Die einzige Wärme, die Europa an diesem Abend spendet, stammt von einem Lagerfeuer aus brennenden Schwimmwesten. Flüchtlinge haben sie am Strand von Lesbos angezündet: gegen die Kälte, gegen die Angst, gegen die Finsternis, der die 40 Insassen eines Gummibootes stundenlang ausgesetzt waren. Als hinter den Felsen die ersten Stirnlampen aufscheinen – dazu Männer und Frauen in schwarzen Neopren-Anzügen –, haben es die afghanischen und syrischen Flüchtlinge schon aus dem Boot geschafft. Nun versuchen die Helfer, mit Rettungsdecken mehr Wärme zu geben als das Feuer am Strand.
Die 29-jährige Lucia ist eine der Frauen mit Stirnlampe. Sie hat an diesem Abend bei der Ankunft von 10 oder 15 Booten geholfen. Genau weiß sie es nicht mehr. Auch ist ihr entfallen, wie viele blasse, zitternde Kinder sie während der vergangenen Stunden in die Decken gewickelt hat. Normalerweise bringt Lucia Kindern in Barcelona das Schwimmen bei. Seit mehreren Wochen jedoch ist sie eine von gut 100 Freiwilligen, die Flüchtlinge auf Lesbos aus lebensbedrohlichen Gefahren retten: vor dem Ertrinken, dem Erfrieren, dem Verdursten, der Verzweiflung.
Aufs Meer starren
Lesbos, das in Reiseprospekten als „Wohlfühlinsel zum Wohlfühlpreis“ beschrieben wird, ist ein symbolischer Ort für Europas Umgang mit den Flüchtlingen. Wenn das Jahr zu Ende geht, werden über eine halbe Million Menschen die Überfahrt von der türkischen Küste zu einer der griechischen Inseln gewagt haben. Im Oktober kamen über 100.000 Menschen allein nach Lesbos. An manchen Tagen erreichen bis zu 7.000 Hilfesuchende die Strände. Wo noch vor drei Monaten türkische, französische oder deutsche Urlauber in der Sonne lagen, türmen sich heute Berge aus Schwimmwesten. Ein kleiner lilafarbener Plüschbär ruht seinen Kopf auf einem Haufen mit Verbandszeug aus. Eine gelbliche Puppe versteckt sich in einem Berg aus Verpackungsmaterial. Wem mag sie gehört haben?
„Früher irrten die Flüchtlinge oft stundenlang in nassen Sachen orientierungslos durch die Nacht“, erzählt Mika. Die 25-jährige Niederländerin steht hinter einem Tisch mit Marmeladenbroten, Teekannen, Wasserflaschen und Falafel-Bällchen. Sie gehört zu den Freiwilligen im Camp „Oxy“, derzeit das größte von drei provisorischen Flüchtlingslagern entlang der 20 Kilometer langen Küste zwischen den Orten Molyvos und Skala Sikamineas. Keines der Camps ist durch die lokalen Behörden genehmigt, geschweige denn wird von diesen unterhalten. „Wir haben Oxy einfach gebaut“, erzählt Mika. Die dafür zuständige Nichtregierungsorganisation (NGO) entstand erst später, der Not gehorchend, weil sich jemand kümmern musste. Die NGO heiße „Starfish“, sagt Mika, und sei der größte von rund 20 Zusammenschlüssen, die sich im Norden von Lesbos des Schicksals der Migranten annehmen.
Folgt man der Küste, führt ein steiler Weg hinauf zu einem alten, einsamen Olivenbaum. Die Strecke bietet sich als idealer Parcours für Off-Road-Motorräder an, würde man nicht auch hier auf die überall herumliegenden Schwimmwesten stoßen. Ganz oben lehnt ein 29-jähriger Niederländer – Guyestto heißt er – und schaut durch ein altes Armeefernglas. Acht Kilometer sind es bis zur türkischen Küste. Bei klarer Sicht kann ein Betrachter der Täuschung erliegen, ein guter Schwimmer sollte das schaffen. Ein fataler Eindruck, schließlich verlangt der türkische Schlepper auf der anderen Seite nicht ohne Grund 1.500 Dollar für einen Platz in einem überfüllten Gummiboot oder einem überladenen Kutter. Nur 30 Euro will der lokale Fähranbieter, nimmt aber keine syrischen, irakischen, pakistanischen oder afghanischen Flüchtlinge an Bord.
