Nippes-Uterus

Retrowelt Trashy, campy & tasty - Zu Besuch in einem garantiert friedlichen Berliner Szene-Imbiss

Eigentlich sei es doch nur ein altes Chinarestaurant, in das mich heute eine Freundin ausführt. Und doch ist es angeblich ein hot spot, einer der derzeit angesagtesten Läden der Stadt. Was also zieht man an? Lässig-casual oder Edel-Second-Hand?

Ich entscheide mich für "jugendlich eng". Jeans und T-Shirt, die mich mit meinen nicht mehr ganz taufrischen 36 bei gedämpften Licht glatt noch für 29 durchgehen lassen sollten. Meine Begleiterin setzt auf den "Wo-bitte-geht-es-in-die-Achtziger?-Look", trägt einfach ihre alte Karottenhose, den zu kurzen Mohairpulli und ihre Fransenboots aus den Achtzigern und sieht damit, wie ich finde, ohne viel Aufwand extrem trendy aus.

Das erste, was ich wahrnehme, als wir zur Tür hereinkommen, ist eine Überdosis Nippes. Und zugleich scheinen sich die Grenzen von Kunst, Kitsch und Camp in diesem Interieur aufzuheben. Chinesische Lampions und ein Großteil des Mobiliars stammen offenbar aus der Vordynastie, als die Räume noch den eher etwas spießigen Edel-Chinesen beherbergten. Auf diese Basisausstattung hat die kanadische Künstlerin Laura Kikauka, die den Laden mit Freunden führt, so allerlei Liebenswürdigkeiten gestülpt: Discokugeln und -kügelchen, eine mit Kunstrasen ausgekleidete Badewanne hier, dort eine Rosenquarz-Lampe mit vom Hersteller verbürgten Heilkräften, wie man sie den Eltern vor vier Jahren zu Weihnachten geschenkt hat.

Dazu drei Aquarien, von denen nur eines lebendige Fische zu enthalten scheint, die anderen beiden jedoch sind gefüllt mit allerlei bunten Glassteinen, Playmobilmännchen in Tauchanzügen und Plastikfischchen. Und neben einer nicht überschaubaren Menge an Kinkerlitz und Souvenirs haben die Künstlerfreunde an diesem Abend im hintersten der vier Räume eine Videolounge eingerichtet. Unverkennbar Janis Joplin, in tonlosen Dokumentaraufnahmen eines Konzertmitschnitts. Musikvideos der Stunde Null sozusagen.

Weil es erst kurz nach Zehn ist, gibt es noch Plätze. Meine Bekannte und ich haben die freie Auswahl zwischen verwackelten Janisvideobildern und bunten Plastikfischen. Uns in die exponierte grasgrüne Badewanne zu setzen, erscheint uns zu gewagt. Ich entscheide mich zunächst für den Konzertmitschnitt, merke aber schnell, dass die Unruhe der Bilder mich zu sehr vom Gespräch ablenkt. Außerdem ist der Videolounge-Dunkelraum mit heißem Rock leider fußkalt.

Wir ziehen also weiter zum künstlichen Aquarium. Als wir sitzen, bemerken wir beim näheren Hinsehen seine elektronische Finesse: Eines der Playmobilmännchen sammelt hochschießende Luftblasen in einem kopfüber gehaltenen Körbchen, und in regelmäßigen Abständen entlässt es sie als großen Blubb an die Oberfläche. Eine kleine, unbeschreiblich schöne Wasserblasenuhr im 15-Sekunden-Takt. Es ist ein Leichtes, sich an diesem Immerundimmerwieder des Luftblasenspiels festzusaugen, sich darin zu verlieren. Das Blubbern und Sprudeln, die Farben, das Licht haben auch ganz ohne Halluzinogene etwas sehr Heiteres und Friedliches, eine kleine, bunte, wohlige Unterwasserwelt. Im krassen Gegensatz zum farbenfrohen Frieden liegt in tristem Schwarzweiß auf einigen der Tischen etwas, das ich zunächst für eine liegen gelassene Schülerzeitung oder das wütende Streikmanifest irgendeiner linken Gruppe halte. Es sind aneinandergeheftete Schwarzweißkopien mit den kryptischen wie profanen Hinweisen: "white trash" - "bitchin kitchin" - "open late" - "no colouring" - "contains coffein", kurz, die Speisekarte des Hauses. Wobei der Ausdruck Getränkekarte treffender wäre, da mit den Hinweisen auf die Salatbar ("small" drei Euro, "large" vier Euro), die Salat-Suppen-Combo (fünf Euro, "with bread") und das Hauptgericht "Plat du Jour", mit Suppe für "6 E" auf den ersten zwei Seiten alles gesagt ist. Bleiben noch 18 weitere Seiten für Getränke aller Arten und Prozente. Softies wie "Boring filter coffee", Bier, Wein ("Red and White Tablewine - French"), Absinth und eine lange Latte weiterer Longdrinks und Cocktails, abgerundet mit "Queen Mum", einem royalen Mix aus Gin, Eis, Lemon und Leitungswasser. Dazu zeigt uns die Karte ein Bildchen der verblichenen Wacholderfreundin, wie sie kopfüber hinter einer Weltkugel entschwebt.

