siedler-Bewegung und spielte beim Scheitern des Oslo-Friedensprozesses eine wichtige Rolle. Als afirsch angekommener Einwanderer lebte er in Hebron, wo er am 25. Februar 1994 eine Tat beging, die, zumindest heute, eher US-amerikanisch als israelisch erscheinen mag, auch wenn sie den Kern des israelisch-palästinensischen Konflikts berührte: Er schoss auf eine Gruppe von Palästinensern, die sich in der Ibrahimi-Moschee zum Gebet versammelt hatte, wie Muslime das Grab der Patriarchen nennen, das in separate Gebetsbereiche für Juden und Muslime aufgeteilt ist. Goldstein wartete, bis die Betenden ihre Gesichter zur Erde neigten und schoss willkürlich auf die niedergebeugten Körper. Die folgenden Ausschreitungen kosteten 29 Menschen das Leben, außerdem Goldstein selbst, der von Gläubigen, die überlebt hatten, totgeschlagen wurde. 125 Menschen wurden verletzt. Auch wenn damals Behauptungen die Runde machten, Goldstein sei verrückt gewesen, gibt es dafür weder Indizien noch Beweise.
Zu Goldsteins Beerdigung kamen jedenfalls über 1.000 Leute. Prominente Rabbiner und Führungsfiguren der Siedlerbewegung priesen ihn. Der oberste Rabbi von Hebron und Kiryat Arba, Dov Lior, sagte über ihn: „[Er] war voller Liebe für seine Mitmenschen. Er hat sich aufgeopfert, um anderen zu helfen.“ Rabbi Lior sagte auch, er sei „heiliger als die Märtyrer des Holocaust“, und unterstellte damit, Goldsteins Tod sei ein Akt von Martyrium gewesen. Die Tageszeitung Yedioth Ahronoth berichtete, dass während man auf die Ankunft wartete, aus der Menge Kommentare zu hören gewesen seien, wie „Was für ein Held!“, „Ein gerechter Mensch!“ und „Er hat es im Namen von uns allen getan.“
Das Beispiel Baruch Goldstein
Als junger Mann war Goldstein Mitglied der Jewish Defense League (JDL) gewesen und sympathisierte mit der israelischen Kach-Partei. 1990, als der Gründer sowohl der JDL als auch der Kach-Partei, Rabbi Meir Kahane, in New York von einem Araber ermordet worden war, schwor Goldstein, ihn zu rächen. Stattdessen wurde 1993 das Oslo-Abkommen unterzeichnet, was für ihn gleichbedeutend damit gewesen sein muss, dass Israel den Ruf der Toten auslöscht. Wahrscheinlich wurde das Massaker aber dadurch ausgelöst, dass sich im Februar 1994 in Israel und den besetzen Gebieten eine Rekordzahl terroristischer Angriffe ereignete: Ilan Sudri, Shai Shuker, Naftali Sahar, Noam Cohen, Yuval Golan – sie alle wurden jeweils bei Angriffen getötet.
Ich würde die Hypothese aufstellen, dass der Terrorangriff, der Goldstein letztlich zu seiner Tat veranlasste, der Mord an Zipora Sasson am 19. Februar war. Sasson, eine 34-jährige Bewohnerin der Siedlung Ariel, hatte zwei Töchter und war im fünften Monat schwanger. Mit ihr wurde nicht nur eine jüdische Mutter getötet, sondern auch ein jüdischer Fötus, was für einen gläubigen Juden wahrscheinlich das ganze Konzept des jüdischen Leben an sich symbolisiert.
Der Historiker Benjamin Kedar, der einige von Goldsteins Schriften analysiert hat, kam zu dem Schluss, dass seine Absicht, den Massenmord zu begehen, darin bestand, die Ankunft des Messias zu beschleunigen. Ironischerweise nahm Goldsteins Verteidigung jüdischen Lebens und des Messias die Form des Massenmordes und der Selbstaufopferung an.