„zu Hause habe ich eine Ausbildung als Feuerwehrmann und Krankenpfleger durchlaufen“, erzählt Guyestto. „Jetzt erledige ich hier alles, was notwendig ist – Lebensmittel mit dem Auto heranschaffen; Schwangere und Kinder transportieren oder aufs Meer starren, ob jemand in Seenot geraten ist.“ Die Ahnung, dass es so sein könnte, beginnt in der Regel mit einem winzigen orangen Schimmern, das irgendwie nicht hineinpasst in das ruhige oder aufgewühlte graublaue Wasser.
Apathische Behörden
Guyestto hat ein Schiff unweit der Küstenwache ausgemacht. Wo es ankommen wird? „Vielleicht beim Light-House-Camp? Aber wann? Kann sein, in 50 bis 60 Minuten. Oder auch später. Sicher lässt sich das nie sagen.“ Nach Tagen besseren Wetters hat seit dem Morgen der Wind kräftig aufgefrischt. Was in solcher Lage passieren kann, erlebten Guyestto und andere internationale Helfer zuletzt vor drei Wochen: „Ich weiß nicht mehr, wie viele Leute wir an diesem Tag reanimiert haben. Sieben, acht, neun?“ Guyestto überbrückt eine Pause mit dem Blick durchs Fernglas. „Und am nächsten Tag läufst du den Strand entlang und siehst die leblosen Körper der Kinder, denen du nicht mehr helfen konntest.“ Wahrscheinlich starben 30 Menschen bei dieser Überfahrt. Genau weiß das niemand. Etwa 500 Tote vor Lesbos zählte die Flüchtlingsorganisation International Organization for Migrationin diesem Jahr. Haben Frontex-Patrouillen oder die griechische Küstenwache eingegriffen? „Glaubst du das wirklich?“, fragt Guyestto und blickt wieder durch sein Fernglas.
Die freiwilligen Helfer sind aufgebracht über die Teilnahmslosigkeit der einheimischen Behörden. Wochenlang bemühten sich das Flüchtlingshilfswerk UNHCR und das Internationale Rote Kreuz vergeblich um die Erlaubnis, direkt an der Küste ein Hilfscamp zu errichten. Als nichts passierte, griffen Aktivisten zur Selbsthilfe und bauten die Zelte einfach auf. Geradezu menschenverachtend ist die Vorschrift, wonach griechische Rettungsschwimmer nur an Land eingreifen dürfen, weil es ihnen die Küstenwache verbietet, aufs Meer hinauszufahren. Ein dringend benötigter Krankenwagen, ein Geschenk aus Schottland, durfte ewig nicht eingesetzt werden. Die Ämter verschleppten die Zulassung. Wer Flüchtlinge in seinem Auto mitnahm, musste bis vor kurzem mit hohen Geldstrafen rechnen. Die 50 Kilometer bis zur Registratur in Moria liefen deshalb viele zu Fuß.
Vor dem Tor dort sitzt ein gut 40-jähriger Brite in einem weißen Mietwagen. Bob arbeitet für die Hilfsorganisation Oxfam. Früher hätten Taxifahrer den Flüchtlingen bis zu 700 Euro abgeknöpft, erzählt er. „Jetzt bringen Freiwillige sie in Bussen zu uns.“ Zwei davon sitzen auf Bobs Rückbank. Im Kofferraum stapeln sich Kisten mit Fladenbrot und Plastikschachteln voller Reis mit Rosinen. „Wir wechseln uns beim Verteilen von Essen mit den Leuten von ‚Safe The Children‘ ab“, erklärt er.
