Lichtjahre von Lima

Katharsis Alonso Cuetos Roman "Die blaue Stunde" führt zurück in das Peru des "Leuchtenden Pfades"

Adrián Ormache ist ein makelloser Vertreter seiner Klasse. Er ist weiß, schlank, glücklich verheiratet mit einer ebenso makellosen Frau aus guter Familie, hat zwei schöne, wohl geratene Töchter, ein Haus in einem der teuersten Viertel von Lima und vertritt als Anwalt nur die so genannten besseren Kreise. Er gehört dazu. Das Foto in der Klatschpresse - es steht ihm zu, und es wundert ihn nicht, dass seines größer ausfällt als andere.

Alles, was das Bild stören könnte, hat er sorgsam aus seinem Leben verdrängt. Der vulgäre Bruder Rubén lebt in den USA und behelligt ihn zum Glück nur selten, und die Mutter, die große Dame, hat durch eine frühe Scheidung dafür gesorgt, dass auch der Vater, ein Offizier und Frauenheld, keinen Schatten auf Adrián werfen kann.

Armut und Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Krieg sind ausgeblendet aus dem Peru der Ormaches. Hie und da ein bisschen Arroganz, Eitelkeit und Neid - zugegeben. Aber das Böse, Niederträchtige, Hässliche, das findet nicht in Adriáns Welt statt.

Bis er nach dem Tode der Mutter in ihrem Nachlass einen Brief findet. Eine gewisse Vilma Agurto beschuldigt darin seinen Vater, im Krieg ihre Nichte gefoltert und vergewaltigt zu haben. "So sind sie, die Kriege", wehrt sich Adrián anfänglich noch, doch die Ereignisse und sein eigenes Bedürfnis, mehr über seinen Vater, über die bislang dunkle, verborgene Seite seiner Herkunft zu erfahren, ziehen ihn immer tiefer hinein in das andere Peru, von dem er bis dahin nichts wusste und nichts wissen wollte.

Wie in einem Road Movie nimmt der 1954 in Lima geborene Alonso Cueto den Leser mit auf Entdeckungstour durch Licht und Schatten seiner Geburtsstadt, durch die während des Krieges gegen Sendero Luminoso, den Leuchtenden Pfad, so gepeinigte Provinz Ayacucho und durch die jüngste Geschichte Perus. Adrián, der Ich-Erzähler, beginnt, einem Detektiv gleich, dem Vater nachzuspüren, den die Mutter weitgehend aus seinem Leben verbannt hatte, und der ihn einst auf dem Totenbett mit letzter Kraft bat, eine Frau in Ayacucho zu suchen. Damals tat der Sohn diesen letzten Wunsch noch ab als "die Sätze eines Mannes, der irreredete, bevor er starb."

Bei seinen Nachforschungen stößt der Anwalt "Lichtjahre entfernt" von dem Lima, das er kennt, auf die tristen Asentamientos humanos, die "menschlichen Siedlungen", in die sich im Krieg die Leute aus der Provinz flüchteten, als der Leuchtende Pfad und die Armee sie dort abwechselnd grausam massakrierten. Ihnen war damals nur geblieben, was sie auf dem Leibe trugen. Und die Angst, wieder zwischen zwei Mühlsteine zu geraten.

Adrián trifft bei seiner Spurensuche auf zwei Männer, die unter dem Kommando seines Vaters gefoltert und gemordet haben und sich wie "zwei glückliche Affen" an jene Zeiten erinnern, als sie Menschen in ein Wasserfass steckten oder ihnen die Geschlechtsteile verdrahteten. Der Anwalt entringt ihnen den Namen der Frau, die er sucht: Miriam. Der Vater hatte sich in die Gefangene verliebt, und sie war ihm entkommen, erfährt er außerdem.

Cuetos Roman Die blaue Stunde ist ein Kriminalroman, in dem die Täter schnell gefunden sind, sich die Opfer jedoch im Verborgenen halten. Aus Scham, weil sie vergessen wollen, oder weil sie es als gewiss hinnehmen, dass es ohnehin niemals Gerechtigkeit für sie geben wird.

Der Autor hat seinen Roman geschrieben, nachdem 2003 die Wahrheits- und Versöhnungskommission ihren Bericht vorgelegt hatte. 70.000 Menschen, so stellte der Bericht fest, waren in den achtziger- und neunziger Jahren von Sendero Luminoso und Armee gefoltert, verschleppt und ermordet worden. Viele Senderistas verbüßen wie ihr Gründer Abimael Guzmán eine lebenslange Haftstrafe, doch die Mörder in der Armee, die Staatsterroristen, wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Und über die Menschen, die wie Miriam zwar dem Tod entkommen konnten, aber für ihr Leben gezeichnet blieben, legte der Bericht auch keine Zahlen vor. Diesen Teil der Wahrheit beschreibt Cueto.

Je tiefer Adrían in der Vergangenheit gräbt, desto mehr wird der gleichmütige, bisweilen hochmütige Anwalt aus der Bahn geworfen. Er schläft nicht mehr, vernachlässigt seine Klienten und setzt seine Ehe aufs Spiel in seiner Besessenheit, alles über seinen Vater und diese Miriam zu erfahren. Er macht stellvertretend durch, was die peruanische Gesellschaft hätte durchmachen sollen: einen Prozess der schonungslosen Aufklärung, der zur Krise und schließlich zur Katharsis führt, die einen Neubeginn möglich macht.

Perus Oberschicht jedoch lebt immer noch, wie sie vor Cueto bereits Alfredo Bryce Echenique 1970 in seinem Roman Un Mundo para Julius (Eine Welt für Julius, 2002) beschrieben hat. Vermessen, es auch nur zu erwähnen, doch hätte diese Oberschicht Lehren aus dem Roman von Bryce gezogen, wäre eine Terrortruppe wie Sendero Luminoso erst gar nicht entstanden. Senderos Wiege stand in Ayacucho, wo das Wort Elend schon in der Kolonialzeit ein Synonym für Leben war.

Adrián belässt es nicht bei seiner Suche, er zieht persönliche Konsequenzen, so viel sei vorweggenommen. Er akzeptiert schließlich den Vater und dessen Schuld, und er tritt dessen Erbe an, wenn er daraus seine eigene Verantwortung ableitet. Er erkennt aber auch, dass zwischen Tag und Nacht immer auch die blaue Stunde liegt, und kein Mensch nur schlecht und hassenswert ist, nicht einmal der Comandante Ormache. Auch der war ein Gefangener, ein Gefangener der Umstände, die ihn stumpf gemacht hatten für Gefühle, bis er jene Miriam traf, auf deren Liebe er um ihrer Rettung willen verzichten musste.

Adrián versucht, eine Brücke zu bauen zwischen seiner Welt und der, auf die er bei seinen Recherchen gestoßen ist. Zunächst scheitert er, aber schließlich findet er doch seinen persönlichen Weg.

Die blaue Stunde ist ein moralisches Buch, doch es kommt keineswegs moralinsauer daher. Cueto versteht es, den Leser mitzunehmen auf die fieberhafte Suche, deren Protokoll Adrián niederschreibt, um die Geschichte damit zu beenden. Er stößt sie in kurzen, präzisen Sätzen aus, Stakkato, wie Schläge, Befreiungsschläge.

Alonso Cueto: Die blaue Stunde. Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Berlin, Berlin 2007, 352 S., 19,90 EUR


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