Die Palästinenser reagierten mit Gewalt. In der gesamten Westbank und im Gaza-Streifen kam es zu Unruhen, die das Leben von 26 Palästinensern und neun Israelis kosteten. Der Aufstand breitete sich bis zur Jerusalemer Al-Aqsa-Moschee aus. Auf dem Tempelberg warfen Palästinenser Steine auf Polizisten und Betende an der unteren wetlichen Mauer. Wut und Rufe nach Vergeltung brodelte in der arabischen Welt. Im April 1994 antworteten die „Iz al-Din al-Qassam“-Brigaden der Hamas auf den Ruf ihrer eigenen Toten und verübten zwei Selbstmordanschläge, ausdrücklich als Rache für Goldsteins Massenmord. Palästinenser begannen, mitten in Tel Aviv und Jerusalem Terrorangriffe zu verüben. Jeder Terrorangriff forderte Vergeltung. Eine extremistische Tat provozierte die nächste, denn in beiden Lagern forderten die Toten weitere Tote.
Wegen genau dieser Logik forderte das Siedler-Lager, unter Führung des damaligen Oppositionsführers Benjamin Netanjahu, ein Ende des Oslo-Prozesses und brandmarkte Jitzchak Rabin als Verräter. Plakate tauchten auf, auf denen Rabin in der Uniform der SS zu sehen war. In den Augen der Siedler musste er sowohl für diejenigen bezahlen, die getötet worden waren, als auch für diejenigen, die noch sterben mussten. Der Mord an Rabin sollte dem Friedensprozess den Todesstoß versetzten.
Wie die Dokumentation The Oslo Diaries deutlich machen, lag am Ende etwas Mysteriöses und zugleich Unaufhaltsames in der Unfähigkeit beider Seiten, den Konflikt zu überwinden. Und tatsächlich hat die Tatsache, dass der Konflikt kein Ende finden kann, etwas Mysteriöses an sich. Ich glaube, dass die Lösung des Geheimnisses im Ruf der Toten liegt. Die Lebenden können nicht von ihren Toten lassen, weil die Toten heilig sind.
Für das Gemeinwohl
In Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1915) bestand die einflussreichste Idee Émile Durkheims darin, dass ein Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit im Grunde die Wurzel der Religion darstellt, da religiöse Gefühle (das heißt Ehrfurcht, Unterwerfung unter eine höhere Macht, ein Gefühl von Heiligem und Profanem) in der Bewunderung und der Angst gründen, die der Einzelne in der Anwesenheit des Kollektivs empfindet. Für Durkheim ist eine Nation wie ein Gott: Beides sind Vorstellungen, die dadurch zu etwas Heiligem werden, dass sie die Gruppe repräsentieren. Für Durkheim verleiht die Heiligkeit, die Objekten oder Konzepten wie dem der Nation anhaftet, eine ungeheure Macht über Menschen. Sie zwingen sie, auf eine bestimmte Art zu handeln.
Durkheim erwähnt nicht speziell die Rolle der Toten, doch ihnen kommt eine entscheidende Funktion dabei zu, die Gruppe und das Land zu weihen, in dem sie begraben liegen. Gruppen werden durch ihre Fähigkeit konstituiert und aufrechterhalten, Menschen dazu zu bewegen, für sie zu sterben. Dabei handelt es sich um ein religiöses Phänomen, das aber auch eine Basis für Nationalismus bildet. Nationalismus und Religion haben daher große Affinitäten. Ein Mechanismus, der Nationalismus und Religion verbindet, besteht in dem, was die Wissenschaftler Carolyn Marvin und Agnieszka Soltysik Monnet „Selbstaufopferung“ oder „Opferbereitschaft“ nennen – die Bereitschaft, für das Kollektiv zu sterben.
Soltysik Monnet zufolge kommen selbst moderne Nationalstaaten, die sich als durch und durch säkulare und legale Entitäten definieren, häufig nicht ohne Opferbereitschaft für das Gemeinwohl oder die Gruppe aus und inspirieren zu dieser. Die Bereitschaft zu sterben wird von religiösen Gruppen oder von Nationen als im militärischen Sinne Akt von Tapferkeit und als patriotischer Heroismus definiert, weil sie für den Fortbestand der Gruppe von grundlegender Bedeutung ist. In derselben Weise behaupten Carolyn Marvin und David W. Ingle in ihrem Buch Blood Sacrifice and the Nation, dass eine Nation ohne Selbstopfer nicht in der Lage sei, sich zu verteidigen und dies auch gar nicht beabsichtige. Ihrer Meinung nach wird eine Nation, die ihre Mitglieder nicht dazu inspirieren kann, ihr Leben zu geben, unweigerlich in sich gegenüberstehende Gruppen zerfallen. Wie sie weiter und bestechend argumentieren, besteht eines der rätselhaftesten Paradoxa nationaler Identität darin, dass dadurch gestärkt wird, dass Menschen in ihrem Namen ihr Leben verlieren.
