Nachschub für die Truppe

Militär Die Abschaffung der Wehrpflicht hat die Bundeswehr auf ungewohntes Terrain geschickt: in den Kampf um Freiwillige. Ein Frontbericht

Max ist 16, seine Lieblingsfächer sind Ethik, Deutsch und Physik, und er weiß schon, was er werden will. Panzergrenadier. Deshalb ist er heute mit seinem Vater ins Kreiswehr-Ersatzamt nach Adlershof gekommen, in einen nüchternen Zweckbau auf grüner Wiese, dort, wo Berlin in Wald übergeht. Jetzt steht Max an der Empfangstheke und guckt erschrocken, weil der diensthabende Unteroffizier seinen Namen nicht gleich auf der Liste findet. Max ist aufgeregt, ein hübscher Junge, würden ältere Damen sagen, blonde Haare, wache graue Augen, die gut zur Farbe seines Hemdes passen. Und so einer soll sich in Afghanistan in die Luft sprengen lassen? Seit die Bundeswehr eine Armee im Auslandseinsatz ist, blickt man mit anderen Augen auf ihre Soldaten. Man liest jetzt wieder Wörter, die man in Bezug auf Deutschland nur aus der Vergangenheit kannte: Krieg, Gefallene, Veteranen.

„Die junge Generation“, sagt Oberstleutnant Neumann, „denkt so aber nicht.“ Der Zweite Weltkrieg ist für die Jungen sehr weit weg, viel weiter als für die nächstältere Generation, deren Großeltern noch Nazis waren, und die sich im Kinosessel windet, wenn in Werbespots der Bundeswehr Fliegergeschwader den Himmel durchpflügen. Neumann, Offizier und selbst seit 32 Jahren Soldat, ist die junge Generation lieber als die vorige. Die Jungen gingen nicht ideologisch an die Sache heran, sondern realistisch. Die Gefahren seien ihnen bewusst. Wenn in den Medien von einem neuen Anschlag auf einen deutschen Konvoi in Afghanistan berichtet werde, ebbten die Anrufe bei der Bewerbungs-Hotline einen Tag lang ab. Dann erreichten sie aber schnell wieder ihren alten Stand.

Max hat einen Cousin, der als Minensucher schon im Kosovo und in Afghanistan war. Über die Gefahren des Jobs muss man ihm nichts mehr erzählen. Hauptfeldwebel Melanie Große macht es trotzdem. Sie ist Wehrdienstberaterin und empfängt Max und seinen Vater in ihrem Büro. Jeder, der Soldat werden will, muss für ein solches Gespräch hier erscheinen. Erst danach kann man sich bewerben. Große ist eine Frau in Flecktarn um die 30, die aber jugendlicher wirkt, Typ große Schwester. Mit der kann man Pferde stehlen, würden ältere Damen sagen. Sie soll jetzt: Ein lockeres Gespräch führen, informieren, „schauen, ob man zueinander passt“ – und Max erst einmal von seiner Idee abbringen. Sie würde niemandem mit 16 oder 17 raten, direkt zur Bundeswehr zu gehen. Lieber erstmal eine Ausbildung im Zivilen machen. Oder Abitur. Und sich erst dann bewerben – wenn man immer noch will.

Aber zunächst erzählt sie, was das bedeutet, Soldat sein: „Dass man Dinge erleben kann. Das will überdacht sein.“ Und mit Dinge meint sie nicht die Dinge, die in den Werbespots zu sehen sind: Mit dem Panzer durch Matsch fahren, Fallschirm springen, Hubschrauber fliegen. Er solle seinen Cousin auch einmal nach den schlimmen Sachen fragen, rät Große, nach den traumatischen Erlebnissen, „vielleicht erzählt er, dass er beim Psychiater war.“ Max nickt.

„Augen auf bei der Berufswahl“

Die Wehrpflicht, die seit Juli dieses Jahres ausgesetzt ist, bestand schon lange nur noch auf dem Papier. Zuletzt wurden nur noch 17 Prozent eines Jahrgangs eingezogen. Die Wehrdienstleistenden waren schon ewig kein „Spiegel der Gesellschaft“ mehr, sondern eben jener Teil der Gesellschaft, der zur Bundeswehr ging. Allerdings bildeten die Wehrdienstleistenden den Pool, aus dem die Bundeswehr ihre Zeitsoldaten rekrutierte. Und dieser Pool ist jetzt dramatisch geschrumpft, von 65.000 auf jene 5.000 bis 15.000 Mann, die künftig freiwillig Wehrdienst leisten sollen. Zwar schrumpft auch der Personalbedarf, die Bundeswehr soll ja kleiner werden. Trotzdem müssen künftig verstärkt auf anderen Wegen Bewerber gefunden werden.

