Der Himmel zog mich magisch an

Aschenputtel Ein Leben mit schizophrener Psychose

Der Blick. Wenn ich in mein Elternhaus komme, in die Gruft hinter der protzigen Fassade, steht sie oben an der Treppe und lauert. Ich gehe die Stufen hinauf, halte mich an dem schmiedeeisernen Geländer fest. Sie bezwingt mich mit ihrem Blick. Sie wird mich nicht mehr aus den Augen lassen. Sie lässt kein gutes Haar an mir. Wie du wieder aussiehst! Zu auffallend angezogen, der Rock, viel zu kurz, das Top, zu weit ausgeschnitten, die Frisur, blondiert wie bei einer Putzfrau! Sie greift nach mir, es gibt kein Entrinnen, nur diesen Hass, der mich besetzt. Ich bin ihr Objekt, es steht ihr zu, an mir zu ziehen und zu zerren. Meine Mutter.

Augen. Überall Augen. Sie schweben im Himmel, wie von Chagall gemalt. Das Auge des andalusischen Hundes, von einer Rasierklinge durchschnitten. Augen. Sie sind blau, wie meine. Sie beobachten mich, sie folgen mir überallhin. Sie sind nicht böse. Sie sind einfach nur da.

Es ist naheliegend, dass ungünstige Milieufaktoren oder Störungen in der Familienkommunikation einen Teil der komplexen Kausalkette bilden, die zur Entwicklung von Schizophrenie beiträgt.

Ich bin 14 Jahre alt, tieftraurig und sehr vernünftig. Ich bin eine gute Schülerin und eine gute Tochter. Wenn ich von der Schule nach Hause komme, koche ich für meinen Vater und meine Brüder, spüle Geschirr, gehe einkaufen, wasche und bügle. Ich bringe meiner Mutter Tee ans Bett. Sie kotzt Galle und Alkohol, den sie in der Nacht gesoffen hat.

Ich werde sie von der Straße zurückholen, wenn sie abhaut. Werde ihr die Rasierklinge abnehmen, wenn sie sich umbringen will. Werde die Badezimmertür aufbrechen, hinter der sie sich verschanzt. Werde die Schüssel mit ihrem Erbrochenen ins Klo leeren. Werde die Scherben zusammenkehren, wenn sie den Geschirrschrank in blinder Wut ausgeräumt hat. Ich werde mein eigenes Unglück verdrängen und ihres zu meinem machen. Denn ich trage die Schuld daran, dass sie einen Herzfehler hat, dass sie ihre Karriere als Opernsängerin aufgeben musste, dass ich die kleine Prinzessin meines Vaters bin - und ihr Aschenputtel.

Aschenputtel, Verrückte, Idiotin der Familie. Sie sitzt, nur mit einem weißen Flügelhemd bekleidet, in der Ecke eines großen, leeren, weißgestrichenen Raumes. Die Haare hängen ihr wirr vom Kopf, Speichel rinnt aus dem Mund. Sie lallt vor sich hin, schneidet Grimassen, und wenn sie lacht, werden ihre braunen Zahnstummel sichtbar. Am Abend wiegt sie sich in den Schlaf. Sie ist zufrieden. Sie hat endlich aufgehört zu funktionieren.

Ich weiß nicht, wann ich diesen Traum zum ersten Mal hatte. Jedenfalls lange, bevor ich in der Psychiatrie war. Mit 19 hatte ich meine erste Psychose, ausgelöst durch Drogen. Ich geriet in Verfolgungswahn und war völlig unfähig, allein mein Leben zu meistern. Dass mir Medikamente hätten helfen können, davon wusste ich nichts. Der Gang zum Psychiater kam in meiner Familie nicht in Frage. Was hätten die Nachbarn denken sollen?

Ich saß monatelang träge auf meinem Bett und glotzte vor mich hin. Die Unordnung um mich herum war mir egal. Angeekelt betrachtete ich meine weißen prallen Schenkel mit den Cellulitis-Streifen. Ich hasste meinen Körper, hasste mich selbst. Nur zwei Gedanken rotierten in meinem Kopf: Süßigkeiten und Zigaretten!