In der Tat ist dies wahrscheinlich der Grund dafür, dass die meisten Nationen ihre Ursprünge auf Gründungskriege zurückführen; in Israel ist es der Unabhängigkeitskrieg, in Deutschland das Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871, in den USA der Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten. Kriege stehen im Zentrum der Geburt von Nationen, denn sie sorgen für ein intensives Gruppengefühl – eine Gruppe gegen die andere – und weil sie in der Tat Momente von Selbstaufopferung darstellen, die die Lebenden zwingen, den von den Toten gestellten Auftrag zu erfüllen.
Heroismus und Tod

Foto: Menahem Kahana/AFP/Getty Images
Nationen strukturieren ihre Erinnerungen um die Toten und erklären Selbstaufopferung zu etwas Heiligem. Zum Beispiel, wie Marvin und Ingle es ausdrücken, „half“ der Amerikanische Bürgerkrieg, „ein Gefühl von nationaler Identität zu schaffen“, indem er ein „System nationaler Militärfriedhöfe ins Leben rief“. Bis zum Bürgerkrieg waren die Leichname gefallener US-amerikanischer Soldaten nicht systematisch von den Schlachtfeldern geholt worden und waren auch nicht Gegenstand besonderer Verehrung. 1862 entschied die US-Regierung zum ersten Mal, dass besondere Friedhöfe errichtet werden sollten, um diejenigen zu bestatten, die ihr Leben für die Verteidigung der Republik verloren hatten. So wurde ein ganzes Netzwerk aus heiligen nationalen Orten geschaffen.“ Diese Friedhöfe wurden zu einem symbolischen Mittel, um die Union zu einen. In Israel, wie in anderen Ländern auch, ist das Gründungsereignis der Unabhängigkeitskrieg, der sowohl als Sieg als auch als Akt der Aufopferung erzählt wird; der Unabhängigkeitskrieg und andere Kriege haben unweigerlich Tote zur Folge, derer gedacht werden muss und deren Opfer geehrt werden müssen.
Auch in Israel sind Heroismus und Tod unauflöslich miteinander verwoben und definieren die nationale Identität. Wie Idith Zertal in ihrem Buch Israel’s Holocaust and the Politics of Nationhood von 2005 sehr gut gezeigt hat, war die Schoa ein für das israelische Nationalbewusstsein konstitutives Ereignis. Israel als ein Kollektiv hatte nun zwei Kategorien von Toten zu verehren: die, die in der Schoah gestorben waren, und diejenigen, die während der Gründung des Staates ihr Leben ließen – wobei beides dich gegenseitig rechtfertigte, antizipierte und spiegelte. Deshalb wurde der Totenkult für die israelische Identität so wesentlich. Lassen Sie mich zwei Beispiele anführen.
Das erste ist der Mythos von Joseph Trumpeldor, der von der zionistischen Rechten wie Linken als Held verehrt wird. An den Umständen seines Todes war für einen Mann der Armee nichts Ungewöhnliches: Er wurde 1920 von einer Gruppe von Arabern, die die jüdische Siedlung Tel Hai belagerten, in einem Hinterhalt getötet. Was Trumpeldor, der einer von acht Juden war, die in dem Gefecht ums Leben kamen, zum Helden machte, waren seine letzten Worte (deren Glaubwürdigkeit als gesichert gelten darf): „Tov lamut be’ad artzeinu“ – „Es ist gut, für unser Land zu sterben.“
Mit diesen Worten bejahte er seinen Tod und seine Selbstaufopferung für die Gruppe (die Nation). Die Bewegung des Revisionistischen Zionismus nannte ihre Jugendorganisation (ein Vorgänger der heutigen Likud-Partei Netanjahus) Betar, ein Akronym für „Hebräischer Jugendbund Josef Trumpeldor“, während die linken Bewegungen Trumpeldor als einen Verteidiger der Kibbuze erinnern und Denkmäler in seinem Namen errichten. Das Josef-Trumpeldor-Arbeits- und Verteidigungsbataillon (Gdud Ha’avoda) wurde nach seinem Tod gegründet und gründete mehrere Kibbuze. Die nahegelegene Stadt Kiryat Shmona („Stadt der Acht“) ist nach Trumpeldor und den sieben Anderen benannt, die bei der Verteidigung von Tel Hai starben. Es war möglich, dass eine Person zum Helden von zwei entgegengesetzten zionistischen Fraktionen wird, weil Opferbereitschaft für beide ein fundamentales Prinzip darstellte, das der Nation und der israelischen Identität zugrunde liegt.
