"Eine Rupie für jeden. Nur eine Rupie für jeden, und ich werde den Vorhang der Wahrheit für euch zur Seite schieben", ruft der alte Wahrsager in dem Roman Drachenläufer. "Eine Rupie ist doch für die Wahrheit nicht zu viel verlangt." Wahrhaftig nicht. Mit der Haltung eines Wahrsagers bieten uns zwei afghanische Autoren an, die Wahrheit über ihr Land zu erzählen: der 38-jährige Khaled Hosseini und der 41-jährige Atiq Rahimi. Dass beide Autoren seit ihrer Jugendzeit (Hosseini mit 15 und Rahimi mit 22) ihr Land verlassen haben, sollte uns dabei nicht stören. Denn ihre subjektive Wahrheit erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Außerdem kehrten beide Autoren unmittelbar nach der "Befreiung" Afghanistans in ihre Heimat zurück; Rahimi, um als Filmemacher Dokumentarfilme zu drehen und Hosseini, des Nichtvergessens wegen.
Sie schreiben über den Schrecken des Krieges, die Revolutionsgräuel der Kommunisten und die Exzesse der wilden Mudschaheddin. Man wird Zeuge des Leidens unter der gnadenlosen Gewalt der Taliban und der inhumanen Nebenwirkungen der "Befreiungs"-Bombardements der Vereinigten Staaten gegen den Terrorismus. Während sich der Schauplatz des Romans Drachenläufer von Nordkalifornien über Afghanistan ausdehnt, spielen sich die Geschichten in den Erzählungen Erde und Asche und Der Krieg und die Liebe fast nur in einem Zimmer in Kabul oder vor einer abgelegenen Kohlengrube in dieser Stadt ab. Hosseini spannt ein breites Spektrum von Handlungen und Personen aus, derweil Rahimi sich mit wenigen Figuren und ohne große Handlung begnügt. Beiden gelingt es aber, das Elend eines Vierteljahrhunderts und das eines ganzen Volkes spürbar zu machen.
Ganz im Stil der amerikanischen Unterhaltungsliteratur erzählt Hosseini von der Geschichte des in Kabul aufgewachsenen zwölfjährigen Amir, der unbedingt einen Wettbewerb im Drachensteigen gewinnen will. Auf diese Weise kann er nicht nur seinen Vater beeindrucken, sondern auch von allen Seiten Achtung und Anerkennung gewinnen. Ohne Hilfe seines gleichaltrigen Freundes Hassan dürfte es ihm aber nicht gelingen, diesen Ruhm zu erlangen. Obwohl Hassan als Sohn des Dieners von Amirs Vater in seinem Haushalt lebt, pflegen Amir und Hassan eine enge Freundschaft miteinander. Die Milch, die beide von der Brust derselben Amme getrunken haben, verbindet sie traditionell auf eine brüderliche Ebene. Denn Hassans Mutter weigerte sich nach der Entbindung, ihn zu stillen und verschwindet unmittelbar nach seiner Geburt unauffällig.
Hassan hilft seinem Freund-Bruder Amir bis zum Ende des erfolgreichen Wettkampfs aufopfernd. Amir enthält ihm aber seine Unterstützung später vor, als Hassan in einer heftigen Auseinandersetzung auf schreckliche Weise verprügelt, erniedrigt und vergewaltigt wird. Dieser Verrat verändert das Leben beider dramatisch, ihre Wege trennen sich.
Viele Jahre später kehrt der erfolgreiche, verheiratete, aber kinderlose Amir aus dem Ausland in seine von mehreren Kriege und Verwüstungen gezeichnete Heimatstadt Kabul zurück, um seine Schuld zu tilgen. In bizarren Bildern schildert der Autor, wie die Armut und der Wahnsinn des Krieges die wehrlosen Menschen zu irrsinnigen Taten treiben: Zwei Männer unterhalten sich angeregt an einer belebten Straßenecke. Einer der beiden balancierte auf einem Bein; von dem anderen war nur ein Stumpf übrig geblieben. Die Prothese hielt er wie ein Kind im Arm und feilscht um sein "Bein", um es teuer zu verkaufen. "Auf dem Schwarzmarkt kriegt man gutes Geld dafür. Und für die Kinder ist dann erst einmal wieder ein, zwei Wochen lang gesorgt", kommentiert der Begleiter Amirs. Sie gehen weiter, um an der nächsten Ecke von noch erschütternderen Bildern erwischt zu werden.