Herzrasen. Die eingesperrte Seele. Selbstzerstörung. Der immer drängendere Gedanke, dieser öden Masse meines Leibes ein Ende zu setzen. Ich stumpfte ab, bis ich selbst die Angst nicht mehr spürte. Nur dieses klopfende Herz, der Schwindel, das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich gab die Verantwortung für mich ab. Gab mich auf.

Psychosen können in jedem Lebensalter auftreten. Bei Männern liegt der Erkrankungsgipfel zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr, bei Frauen zwischen dem 23. und 28. Lebensjahr. Da die höchste Erkrankungshäufigkeit zwischen dem Ende der Jugendphase und dem Beginn des Erwachsenwerdens liegt, findet sich häufig ein zeitlicher Zusammenhang mit der Aufnahme des Studiums, Antritt einer neuen Stelle, Auszug aus dem Elternhaus, Beendigung einer Partnerschaft und ähnliches.

Es gelang mir, zu studieren, meinen Magisterabschluss zu machen, ich begann, als Redakteurin zu arbeiten. Doch der Stress setzte mir zu, meine ohnehin dünne Haut hatte Risse, ich bekam meine zweite Psychose, die bedeutend heftiger ausfiel als die erste. Ich schlief kaum mehr. Der Himmel zog mich magisch an. Wenn ich nachts hellwach in meinem Bett lag, hatte ich den Impuls, aus dem Fenster zu springen und zu fliegen. Ich bildete mir ein, mein Ex-Freund wolle mich vergiften. Die Stimmen aus dem Radio schienen direkt zu mir zu sprechen und Botschaften mitzuteilen. Meinen Körper empfand ich als völlig verändert, es war, als löste ich mich auf. Die Kollegen bei der Arbeit bemerkten meinen schrittweisen Verfall und lieferten mich, trotz meines heftigen Sträubens, in die Psychiatrie ein. Diagnose: Schizophrene Psychose.

Hier bekam ich zum ersten Mal in meinem Leben Neuroleptika. Haldol, du Schmerzensreiche. Sediert. Ein watteähnlicher Zustand, der mir jedes Bewusstsein raubte. Die totale Regression. Wie ein Baby stopfte ich mir alles Essbare in den Mund, das ich bekommen konnte. Arbeitstherapie: Puzzle-Teile in Plastiktüten packen, stundenlang. In mir selbst gefangen, verrichtete ich Knast-Arbeit. Filme zogen an meinem inneren Auge vorbei, ich konnte keine Bilder mehr löschen. "Wir erhöhen dieses Medikament" war der einzige Satz, den ich monatelang von den Psychiatern hörte. Therapie zwecklos - so lautete ihr Urteilsspruch.

Fünf Monate Klinik, zehn Kilo Übergewicht. Ich war ein Wrack, aufgedunsen, schwerfällig, faltig. Ein Psychophant. Und der einzige Ratschlag, den ich mit auf den Weg bekam: weiter Tabletten schlucken, viel Schlaf, keine Unregelmäßigkeiten, nichts, das belastet und stresst. Und was bekomme ich dafür? Eine "ausgeglichene Stimmung", keine Höhen, keine Tiefen. Also kein Leben.

In den ersten Monaten nach einer Psychose fühlen sich die Patienten niedergeschlagen, erschöpft, antriebsarm und nicht voll leistungsfähig. Durch Verständnis für die krankheitsbedingten Leistungseinbußen können die Angehörigen den Patienten sehr viel Druck wegnehmen, den sie sich meist selbst auferlegen. Die Patienten brauchen in dieser Zeit das Gefühl, dass zumindest die anderen den Glauben an sie und ihre Fähigkeiten nicht verloren haben.

Für meine Mutter war die Krankheit ein Schock. Sie war entsetzt und ratlos über meine Veränderung und verletzt vom geballten Hass, den ich ihr entgegenschleuderte. Ich machte sie, und ausschließlich sie, für meinen Zusammenbruch verantwortlich. Sie sah sich mit einer monströsen Krankheit konfrontiert, die sie nicht begriff, sah mich, eine Art Scheintote, die sich wie eine Autistin in einem seelischen Vakuum befand, kaum zur Kommunikation fähig. Doch sie hat mich nie aufgegeben - dafür bin ich ihr dankbar.

