Die meisten wirklich guten Ideen sind so naheliegend, dass man hinterher gar nicht mehr versteht, warum das nicht längst schon überall so gemacht wird. Die Zahl alter Menschen in Deutschland steigt seit Jahrzehnten, und die bisherigen Antworten auf die Frage, wer diese Menschen pflegen soll, sind meist ziemlich unoriginell. Sie entsprechen den Strategien, zu denen unsere Volkswirtschaft auch sonst greift:
• Rationalisierung: Die Alten werden in Heimen gesammelt und im minutengenauen Takt durchgepflegt.
• Outsourcing in den Billiglohnsektor: Ohne osteuropäische Pflegerinnen wäre häusliche Pflege für kaum jemand finanzierbar.
• Das Problem wird zur Privatsache erklärt. Meist geben dann Frauen ihren Beruf auf, um den Eltern oder Schwiegerelter
tern oder Schwiegereltern den Lebensabend im Kreis der Familie zu ermöglichen.Das kann nicht alles sein.Einen anderen Weg gehen die Mitglieder der Seniorengenossenschaft im oberschwäbischen Städtchen Riedlingen: Dort sollen sich die Alten gegenseitig pflegen. Wer in Rente geht, ist oft fit genug, um noch ein paar Jahre einem noch Älteren unter die Arme zu greifen. Wenn man dann selbst Hilfe braucht, steht die nächste Generation der jungen Alten auf der Matte – die sich wiederum freut, gebraucht zu werden. Nicht jeder fiebert ja der Rente entgegen, weil er sich dann endlich ausruhen kann.Karl Sandner etwa ist der Abschied von der Erwerbsarbeit schwer gefallen. Der 71 Jahre alte Mann hat einen Großteil seines Berufslebens hinter dem Lenkrad zugebracht, als Außendienstmitarbeiter einer Tabakfirma. Heute ist er stolz darauf, dass er immer noch 5.000 Kilometer im Jahr zurücklegt. Eine Woche im Monat fährt er täglich 30 Styroporboxen mit Mittagessen aus. Dafür hilft eine andere Mitarbeiterin der Seniorengenossenschaft dem Witwer im Haushalt. Karl Sandners Stimme bebt etwas, wenn er vom Prinzip des „Gebens und Nehmens“ berichtet; davon, wie froh die hilfsbedürftigen Alten sind, wenn er kommt, und wie diese Freude sich auf ihn überträgt. Weil er mehr hilft, als er Hilfe in Anspruch nimmt, spart er die übrigen Stunden auf einem Zeitkonto an. Die kann er später einlösen, wenn er mehr Unterstützung braucht.Ohne Eigennutz geht nichtsIndem Karl Sandner nicht für Geld, sondern für einen immateriellen Tauschwert arbeitet, lebt er das Prinzip Seniorengenossenschaft in Reinform. Aber damit ist er in Riedlingen die Ausnahme. Statt Stunden auf einem Zeitkonto zu sammeln, können die Helfer sich ihre Arbeit nämlich auch auszahlen lassen. Das bevorzugen die weitaus meisten. Und beweisen damit eine Eigenart, die man wohl akzeptieren muss, wenn man eine kleine Institution wie eine Seniorengenossenschaft funktionstüchtig erhalten will.Gleichzeitig mit der Genossenschaft in Riedlingen sprossen in Baden-Württemberg vor 20 Jahren zahlreiche ähnliche Projekte aus dem Boden, einer Landesförderung des Sozialministeriums sei Dank. Keines der Projekte, die ausschließlich auf Zeitgutschriften setzten, hat überlebt. Der Mann, der das früh verstanden hat, heißt Josef Martin. Eine gute Idee zu haben, reicht ja meistens nicht aus. Wenn die Idee Wirklichkeit werden soll, braucht man jemand, der sich um die Infrastruktur kümmert. Um die Voraussetzungen dafür, dass die Bürger Lust haben, Bürgern zu helfen. So wie es das Motto der Seniorengenossenschaft verspricht.Josef Martin sieht aus wie ein Vertreter jenes schwäbischen Bürgertums, dessen Engagement für einen alten Bahnhof in den vergangenen Wochen soviel Applaus wie Kopfschütteln hervorgerufen hat. Der pensionierte Agraringenieur würde auch als Erdkundelehrer durchgehen. Zu weißem Hemd und braunem Sakko leistet er sich eine kleine Extravaganz: Um seinen Hals baumelt eine afrikanische Schnitzerei. In Riedlingen sitzt er für die SPD im Gemeinderat und mischt in allen möglichen Arbeitsgruppen und Gremien mit, die das Land ein bisschen besser machen wollen. „Als Bürger haben wir eine Eigenverantwortung“, sagt er. Seit 20 Jahren leitet er deshalb den Verein Seniorengenossenschaft Riedlingen. Er macht das alles ehrenamtlich. Und er weiß, dass er kein Maßstab ist: „Meine Erfahrung ist, dass Menschen in irgendeiner Weise einen Vorteil für sich sehen wollen. Auch wenn sie gemeinnützige Arbeit leisten.“Deshalb hat er in Riedlingen von Anfang an auf Bezahlung gesetzt. „Die Erfahrung zeigt, dass es nicht genügend Menschen gibt in unserer Gesellschaft, die bereit sind, pflegerische Leistungen gesichert und unentgeltlich anzubieten.“ Auch nicht für den Tauschwert der potenziellen Hilfe in der Zukunft. Den meisten Menschen ist der Spatz in der Hand offenbar lieber als die Taube auf dem Dach. Hinzu kommt ein kleiner, optimistischer Selbstbetrug: Die meisten Menschen scheinen damit zu rechnen, dass sie zur glücklichen Ausnahme gehören und später keine Hilfe brauchen werden.Mehr Zeit, mehr SpaßDie Frauen, die in der Tagespflege der Seniorengenossenschaft Brote schmieren, Kaffee kochen, mit den Gästen Lieder singen, Gymnastik machen und sie zur Toilette begleiten, tun das nicht in erster Linie fürs Geld. Aber die 6,80 Euro pro Stunde sind eben auch ein willkommener Nebenverdienst, besonders für die Jüngeren, die hier auf 400-Euro-Basis arbeiten. Alte, die häusliche Pflege in Anspruch nehmen, zahlen 8,20 Euro pro Stunde – sofern sie keine vorher angesammelten Stunden einlösen können. Die Kosten werden zu einem Großteil von der Pflegeversicherung erstattet. Weil sie viel billiger sind als ein richtiger Pflegedienst, können sich die Helfer mehr Zeit nehmen. Weil sie oft nur einen Tag in der Woche arbeiten, und sich darauf freuen, selber „mal rauszukommen“, sind sie auch mit mehr Spaß bei der Sache als viele Profis. Und wo es medizinisch notwendig ist, kommt zusätzlich eben auch noch ein Profi. Was hier zu allgemeiner Zufriedenheit führt, ist die pragmatische Mischung aus vielen Faktoren, die, jeder für sich selbst betrachtet, nicht revolutionär sind, sondern eben nur ein bisschen anders als sonst.
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