Räume voller Scherben. Fragmente von Statuen, zerbrochene Ornamente, ausgebreitet auf weißen Papierbahnen mit der Aufschrift „USAID“. Forscher, die langsam zwischen diesen Scherben umherwandeln und versuchen, aus den Trümmern das kulturelle Erbe Afghanistans zusammenzuklauben. Mehr als 35 Jahre Krieg und der Kulturkampf der Taliban haben an vielen Stellen keinen Stein auf dem anderen gelassen.
Die Szenen zu Beginn von Splitter Afghanistan sind durchaus programmatisch. In ihrem neusten, dritten Dokumentarfilm über Afghanistan sammelt Helga Reidemeister Bruchstücke des afghanischen Lebens auf. Anders als in Mein Herz sieht die Welt schwarz – Eine Liebe in Kabul von 2009 fügen sich die Elemente nur noch vereinzelt zu einer Geschichte.
Der grö
iner Geschichte.Der größte thematische Block des neuen Films widmet sich der Arbeit mit Kriegsversehrten, zeigt eine Physiotherapeutin, die über den Verlust der eigenen Beine zur gefeierten Vorreiterin der Behandlung von Minenopfern wurde, und dokumentiert das Werk Alberto Cairos, eines italienischen Mediziners und ehemaligen Anwalts, der in Kabul ein Zentrum zur Versorgung von Kriegsopfern aufgebaut hat.Splitter Afghanistan vereinigt Material aus acht Aufenthalten der Regisseurin in Afghanistan von 2002 bis 2011 – die sich verschlechternden Bedingungen über den Entstehungszeitraum hinweg haben sich in das Werk eingeschrieben. Im Presseheft berichtet Helga Reidemeister, wie sie Protagonisten des Vorgängerfilms erneut getroffen hat und diese sie gebeten haben, „sie nie wieder zu besuchen, weil es für sie zu gefährlich geworden war, ausländische Gäste zu haben“. Die Erfahrung wiederholt sich. Als Reidemeister einem Jungen, der in Alberto Cairos Kabuler Zentrum behandelt wird, in den Süden Afghanistans folgt, wird dem Team schnell erklärt, dass es unerwünscht sei.Wenn am Anfang des Films Helga Reidemeisters Stimme zum ersten Mal beginnt, den Kommentarton zu sprechen, irritiert der ungewohnt pädagogische Tonfall. Im weiteren Verlauf weicht dieser Eindruck einer großen Melancholie. Immer wieder wird deutlich, dass Splitter Afghanistan das Dokument eines Endes ist. Reidemeister nimmt Abschied von Afghanistan.Placeholder gallery-1Mit Mein Herz sieht die Welt schwarz war der Regisseurin noch einer der wenigen klugen Filme zu Afghanistan und seinen Kriegen gelungen. In ihrem Porträt eines jungen Paars, das gegen alle Widerstände an seine Liebe glaubt, hatte Reidemeister durch dieses Bild hindurch eine Welt erschlossen, die mehr als zehn Jahren Berichterstattung über Afghanistan zum Trotz noch immer unverständlich scheint.Märkisches ViertelErschlossen, nicht erklärt. Das hat Helga Reidemeisters Film unterschieden von vielen anderen Versuchen einer Annäherung an die komplexe Geschichte des Landes. Ausgehend von der Geschichte des Paars gewährt Mein Herz sieht die Welt schwarz Einblicke in die Konflikte und das Denken der afghanischen Gesellschaft, in den Paternalismus, ins Leben und Brechen mit der Tradition. Der Film lässt absichtlich Fragen offen. Dieser Ansatz, ein soziales Gefüge zu entwerfen, ohne oberflächliche Erklärungen zu liefern, verbindet Mein Herz sieht die Welt schwarz mit frühen Arbeiten von Reidemeister – entstanden mit Bewohnerinnen und Bewohnern des damals neu gebauten Märkischen Viertels in Berlin.In Der gekaufte Traum (1974 – 77) und Von wegen „Schicksal“ (1978/79) geht es ebenso um das Ausloten familiärer Beziehungen und um den kollektiven Umgang mit Konflikten. Mit der Arbeit an Der gekaufte Traum begann Reidemeister, als sie Sozialarbeiterin in der neu entstehenden Berliner Großwohnsiedlung war. Sie verschaffte einer Familie mehrere Super-8-Kameras, um den Leute die Möglichkeit zu geben, Alltag selbst zu dokumentieren. Als Reidemeister 1973 ihr Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (DFFB) aufnahm, brachte sie dieses Projekt mit ein und montierte aus dem gedrehten Material ihren ersten Dokumentarfilm.Von wegen „Schicksal“ ist dann Reidemeisters Abschlussarbeit an der DFFB geworden. Der Film dokumentiert die Selbstbefreiung seiner Protagonistin – Irene Rakowitz, die sich von ihrem Mann Richard scheiden lässt, der fortan im selben Hochhaus ein paar Stockwerke tiefer wohnt. In bewusster Abweichung von der vorherrschenden Dokumentarfilmtheorie der Zeit nahm Reidemeister nicht die Rolle der unbeteiligten Beobachterin ein, sondern entwickelte den Film gemeinsam mit Irene Rakowitz und räumte ihr das Recht ein, den Film zu verbieten, wenn sie mit der Darstellung nicht einverstanden sein sollte.Das verhinderte aber nicht, dass Von wegen „Schicksal“ und die Haltung seiner Autorin anfangs als voyeuristisch gebrandmarkt wurden. Über den Film brach eine Debatte aus, die sich bald vom konkreten Gegenstand entfernte und um die Frage ging, wie sich Dokumentarfilmemacher zu den von ihnen gedrehten Protagonisten verhalten sollen. Beobachten oder Partei ergreifen, einfühlen oder kritisch befragen? Nach Abschluss des DFFB-Studiums drehte Helga Reidemeister eine Dokumentation über ihre Schwester, Filme über Karola Bloch und Rudi Dutschke, mit dem sie ab 1970 in einer Wohngemeinschaft lebte – in der Berliner Wohnung, in der sie heute noch zu Hause ist. 1987, zwei Jahre vor dem Fall der Mauer, untersuchte sie in DrehOrt Berlin das Leben in Berlin auf beiden Seiten der Mauer. Es folgten drei Werke über die Wende: die Kollektivproduktion Im Glanze dieses Glückes (1990), Rodina heißt Heimat (1992) und Lichter aus dem Hintergrund (1998). In Letztgenanntem wird der Fotograf Robert Paris porträtiert.Wie Glück möglich ist2001 widmete sich Reidemeister in einem Film den Insassinnen des Frauengefängnisses Gotteszell. Ihre Arbeiten blieben, allen Debatten zum Trotz, parteiisch, ohne deswegen vorhersehbar zu sein. Sie erkunden Standpunkte eher aus der Sympathie zu ihren Figuren heraus, fragen, ob die Menschen so frei und glücklich sind, wie es die Umstände erlauben. Die Kritik dieser Umstände, die in vielen Filmen Reidemeisters vorkommt, entwickelt sich folglich auch eher aus der Beschreibung der jeweiligen Unfreiheiten und Zwänge.13 Filme in 40 Jahren, viel ist das nicht. Die Produktionsbedingungen für Dokumentationen, wie Helga Reidemeister sie dreht, sind nicht gut und waren es eigentlich nie. Hervorgebracht wurde dennoch etwas, unter den 13 Werken sind einige, die Helga Reidemeister zu einer der wichtigsten deutschen Dokumentarfilmemacherinnen gemacht haben. Anlässlich ihres 75. Geburtstags am 4. Februar haben die Deutsche Kinemathek und der Berliner Basis-Film Verleih deshalb eine überfällige Werkschau organisiert.Placeholder infobox-1
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