Oberleutnant zur See Thorsten Steffenberg, ein schnell redender, drahtiger Enddreißiger, hätte ohne Wehrpflicht vielleicht nie zur Bundeswehr gefunden. Der Schlosserlehrling wurde nach dem Grundwehrdienst gefragt, ob er sich vorstellen könnte, länger zu bleiben. Steffenberg konnte. Er begann als einfacher Mannschafts-Soldat bei der Marine, segelte auf der Gorch Fock und trat dann seinen Marsch durch die Laufbahnen an. Heute ist er einer von drei Karriereberatungsoffizieren in Berlin, die Vorträge an Schulen halten, in Job-Centern und an jenen Qualifizierungs-Einrichtungen, die nach der Hartz-IV-Reform aus dem Boden geschossen sind, um das Gegenstück des „Forderns“ zu erledigen, das „Fördern“. Steffenberg sagt, dass es kein Nachwuchsproblem bei der Bundeswehr gebe. Wenn man darunter versteht, dass es mehr Bewerber als offene Stellen gibt, stimmt das. Im Schnitt kommen drei Bewerber auf eine offene Stelle. Über die Qualität der Bewerber sagen die Zahlen aber nichts. Steffenberg sagt, im Zweifel gelte: „Lieber Lücke als Krücke.“

Um den Bewerberkreis zu vergrößern, hat die Bundeswehr seit der Aussetzung der Wehrpflicht mehr Anzeigen geschaltet und die Altersgrenze angehoben. Mehr Vorträge an Schulen gebe es aber nicht, sagt Steffenberg. Das Militär frage nicht von sich aus an, die Initiative müsse von der Schule ausgehen, sonst habe das keinen Zweck.

Die Schulen laden die Bundeswehr ein, aber viele wollen nicht, dass das in der Zeitung steht. „Wir wollen mit so was nicht in Verbindung gebracht werden“, sagt eine Schulleiterin am Telefon, und steht für Nachfragen nicht zur Verfügung. Steffenberg fühlt sich nicht beleidigt, wenn er verleugnet wird. Wahrscheinlich kriegt man ein dickes Fell, nachdem man ein paarmal zur Begrüßung gehört hat: „Wenn ich hier was zu sagen hätte, wären Sie nicht da.“

Im Berufs-Informations-Zentrum in Marzahn-Hellersdorf sind sechs junge Männer und zwei Frauen zur Informationsveranstaltung der Bundeswehr gekommen. Wenn sie nichts gefragt werden, schweigen sie, wie nur Fünfzehn- bis Siebzehnjährige schweigen können. Auch sie kämpfen in einer Art Krieg, für den sie schlecht ausgerüstet sind, es geht um ihre Zukunft. An der Wand hängt der Schlachtplan, der hier „Dein Berufswahl-Fahrplan“ heißt, und befiehlt, wann was erledigt zu sein hat. Daneben warnt ein manga-artiger Frauenkopf: „Augen auf bei der Berufswahl!“ Steffenberg stellt erstmal Fragen, „damit ich weiß, mit wem ich es zu tun habe“, sagt er. Es sind leichte Fragen, die etwas gereizt beantwortet werden, wahrscheinlich werden die Schüler das zur Zeit oft gefragt:

„Wie viele Bewerbungen habt ihr schon geschrieben?“ – „Zu viele.“

„Wer hat schon ein Praktikum gemacht? Und wo?“ – „Bei Netto“. „Im Kindergarten“. Das findet Steffenberg gut. Soziale Kompetenz, sagt er, ist wichtig bei der Bundeswehr.

Dann beginnt er seine Powerpoint-Präsentation, es geht los mit den Einstellungsvoraussetzungen, und die Fragen werden komplizierter: „Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung – was ist denn das?“ Schweigen. Steffenberg muss nachhelfen.

Dann malt er mit Filzstift eine Pyramide ans Whiteboard: Unten die Mannschaftsdienstgrade, darüber die Unteroffiziere, dann die Feldwebel, an der Spitze die Offiziere. Er klopft auf die zweite Stufe, die Unteroffiziere. Darüber wird er jetzt sprechen, nicht über die unterste Stufe: „Die Mannschaftslaufbahn ist nichts für Schüler. Da ist keine Ausbildung dabei.“ Wer bei der Bundeswehr eine Ausbildung macht, bekommt ein Einstiegsgehalt von 1.450 Euro. Ein normaler KFZ-Mechatronik-Azubi bekommt höchstens 800 Euro. Das ist ein Anreiz. Aber, sagt Steffenberg, das Geld dürfe nicht der Grund sein. Denn wenn die Ausbildung abgeschlossen sei, komme der Einsatz. Die Bundeswehr bilde die Leute ja nicht aus Selbstlosigkeit aus. Und wenn in Kabul ein KFZ-Mechatroniker gebraucht werde, dann gehe es nach Kabul. „Dass das gefährlich ist, entnehmen Sie bitte den Medien.“

Gleich, wenn alle weg sind, wird Steffenberg sagen, dass von den Schülern heute keiner in Frage kommt. Die, die sich in Marzahn-Hellersdorf für die Bundeswehr interessieren, sind also nicht die, die die Bundeswehr haben will. Wenn sie die einzigen Bewerber wären, würde es wohl heißen: Lücke.