Durch die medikamentöse Langzeitbehandlung wird zwar "Krankheit verhindert", aber nicht automatisch ein erfüllendes und glückliches Leben ermöglicht. Hierzu sind begleitende soziotherapeutische Maßnahmen unerlässlich.

Nachdem ich nach der Klinik ungefähr ein Jahr bei meiner Familie verbracht hatte, entschloss ich mich, in eine therapeutische Wohngemeinschaft zu ziehen. Die Vorstellung, allein zu leben, machte mir zu große Angst. Das Sozialamt bezahlte für das winzige, hässlich möblierte Zimmer, für Gruppen- und Einzeltherapie, jeweils einmal die Woche. In der WG traf ich auf Menschen, denen es noch bedeutend schlechter ging als mir. Die Küche war versifft, Schmeißfliegen umkreisten den übervollen Mülleimer. Keiner hatte die Energie, Geschirr zu spülen oder aufzuräumen. Eine Mitbewohnerin war so lethargisch, dass ihr Zimmer einer Müllhalde glich: Verschimmelte Brotreste und fauliges Obst pflasterten den Weg von der Zimmertür bis zu ihrem Bett. Im Fernseher liefen ständig Zeichentrickfilme für Kinder. Und doch ermöglichte mir dieser beschützte Raum wieder kleine, selbständige Schritte zurück ins Leben.

Dann gab es da noch die Teestube, eine Einrichtung für psychisch Kranke. Hier wurde, fast wie in der Psychiatrie, den ganzen Nachmittag Kaffee getrunken und geraucht. Die meisten Besucher waren schon durch ihr Aussehen stigmatisiert: Fahle Haut, zitternde Hände, unförmige Körper und ein Blick, der ins Leere ging. Schweigen über lange Stunden. Die wenigen Gespräche drehten sich um die persönlichen Befindlichkeiten. Kaum einer war fähig, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Doch manchmal schafften es die Sozialpädagogen, etwas Leben in die Runde zu bringen. Und für einen kurzen Moment wirkten alle wie ganz normale Menschen.

Ich hatte Glück: Ich begann, ehrenamtlich bei einem Radio mitzuarbeiten. Im Lauf der Zeit kamen Kreativität und Phantasie zurück. Nach einer erfolglosen Rehabilitations-Maßnahme bekam ich die Erwerbsunfähigkeitsrente und kann heute wieder in meiner eigenen Wohnung leben. Zusätzlich mache ich eine Verhaltenstherapie.

Die meisten Patienten fühlen sich bei der Klinikentlassung wieder weitgehend gesund und sind froh, alles "überstanden" zu haben. Sie wollen aus gut verständlichen Gründen von der Klinik und den dort verabreichten Medikamenten zunächst nichts mehr wissen. Doch heutzutage besteht weltweit Einigkeit darüber, dass sich nur durch eine sinnvolle Kombination von medikamentösen mit psycho- und soziotherapeutischen Maßnahmen das Wiedererkrankungsrisiko nachhaltig verringern lässt.

Oh ja, ich nehme täglich brav meine Psychopharmaka. Die kleinen Helfer geben mir Schutz und verhindern das Schlimmste: erneut eine Psychose zu bekommen. Denn ich könnte es nicht ertragen, wenn wieder das Chaos über mich hereinbrechen würde.

Es war ein langer Weg, meine Krankheit zu akzeptieren. Ich gehe offensiv mit ihr um: Wenn die Rede darauf kommt, verschweige ich nichts. Mit meiner Mutter habe ich mich versöhnt. Wenn ich heute die Treppe in meinem Elternhaus hinauf gehe, freue ich mich, sie zu sehen. Mutters Aschenputtel ist tot.

Die kursiv gesetzten Zitate stammen aus dem Buch von Joseph Bäuml, Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis, Springer-Verlag 1994


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