Der zweite, nicht weniger starke Mythos von Selbstaufopferung und Opferbereitschaft ist der von Masada. Er wurde von dem Anthropologen Yael Zerubavel wie auch von dem Soziologen Nachman Ben-Yehuda hervorragend analysiert. Nachdem die Geschichte der Festung Masada – in der die Juden, die sich auf den Berg geflüchtet haben, sich lieber das Leben nehmen als sich den Römern zu ergeben – lange als obskure Episode in der Frühgeschichte des Judentums ignoriert worden und aus dessen kollektivem Gedächtnis verschwunden war, wurde sie durch den Zionismus widerbelebt. Während das jüdische Recht den Selbstmord streng verbietet, wurde er im Falle von Masada akzeptabel, weil er hier als Verkörperung eines nationalen Motivs verstanden wurde – als ein Tod, der die künftigen Tode für die künftige Nation antizipierte und vorbereitete. Für die zionistischen Pioniere im vorstaatlichen Palästina repräsentierte Masada ein hochsymbolisches Ereignis, das in den Worten von Zerubavel „das Wesen des authentischen Nationalgeistes einfing und half, ihre eigene historische Mission als die der Nachfolger der Hebräer des Altertums zu bestimmen“. Masada wurde zum exemplarischen Symbol der Selbstaufopferung.
Das Masada-Narrativ
Zerubavel führte vor 30 Jahren Interviews mit jungen Israelis und fand heraus, dass das historische Narrativ von Masada sich immer noch großer Beliebtheit erfreute. Die Schüler und Erwachsenen, die sie interviewte, wiederholten immer wieder, die Leute von Masada hätten „bis zum bitteren Ende“, „bis zum letzten Atemzug“, „bis zum letzten Blutstropfen“ gekämpft oder seien „auf dem Altar des Vaterlandes gestorben“, wenn sie auf die symbolische Botschaft anspielten, die von Masada ausgeht. Ihr zufolge geht es beim Masada-Narrativ meistens um die Glorifizierung von Leuten, die mit ihrer Waffe in der Hand gestorben sind, und dass es dieses Motiv ist, welches letztlich als Kern der ideologischen Botschaft dieses Narrativs sowie israelischer Identität dient.
Das liegt daran, dass nationale Einheit immer auf der Basis konstituiert wird, dass jemand unfreiwillig zum Opfer wird oder sich freiwillig für die Sache aufopfert. In derselben Weise wie Nationen ihre Geschichte in Form von Gründungsmomenten kollektiver Opfer betrachten bzw. darstellen, basieren Loyalität und Hingabe an die Nation auf einem Sinn für die fortdauernde Anrufung von und Identifizierung mit den Opfern, die die Gründung der Nation möglich gemacht haben. Marvin und Ingle gehen mit ihrer These noch weiter und behaupten, nur bewusste Selbstaufopferung könne ein Gefühl von nationaler Erneuerung erzeugen.
Lassen Sie mich die folgende Hypothese aufstellen: Die Siedlungsbewegung schafft ein Gefühl von nationaler Erneuerung, indem sie die Opferbereitschaft zum zentralen Gegenstand ihrer Identität erhebt. Zweifelsohne sind Opfer an das Land, an die Menschen und an Gott entscheidende Komponenten der jüdischen Religion und selbst des Zionismus, aber die Siedlungsbewegung macht explizit, was im Zionismus latent ist, verbindet widerstreitende Stränge des Zionismus zu einer Einheit und bringt nationalistische und messianistische Ziele in perfekte Harmonie zueinander. Es sind die Toten, die schrittweise die besetzten Gebiete in das Bewusstsein gewöhnlicher Israelis integriert haben. Was letztere verpflichtet, die Toten zu ehren.