Eigentlich wird Camp Moria von der EU und der griechischen Regierung verwaltet. Wie so vieles auf Lesbos. In der Praxis funktioniert auch hier nichts ohne die Arbeit der internationalen Brigaden. Bis zu 2.000 Gestrandete werden pro Tag durch das Camp geschleust, das hinter meterhohen Metallzäunen und Stacheldraht liegt. Die Insassen müssen mit einem Terrain auskommen, das einmal für 400 gedacht war. Wer Glück hat, ergattert einen der Plätze im Wohncontainer. Die meisten haben Pech, müssen im Olivenhain übernachten, sich an brennendem Müll wärmen und ihre Kinder auf Müllsäcken schlafen legen.Wer hustet, steht in der Schlange vor dem Zelt der Médecins Sans Frontières. Wer trockene Schuhe oder einen Anorak für seine Kinder braucht, geht zu einem der Freiwilligen im roten Safe-The-Children-T-Shirt. Wer die nötigen Papiere braucht, um Lesbos in Richtung Festland verlassen zu dürfen, steht in einer Warteschlange, die endlos scheint und es tatsächlich ist.
15 Kilometer von Camp Moria entfernt endet die nächste Schlange vor den Ticketkontrolleuren des Fährunternehmens. Auch hier das gleiche Bild: In einer Pfütze spielen zwei Mädchen mit Streichholzschachteln ihre Flucht nach. Ein alter Mann röstet Kastanien in einem brennenden Abfallhaufen. Ein Bus bringt Familien, deren ganzes Leben in zwei Pappkartons passt. Mehr gestattet ihnen die Hafenbehörde nicht. Die einzigen vom griechischen Staat bezahlten Helfer, die sich hier um die Flüchtlinge kümmern, tragen rote Base-caps, ordnen die Masse der Ankommenden und verkaufen Vodafone-SIM-Karten.
Kein Schritt mehr
Am Abend dieses trüben Novembertages muss der 27-jährige Spanier Oriol noch einmal hinunter zum Strand, um einer syrischen Familie beizustehen, die es aus Entkräftung kaum aus dem Boot schafft. Wie viele Menschen Oriol an diesem Tag gestützt, getragen oder geführt hat, weiß er nicht. Als er später in der Lobby eines kleinen Hotels sitzt, um das Erlebte zu ordnen, rennen plötzlich Männer und Frauen mit Sauerstoffflaschen durch die Lobby. Im Haus liegt die Einsatzzentrale von Proactiva Open Arms, einer Freiwilligengruppe, zu der vorwiegend spanische Sanitäter und Rettungsschwimmer zählen.
„Eigentlich arbeiten wir sonst als professionelles Hilfsteam an den Stränden von Barcelona“, berichtet Oriol. „Aber als im September auch die spanischen Medien voll waren mit Bildern von ertrunkenen Flüchtlingen, haben wir uns entschlossen, nach Lesbos zu fliegen und auf der Insel zu arbeiten. Ohne Bezahlung und während der Urlaubszeit, jeweils für zwei oder drei Wochen.“
Es dauert nur eine halbe Stunde, bis Oriol wieder aufspringt und nach draußen eilt. Ein Kleinbus der norwegischen Hilfsorganisation „A Drop in The Ocean“ hat noch einmal eine Gruppe aufgesammelt und hergebracht. Im Scheinwerferlicht des Fahrzeugs tauchen die müden Gesichter junger afghanischer Männer auf. „Ihr müsst noch 15 Minuten in diese Richtung gehen, dort bekommt ihr Essen und Kleidung“, ruft ihnen Oriol auf Englisch zu. Im Bus geblieben sind drei Kinder und eine schwangere Frau, die offenbar vor Erschöpfung keinen Schritt mehr gehen kann.
Ein paar hundert Meter vom Hotel entfernt schreit am Strand eine junge Frau nach ihrem Sohn und fällt auf die Knie. Zwei Iraker küssen betend den Sand. Ein Mann stürmt zur Küstenstraße und bricht mit wimmernder Stimme zusammen. Und das Licht von Stirnlampen erfasst Kinder in goldenen Rettungsdecken.
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