Panzer, Särge, Küsse

Die 9. Klasse einer Gesamtschule aus Berlin-Mitte dürfte dagegen ein breiteres Spektrum an Potenzialen abdecken. Die Schüler sind heute im Rahmen des BVBO bei der QEU – wenn Berliner Schulen und Bundeswehr eins gemeinsam haben, dann die Vorliebe für Abkürzungen. Das BVBO ist ein Programm zur Berufsvorbereitung, die QEU eine „Qualifzierungsgesellschaft“ in einem Gewerbegebiet in Hohenschönhausen. Eigentlich ist heute Metallverarbeitung dran, und der Lehrer, der ein bisschen schluffig aussieht, wie beliebte Lehrer oft aussehen, sagt, dass er gar nicht wusste, dass vorher die Bundeswehr reden darf.

Die Neuntklässler sitzen also in ihren Kapuzenpullis vor Pulten, auf denen Zangen, Drähte und Lötkolben liegen und gucken einen Film. Der Film ist die Illustration zum neuen Claim der Bundeswehr mit der ungewöhnlichen Interpunktion: „Wir. Dienen. Deutschland.“ Zu elektronischer Marschmusik spritzen Panzer durch Matsch, Fallschirme öffnen sich wie große Quallen und ein Marine-Soldat küsst ein blondes Mädchen.

Danach ist schwer zu sagen, ob die Schüler Steffenberg zuhören, der unbefangen ein Vokabular gebraucht, bei dem sich ihrem Lehrer die Nackenhaare sträuben, jedenfalls wird sein Atem immer lauter. Entbehrung, Feindesland, Besten-Auslese – es sind Wörter, die aus dem zivilen Wortschatz quasi verschwunden sind. Steffenberg zeigt eine lange Liste mit Berufen, die man bei der Bundeswehr lernen kann, Fluggerätemechaniker zum Beispiel, oder Fotograf. Als Steffenberg sagt, dass man auch als Fluggerätemechaniker oder als Fotograf nach Afghanistan geschickt werden kann, horchen die Schüler doch auf. „Darf man sagen, ich will da nicht hin?“, will ein Mädchen wissen, und Steffenberg sagt: „Gute Frage“ und bringt das Beispiel vom Feuerwehrmann, der auch nicht sagen kann, dass er nicht ausrücken will, wenn’s brennt. „Als Frau wird man auch in den Krieg geschickt?“, hakt das Mädchen nach, und Steffenberg tut so, als ob er die Frage nicht versteht, ja natürlich, Männer und Frauen bildeten gemeinsam ein Team.

Dem Lehrer platzt irgendwann der Kragen. „Ein Soldat muss bereit sein zu töten“, wettert er, „das ist die erste Aufgabe eines Soldaten.“ Und diesen Satz hätte er in Steffenbergs Vortrag vermisst. „Es geht doch nicht darum, Maschinen zu pflegen oder Fotos zu machen, was erzählen Sie denn hier den Schülern?!“ Aufgabe der Bundeswehr sei Landesverteidigung, nicht der Aufbau ferner Länder. Er glaube nicht, dass die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt werde, wie Peter Struck gesagt habe – und zu den Schülern gewandt: „Das war ein ehemaliger Verteidigungsminister“. Er finde auch nicht, dass die Bundeswehr dazu da sei, Handelswege zu sichern, wie Horst Köhler gesagt habe – zu den Schülern: „Das war ein ehemaliger Präsident“.

Steffenberg könnte den Ball aufnehmen, von Mädchenschulen in Afghanistan erzählen oder von Bündnisverpflichtungen. Er könnte den Lehrer fragen, ob er will, dass die Bundeswehr abgeschafft wird, und ob er sich überlegt hat, was das für Folgen für Deutschlands Rolle in der Welt hätte. Aber Steffenberg nimmt den Ball nicht auf. Er sagt, dass er hier ist, um über Karrieremöglichkeiten zu informieren, nicht um über Sicherheitspolitik zu diskutieren. Dass Töten und Getötetwerden dazu gehöre, habe er nicht verschwiegen. Im Film seien auch Särge zu sehen gewesen. Die Bilder waren mit Marschmusik unterlegt, vielleicht ist es das, was den Lehrer gestört hat.

Eva Simon arbeitet als Reporterin unter anderem für die Deutsche Welle, Brand Eins und den Freitag

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