Extremisten sind in der Lage, Objekte, Menschen und Taten zu sakralisieren, Dinge über menschliche Gesetzmäßigkeiten zu erheben, sie so offensichtlich über menschliche Bedürfnisse zu stellen, dass die heiligen Dinge im Gegenzug gegen die Menschen verteidigt werden müssen. Nicht weil jemand ein Extremist ist, sakralisiert er die Toten und das Land, sondern eher im Gegenteil: Wenn die Toten und das Land sakralisiert werden, schafft und generiert dies Armeen von Extremisten.
Friedhof und Geschichtsunterricht
Ein Land, das seit seiner Gründung 15 militärische Konflikte mitgemacht hat, im Falle Israels 15 militärische Konflikte in weniger als 70 Jahren, kann gar nicht anders, als gegenüber seinen Toten eine ganz besondere Schuld zu empfinden und über eine spezielle Fähigkeit zu verfügen, diese Schuld permanent zu erneuern. Ich behaupte, dass die Sieder besser wissen als alle anderen Gruppen, wie sie die Toten für sich arbeiten lassen können, indem sie sowohl sich selbst und das Land, in dem sie begraben sind, sakralisieren. Siedler sind per Definition bereit, für die Nation zu sterben, denn sie leben mit der Bedrohung permanenter Vegeltungsakte durch die Palästinenser, weil sie deren Land besetzen. Als Siedler sind sie an der Schnittstelle zwischen Nationalismus und Messianismus verortet, die es ihnen beide ermöglichen, das Land und die Toten zu sakralisieren.
Nur ein kleines Beispiel von vielen: Auf einer Konferenz in Jerusalem in Gedenken an den Siedler und Politiker (und Extremisten) Hanan Porat, erklärte der Bildungsminister und Vorsitzende der orthodoxen, nationalreligiösen Partei Habayit Hayehudi, Naftali Bennett, wir müssten für die Annexion des Westjordanlands „unser Leben geben“. Bennett kritisierte Premierminister Benjamin Netanyahu für dessen Pläne, die illegalen Außenposten der Siedlung Amona gegen Ende des Jahres zu evakuieren. Diese beiden Forderungen zeigen die Verbindung, die ich diskutiert habe – zwischen den Toten, die unsere Opferbereitschaft fordern, und dem Festhalten an dem Land, das mit einer metaphysischen Essenz durchdrungen ist, allein durch die Tatsache, dass es die Toten aufbewahrt.
Diese besondere Art, den Nationalismus zu begreifen – zentriert um Land und die Toten – erinnert außergewöhnlich stark an Maurice Barrés‘ Variante des ethno-religiösen Nationalismus. Barrés war die führende Stimme der Anti-Dreyfusards im Frankreich des Fin de Siècle, und stand Charles Maurras nahe, einem Monarchisten mit starken antisemitischen Überzeugungen. 1902 war Barrés die Stimme des rechten französischen Nationalismus und hielt eine Ansprache über „La Terre et les Morts“, in der er behauptete, eine Nation gründe auf diesen beiden Dingen. In Barrés’ prägnanten Worten: „Um eine Nation zu schaffen, braucht man einen Friedhof und Geschichtsunterricht.“
Die Vorstellung, den Toten etwas zu schulden, stellt eines der wesentlichsten Motive der Religion und des Nationalismus dar. Der Totenkult und die Vorstellung, wir seien die Erben von Vorfahren, deren Werk noch nicht vollendet sei – und das zu vollenden wir verpflichtet seien – ist ein Schlüssel für das Verständnis der Vorstellungswelt des Ethno-Nationalismus. Israels messianische extreme Rechte erneuert ihren Patriotismus durch die Politik der Reinheit des Blutes und das Gedenken der Toten. Dies, so meine Vermutung, ist die verborgene und einflussreiche Verbindung, die Nationalismus und Fundamentalismus in Israel eingegangen sind; der Grund, aus dem so viele nicht von dem tiefen und dauerhaften Konflikt mit den Palästinensern lassen können: weil so viele eine Verbindung mit und eine Loyalität zu den Toten empfinden.
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