Allmählich bekomme ich Appetit und bin schon sehr gespannt darauf, das Volksküchen-Angebot zu testen. Während ich noch Anstalten mache mich umzuschauen, taucht auch schon, engelsgleich, eine sehr junge und sehr schwarzhaarige Frau auf. "You want something to drink?" Sie spricht Englisch wie auch ihre Kollegin, die den Nebentisch bedient. Wir bestellen uns zwei Gläser von dem "Red Wine" und zu Essen einmal die "Plat du Jour" für zwei, in der vegetarischen Variante, dazu "Soup".

Nach der Bestellung ist es Zeit für einen kurzen Toilettentest, denn Kenner wissen: wie das Klo, so die Küche. Auf dem Herrenabort schaffen Teelichter eine sinnliche Atmosphäre. Hier lässt es sich gut und gerne länger aushalten. Und bei allem ist nicht zu übersehen, dass Kacheln, Becken und Pissoirs blitzblank gewienert sind. Klarer Punktgewinn. Zurück am Tisch, ist dieser bereits gedeckt. Und folgerichtig - auf den Klotest ist Verlass - ist das Essen, ein Red Curry mit Tofu auf Reis, köstlich.

Entspannt lehnen wir uns danach zurück und ordern noch ein Glas "Wine". Tischwein, wie es in der Karte steht, scheint übrigens ein schlichtes Understatement. Das Essen und vermutlich auch der gute Rote übertragen sich mehr und mehr auf unsere Laune, senden aus dem Verdauungstrakt direkte Signale an das Gute-Laune-Zentrum im Kleinhirn. Wir kichern, denken darüber nach, wie man sich Vorgesetzter wohl am besten entledigen könnte und kommen dann nach einem gemeinsamen Gedankensprung auf das Thema Fetischparties. Längst sind wir beide in die milde psychedelische Atmosphäre dieser Retrowelt eingetaucht, werden eins mit dem Overdubbing von Künstlerinnenhand, der Kreuzung aus Chinarestaurant und American Diner, mit Volksküchencharme und Ketchupflaschen auf den Tischen.

Immer wieder schaue ich zwischendurch andächtig auf unser kleines Raumzeit-Wohlfühl-Aquarium, gehe noch ein paar Mal auf die Toilette und bemerke auf dem Weg dorthin irgendwann, dass die Janis-Joplin-Filme jetzt kryptischen Projektionen in Spektralfarben Platz gemacht haben. Alles ist so leicht, so weich und so bunt - bis mich ein Blick auf die Uhr sanft ins Hier und Jetzt zurückholt: Seit über dreieinhalb Stunden haben wir bei unseren Plastikfischen gesessen.

Zeit- und Raumvergessenheit, die bezaubernde Wirkung in der Geborgenheit dieses Nippes-Uterus, der uns von sich einnimmt und zugleich mitnimmt auf eine nicht alltägliche Reise. Und weil auch unsere freundliche Bedienung nach dem Schichtwechsel längst nach Hause gegangen ist, verabschieden wir uns von den Fischen, den falschen und den echten, den Blubberblasen, der Grasbadewanne und vielen, vielen bunten Bildern. Ob nun Janis, Playmobil, Discolicht oder Thailand. Und nicht zu vergessen, weil wieder einmal in der wichtigsten Nebenrolle: von der Musik. Von lulliger Fahrstuhlmuzak und Burt-Bacharach-Artigem zum Mitsummen bis hin zu Heavy-Metal, der das Reden schwer macht, war heute alles dabei. Eine kosmische Mischung, das ganze Musikall umspannend.

Derart durchperlt und durchwoben, so gut verköstigt und zugleich selbstvergessen stehen wir dann weit nach Mitternacht wieder auf der Straße. Wir sind uns einig: Dieser Besuch war nicht nur ein ästhetischer, sondern auch ein kulinarischer Genuss. Kurzweiliger haben wir zudem selten gegessen.

Bliebe nun die Frage, wo sich dieses Mekka, diese tasty Ma-style-Kitchen des guten schlechten Geschmacks und des gekonnten Restaurant-Overdubbing befindet. Schweren Herzens respektieren wir jedoch den Wunsch von Laura, ihren Freunden und deren Freunden, noch ein wenig Szeneimbiss und damit wirklich geheimer Geheimtipp bleiben zu wollen. Aber: Wer sucht, der findet bekanntlich. Lesen Sie sich diese Geschichte noch einmal aufmerksam durch. Fragen Sie ein bisschen rum. Und achten Sie dabei vor allem auf äußerlich unscheinbare Chinarestaurants.

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