Dennoch endet der Debütroman des in San Francisco lebenden Arzt Hosseini nicht düster. Denn er hält die Freundschaft für ein Geschenk Gottes, die ewig anhält und das Elend und den Schmerz für etwas Vorübergehendes. Mit einem schäbigen Optimismus macht er zwar den Leser zum Zeugen der dramatischen Schicksale der beiden Jungen, vernachlässigt aber das Gebot der Mainstreamliteratur, die nie ohne Happy End ausklingt, nicht. So schafft es der kinderlose Amir nach Überwindung etlicher Schwierigkeiten am Ende denn doch, den Sohn Hassens, der in einem Waisenhaus unter schrecklichen Umständen lebt, zu adoptieren. Damit rettet Hosseini auch seine streckenweise wackelige Romanstruktur, die sich bisweilen in Nebenhandlungen und in den Geschichten der Nebenfiguren verliert. Denn so schlägt er eine Brücke zwischen dem roten Faden der Haupthandlung, der Trennung in der Vergangenheit und den Wiedergutmachungsversuchen Amirs in der Gegenwart.
Sehnsucht, Enttäuschung und Liebe sind die Themen, die Atiq Rahimi in seinen Erzählungen Erde und Asche und Der Krieg und die Liebe mit eleganter Schwermut hin und her wendet, ohne sich allzu große Variationen zuzumuten. Die französische Ausgabe seines Debütromans Erde und Asche schrieb Rahimi mit 39 Jahren in seiner Muttersprache, dem afghanischen Persisch. Die schmale Erzählung (89 Seiten mit großen Buchstaben) erschien unbeachtet von allen Medien 1999 in seiner zweiten Heimat Paris. Erst nach dem 11. September 2001, als das Land am Hindukusch schlagartig in den Mittelpunkt der Weltpolitik trat, wurde sein Werk neu aufgelegt und verkaufte sich blendend.
Rahimi spannt seine Stoffe, verliebt in den Schmerz von Verlust und Ausweglosigkeit, immer wieder um den gleichen Kern. Er setzt in seinen Büchern auf die Wirkung irreführender Gefühle und den Rhythmus von Suchen, Nichtfinden oder doch Finden und gleich wieder Verlieren. In Erde und Asche erzählt er die Geschichte eines alten Mannes und seines Enkels Yassin, die als Einzige eine Aktion der sowjetischen Besatzungsarmee gegen ihr Dorf überlebten. Yassin ist im Wirrwarr des Bombenhagels taub geworden und begleitet nun seinen Großvater zu einer Kohlengrube, in der sein Vater Murad arbeitet. Obwohl sich der alte Mann vor der Begegnung mit Murad fürchtet, will er ihm doch über den brutalen Tod des Restes seiner Familie persönlich berichten.
In kargen Sätzen und mit einer verdichteten Atmosphäre schildert Rahimi die angespannte Innenwelt des alten Mannes, seine Gedanken und seine Ratlosigkeit. "Kummer schnürt dir die Kehle zu. Du schließt die Augen und weinst lautlos in dich hinein. Ein Mann weint nicht! Weshalb? Lass doch den Kummer schmelzen." Der Trost wird aber von der Enttäuschung zugrunde gerichtet. Denn es gelingt ihm nicht, seinen Sohn zu sehen. Murads Vorgesetzte planen, ihn zu einem Lehrgang in die Sowjetunion zu schicken und einen Musterproletarier aus ihm zu zaubern. Zu diesem "guten" Zweck opfern die Machthaber die Wahrheit zu ihren Gunsten und teilen Murad mit, dass nicht die Russen, sondern die Mudschaheddin seine gesamte Familie- auch den Vater und den Sohn - ermordet hätten.
