Das war ein ungewöhnliches Bild, das vor einigen Monaten um die Welt ging: Frauen tragen einen Sarg zu Grabe - ein offener Tabubruch in der muslimischen Türkei -, weil sie ein Verbrechen offenbaren wollten. Denn im Sarg lag Kadriye Demirel, ein 18-jähriges Mädchen aus dem türkischen Diyarbakir. Kadriye war schwanger. Deshalb hatte ihr eigener Bruder sie auf bestialische Weise getötet, um die Familienehre zu retten.
Kein Einzelfall. Jedes Jahr geschehen solche Verbrechen Dutzende Male in der Türkei und in manchen islamischen Ländern. Darüber wird aber kaum diskutiert. Diesmal wird es anders sein, dafür haben die Sarg tragenden Frauen gesorgt. Hierzulande ermöglicht nun die ägyptische Autorin Houda Youssef die Diskussion über "die Sexualität muslimischer Frauen". Denn in ihrer Anthologie Abschied vom Harem? Selbstbilder - Fremdbilder muslimischer Frauen benutzt sie andere Bilder als die gewohnten. In ihrem Buch geht es nicht um Vielehe, Verschleierung, Steinigung und ähnliche Themen, durch die muslimische Frauen gemeinhin in den Medien präsentiert werden. Youssefs Anthologie stellt auch das humanistische Welt- und Selbstbild des Abendlandes nicht in Frage. In ihrem Buch geht es vielmehr um das Welt- und Selbstbild der Frauen aus dem Morgenland als Betroffene. Denn bis auf eine Ausnahme sind alle Beiträge dieses Buches von Autorinnen geschrieben worden, die in islamisch geprägten Ländern leben oder muslimisch sozialisiert sind. Wie etwa Leila Ahmed, die in Harvard Religion unterrichtet, oder die Ärztin Nawal El-Saadawi, deren Sachbuch Frauen und Sexualität viele Jahre lang in Ägypten verboten war, oder Azza Karam, die als Leiterin des Frauenprogramms "World Council for Religion und Peace" in New York bekannt ist, oder Fatima Mernissi, die als "Matriarchin der magrebinischen Frauenbewegung" gilt und nicht zuletzt die Professorin Mona Fayad mit ihrem Beitrag, der den satirisch anmutenden Titel Die arabische Frau und Ich trägt.
All diese Autorinnen entwerfen ein vielschichtiges Bild von sich und ihren "Schwestern" und diskutieren über grundsätzliche Fragen: etwa, warum man sich im Zeitalter der Globalisierung mit Ursprüngen und Zielsetzungen der islamischen Bewegungen erst einmal näher auseinandersetzen sollte, wenn man schon die Ansicht vertritt, dass es sich dabei ohnehin um nur regressive und zum Misserfolg verurteilte Bestrebungen handelt. Die Bandbreite der Beiträge reicht von sehr persönlichen Berichten bis zu theoretischen Texten, in denen die Autorinnen sich mit der Sexualität im Islam, dem Feminismus und der Zwangsverheiratung beschäftigen.
Aber nicht nur die gesellschaftliche und rechtliche Situation der arabischen Frau stehen in dieser Anthologie zur Debatte, sondern auch ihre geistige Entwicklung und die kulturell bedingte Wahrnehmung ihres Körpers. Ist die Emanzipation der arabischen Frau möglich? Mit dieser Frage beschäftigt sich Nawal El-Saadawi in ihrem Artikel: Das Bewusstsein der arabischen Frau - Die Generation unserer Mütter und Großmütter. Mit Skepsis beobachtet sie die Elitefrauen in ihrem Land, die einen hohen Bildungsgrad erreicht haben, sich aber nicht wesentlich von den Männern unterscheiden. Denn "diese arabischen Frauen wurden Opfer eines amerikanisch geprägten, kritiklosen, mentalen wie materiellen Konsumdenkens, das durch die Massenmedien im Zeitalter der Globalisierung verbreitet wurde." Dass sie sogar unverschleiert in der Öffentlichkeit auftreten, überzeugt El-Saadawi nicht, um sie für "emanzipiert" und "befreit" zu halten. Ihr "mentaler Schleier" sei weitaus folgenreicher als irgendein anderer: "Da er fürs Auge nicht sichtbar ist", so El-Saadawi.
