Dieses Buch ist das Resümee einer vermeidlichen Enttäuschung. Erlebt haben sie fast alle Intellektuellen in Iran nach der Revolution 1979. In der Hoffnung, eine humane und demokratische Ordnung zu bewerkstelligen, haben sie sich aktiv an dem Sturz des despotischen Schah-Regimes beteiligt. Die religiöse Strömung, die sich allmählich unter der Fahne Ajatollah Khomeinis vereinte, hatte aber ein anderes Regierungskonzept. Als Ajatollah Khomeini um 1964 seine Anhänger aufrief, gegen die Reformpläne der Pahlavi-Dynastie zu demonstrieren, ging es ihm um eine Staatsform, die sich am Islam orientierte.
Die Charakteristika dieses Herrschaftssystems skizzierte er dann mehrfach in seinen Büchern und Kommentaren, nachdem er Mitte der sechziger Jahre ins Exil musste. "Die islamische Republik Iran", wie sich der Staats am persischen Golf offiziell nennt, spiegelt heute nichts anderes wieder als Khomeinis Ideen von damals und sein Verständnis von schiitischer Religiosität. Die iranischen Intellektuellen hätten sich die großen Enttäuschungen ersparen können, wenn sie einst nicht nur Marx, Mao und Marcuse gelesen hätten, sondern auch Ajatollah Khomeinis Schriften.
Die wahrscheinlich 1955 geborene Anglistin Azar Nafisi gehörte ebenfalls zu dieser Gruppe. Eine Reihe ihrer Enttäuschungen hat sie in ihrem Erinnerungsbuch Lolita lesen in Teheran verarbeitet. Sie ist - wie viele andere - unmittelbar nach der Revolution in ihre Heimat zurückgekehrt und begann an den Universitäten Teherans englische Literatur zu lehren. Ihr Curriculum unterschied sich in diesem Zeitraum von den Lehrplänen ihrer Kollegen, die auch Nabokov, Henry James und Jane Austen unterrichteten, durch ein einziges Buch: Lolita.
Nabokovs Meisterwerk wählte sie nicht etwa aus, weil das Phänomen seines Antihelden Humbert der iranischen Gesellschaft fremd war. Im Gegenteil: Es gibt in diesem Land viele Lolitas, die gesetzestreu von den älteren Männern "in Besitz genommen" werden. Über ihr Schicksal darf und durfte man dennoch nicht in einem Literaturseminar diskutieren. Deshalb wählte die engagierte Literaturdozentin Nafisi sieben ihrer besten Studentinnen aus, um mit ihnen in ihrem Wohnzimmer Lolita zu lesen. Doch im Herbst 1995 gibt Nafisi freiwillig ihre letzte Stelle an der Universität auf.
Zunächst schwor sie Anfang der achtziger Jahre vor ihren Lieblingsstudentinnen, nie ihren Beruf verschleiert auszuüben. Ihre unmäßige Leidenschaft zur Literatur lässt sie freilich ihren Lebensschwur brechen und sie begann auf Einladung einer couragierten Regierungsfunktionärin wieder an der Uni zu unterrichten. Bei dieser gewichtigen Entscheidung steht Nafisi ihr Mentor, der "Zauberer", ein Freund, der sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hat, mit seinen weisen Ratschlägen bei. Er bringt ein entscheidendes Argument vor: "Lady, würdest du dir bitte klarmachen, wo du lebst? Keiner von uns kann ohne den Segen der Sittenwächter des Islamischen Regimes auch nur ein Glas Wasser trinken. Du liebst deine Arbeit, also los, gönne dir was und akzeptiere die Realität."
Nafisi akzeptiert nicht nur diese Realität, sie dokumentiert sie gleichzeitig, um sie später mit ihren Erwartungen vergleichen zu können. Das Resultat ist das Dokument einer hochkomplexen Enttäuschung, die Nafisis in einer eleganten Subjektivität darbietet. Auf 421 Seiten in fünf Kapiteln analysiert die versierte Literaturdozentin Werke englischer und amerikanischer AutorInnen und zieht Parallelen zu den Schicksalen ihrer Lieblingsstudentinnen, um die Betroffenheitsebene ihres Buches lebendiger herauszustellen. Als Chronistin stellt sie ebenfalls die iranische Zeitgeschichte in 17 Jahren dar: Von der Revolution 1979, dem achtjährigen Iran-Irak-Krieg bis zu Präsidentschaft Haschemi Rafsandjanis. Mit Bewegung liest man die Schilderung, wie ihre jungen Studentinnen verhaftet und ins Gefängnis gesteckt werden. Sie berichtet einfühlsam über die öffentlichen Hinrichtungen und auch darüber, wie die Frauen anfangs gegen die Schleiervorschriften demonstriert haben und daraufhin routiniert zusammengeschlagen wurden. Nur mit der heilenden Kraft der Literatur und der Phantasie, so suggeriert Nafisi, konnten sie und ihre Gruppe diese düsteren Zeiten überleben.
Als sie Mitte der neunziger Jahre dann doch beschloss, das Land zu verlassen, funktionierte diese Überlebensstrategie nicht mehr. Der Auslöser: Eine Razzia von Sittenwächtern in einem Café, in dem sie sich mit ihrem Mentor traf, um Cappuccino trinkend über Audens Letter to Lord Byron zu diskutieren. Die Revolutionswächter suchen nach den nicht verheirateten Paaren, die sich sittenwidrig beim Kaffeetrinken vergnügten. Schnell und schuldbewusst setzt sich der Zauberer an einen anderen Tisch und lässt die Autorin an ihrem Platz alleine zurück. "Jedes Mal, wenn so etwas passierte, dachte ich wie viele andere ans Weggehen. Ich wollte an einem Ort sein, an dem der Alltag kein solches Schlachtfeld war."
Sie verließ das Land unmittelbar nach diesem Vorfall, um später mit ihrem Buch ein literarisches Schlachtfeld gegen die islamischen Despoten zu eröffnen. Ihr folgten fünf ihrer Privatstudentinnen. Aus ihren Erinnerungen setzt Nafisi erbarmungslos das finstere Bild ihrer Dozentenzeit in Iran zusammen und findet dafür eine unverbrauchte und reine Prosa.
Mit einer ähnlichen Dramaturgie wie der Film Der Club der toten Dichter zeigt Lolita lesen in Teheran die Zauberkraft der Kunst und der Phantasie: "Wie kann die Seele sonst überleben?" fragt sie. Politische Aufklärungsarbeit war eigentlich nie die Aufgabe der (autobiographischen) Literatur. Nafisi, die heute englische Literatur an der John Hopkins University in Washington lehrt, zeigt, dass sie dazu doch imstande ist. Mit den Anti-Auflärern George W. Bush, der Iran auf die Liste der "Achse des Bösen" gesetzt hat und dem iranischen Staatspräsidenten Ahmadi-Nejat, der Israel von der Weltkarte radieren will, dürften die Zauberkraft der Phantasie und der Kunst aber weiter auf eine harte Probe gestellt werden.
Azar Nafisi: Lolita lesen in Teheran. Aus dem Amerikanischen von. Maja Ueberle-Pfaff. Deutsche Verlags-Anstalt, München 421 S., 17, 90 EUR
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