Die Hauptfigur der Erzählung Der Krieg und die Liebe ist kein Arbeiter, sondern der Student Farhad. Wir begegnen ihm am Anfang der Geschichte halb im Delirium, in einen schmerzvollen Suff gesunken. Wenn Farhad von seinen erlittenen Misshandlungen erwacht, erfahren wir, dass er in der Obhut einer ihm fremden jungen Frau namens Mahnas ist, die ihn vor den Regierungsschergen draußen gerettet hat. Später wird Mahnas´ Motiv verraten: Ihr Mann ist auch als Widerstandskämpfer vor einiger Zeit im Gefängnis umgekommen. Zwischen der gutmütigen Witwe und Farhad entsteht eine subtile und zarte Liebe, die sich in kurzen Blickkontakten und in der Krankenpflege seitens Mahnas andeutet. Farhad offenbart seine innige Zuneigung, der aber keine Taten folgen, dem Leser hemmungslos: "Keine Frau ist je so tief in meine Gedanken und in mein Dasein eingedrungen. In einer Nacht habe ich mit einer Frau tausend Augenblicke erlebt, als hätte sich zwischen uns etwas Besonderes ereignet."
Die kurze und kunstvolle Geschichte erfahren wir ausschließlich aus trancehaften Monologen, Träumen und kurzen Wach-Einschüben des Ich-Erzählers Farhad, der wegen einer absichtslosen Nichtbeachtung der nächtlichen Ausgangssperre von den Soldaten des Hafizullah Amin, des zweiten der vier kommunistischen Staatspräsidenten, bewusstlos geschlagen worden ist. Um weitere politisch bedingte Gefahren auszuschließen, arrangiert die bedachte Mutter Farhads seine Flucht, die wiederum mit anderen Gefahren verbunden ist. "Halt", mit dem Wort geht die noch nicht angefangene Liebesgeschichte zwischen dem Student und Mahnas zu Ende. "Vor den Stiefeln des Soldaten fällt mir ein schwarzer Schleier über die Augen. Ist es schon Nacht geworden? So rasch!"
Mit schlichten Sätzen, in denen nur der Tonfall um eine Nuance in die Schwermut rutscht und 80 banalen Dingen übergroße Bedeutung verleiht, erzählt Rahimi beiläufig von den wichtigen Momenten im Leben seiner Hauptfigur. Aus diesem merkwürdigen Kontrast erzeugt er geschickt eine leidvolle Stimmung, die wunderbar zu dem traurig-trotzigen Inhalt der schmalen Erzählung passt. So besteht die ständige Spannung nicht aus äußerlichen Konflikten. Sie besteht zwischen dem Erzähler und dem Rest der realen Welt. Obwohl diese Welt manchmal überscharf und manchmal verschwommen dargestellt wird, besitzt sie eine erstaunliche Kraft, die aus der dunklen Macht der grausamen Wirklichkeit auswächst. Gerade so entstehen eindrückliche Bilder, die mit großer Zurückhaltung geschrieben worden sind, aber mit eleganter Großzügigkeit den Vorhang der Wahrheit zur Seite schieben.
Atiq Rahimi: Der Krieg und die Liebe. Roman. Aus dem afghanischen Persisch von Susanne Baghestani. Claassen, München 2003, 172 S. 16 EUR,
List-Taschenbuch 7,95 EUR
Atiq Rahimi: Erde und Asche. Übersetzt aus dem afghanischen Persisch von
Susanne Baghestani. Claassen, München 2003, 98 S., 13 EUR ,
List-Taschenbuch, 5 EUR
Khaled Hosseini: Drachenläufer. Roman. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Angelika Naujokat und Michael Windgassen. Berlin, Berlin 2003, 415 S., 22 EUR,
btv-Taschenbuch, Berlin 2004, 10,50 EUR
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