Leila Ahmed hebt den "emanzipierten" und sensiblen Umgang der islamischen Rechtsgelehrten im Mittelalter mit dem weiblichen Körper hervor. Das belegt sie mit vielen mittelalterlichen islamischen Diskussionen, der Rechtsprechung zu den Themen Zeugung und Abtreibung sowie - nicht zuletzt - mit dem Koran und den Hadith-Texten. Sie bezieht sich auch auf Untersuchungen, die der arabische Autor Basim F. Musallam in seinem wichtigen Werk Sex and Society in Medieval Islam dargelegt hat. Sie schreibt in ihrem Beitrag Arabische Kultur und das (Be)Schreiben von Frauenkörpern, dass im mittelalterlichen Islam eine Abtreibung bis zum Ende des vierten Monats erlaubt war. "Auch eine Abtreibung wurde in manchen Fällen gestattet", fügt sie hinzu, "obwohl in dieser Angelegenheit weniger Einstimmigkeit herrschte." Hinsichtlich der Empfängnisverhütung lautete in dieser Zeit die Frage etwa nicht: Verhütungsmittel, ja oder nein! Sondern, ob eine Ehefrau die Zustimmung ihres Mannes brauchen würde, um zu verhüten. Zugunsten der Frau hätten die meisten Rechtgelehrten dagegen gestimmt. All diese Beispiele sollen offenbaren, dass die islamischen Vorstellungen von weiblicher Körperlichkeit "komplex und positiv" waren. Nawal El-Saadawi als Vertreterin einiger arabischer Forscherinnen streitet diese These vehement ab. In ihrem Buch Tschador bezeichnet sie die von der islamischen Kultur geprägten Einstellungen als "negativ und ablehnend" und beschreibt ausführlich die unerträgliche Gewalt, die auf Frauen ausgeübt wird; von der Beschneidung bis zur physischen Wiederherstellung der Jungfräulichkeit.
Dass das Thema "Stellung der Frauen in islamischen Ländern" in Anthologien wie Abschied vom Harem? widersprüchlich erörtert wird, ist kein Novum. Neu ist aber, dass diese Frage hier aus einem "normabweichenden" Blickwinkel thematisiert wird: Leila Ahmed behauptet, dass in den islamischen Texten, besonders in den Hadithen, "die Stimme, die Erfahrung und die Sichtweise der Frauen" in Bezug auf die Wahrnehmung ihres Körpers, aufgenommen wurden, obwohl muslimische Frauen kaum eine Rolle in der tatsächlichen Niederschrift der Texte spielten. Fatima Mernissi belegt freilich in ihrem Beitrag Die islamische Konzeption einer aktiven weiblichen Sexualität das Gegenteil: "Die Botschaft des Islam geht davon aus, dass die Menschheit nur aus Männern besteht. Die Frauen stehen außerhalb der Menschheit und sind sogar eine Bedrohung für sie."
Gewiss sind beide Interpretationen durch die islamischen Texte und Überlieferungen belegbar. Was aber die abstrakte Argumentation Ahmeds weniger plausibel erscheinen lässt, ist paradoxerweise das ausdrückliche Ziel solcher Auslegungen in den Hadithen, etwa dass "Frauen ein Recht auf vollständige sexuelle Befriedigung in der Ehe hätten." Das Ziel war nämlich diese zugunsten der Männer und der patriarchalischen Ordnung zu kontrollieren und zu unterdrücken. Denn, wie der meist zitierte islamische Rechtsgelehrte, Imam Al- Ghazali (1050-1111) begründet, gäbe es eine direkte Verbindung zwischen der Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung und der Bewahrung der weiblichen Tugend, die wiederum von ihrer sexuellen Befriedigung abhängt. "Die gesellschaftliche Ordnung ist dann gesichert, wenn sich die Frau mit ihrem Gatten begnügt und nicht fitna, also das Chaos, hervorruft, indem sie andere Männer in unerlaubte sexuelle Beziehungen verstrickt." Und man fürchte im Islam nichts mehr als fitna.
"Sex als Opium der Frauen?" darüber vertreten die Autorinnen dieser Anthologie unterschiedliche Meinungen. Gemeinsam kritisieren sie aber das westliche Verständnis vom Begriff "islamischer Kultur": Ist von deren Akzeptanz die Rede, muss sie westlich orientiert und "modernisierungsfähig" sein, andernfalls ist sie von einem fundamentalistischen Islam geprägt und muss bekämpft werden. Der Tenor aller Beiträge lautet: "Die islamischen Bewegungen haben vieles gemeinsam mit Bürgerrechts-, Frauen-, Umwelt- und ethnischen Bewegungen", wie Irmgard Pinn in ihrem Beitrag Von der exotischen Haremsschönheit zur obskuren Fundamentalistin zusammenfasst. Ein lesenswertes Buch, das viele neue Ansätze zu kontroversen Diskussionen bietet.
Houda Youssef (Hg.): Abschied vom Harem? Selbstbilder - Fremdbilder muslimischer Frauen Orlanda Frauenverlag, Berlin 2004, 368 S., 17,50 EUR
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