Man hat den Eindruck, im Morgenland zu sein, wenn man den Debütroman von Nada Awar Jarrar Zu Hause, irgendwo zu lesen beginnt. Das bleibt auch so. In den ersten zwei des aus drei Teilen bestehenden Buches lernt man vier Frauen kennen; Maysa, Alia, Saida und Aida: Vier sensible, naturverbundene, arbeitsame und zufriedene Frauen, die dankbar sind, den Duft einer heimatlichen Nacht einatmen und sich der Faszination des weichen, blauen Mittelmeers hingeben zu können.
Erst im dritten Teil, der die Geschichte der fünften Frau, Salwa, erzählt, stellt man fest, dass der anfängliche Eindruck täuscht. Man befindet sich irgendwo in weiter Ferne. Salwa wurde ihr Zuhause trick- und täuschungsreich gestohlen; das Haus, das der Großvater der ersten Frau (Maysa) vor seiner Hochzeit gebaut hat und in dem die 46-jährige libanesisch-australische Autorin ihre fünf Frauenfiguren jahrelang leben lässt, ist nicht Salwas zu Hause. Aber erst mit ihrer Geschichte, die leise, unter Verwendung von vertrauten Bildern erzählt wird, schließt sich ein Kreis, der heute viele Schicksale orientalischer Frauen bestimmt.
Salwa verbringt, umgeben von ihren besorgten Kindern, die ihr mit arabischer Musik, Sprache und mit den Spezialitäten aus Beirut ein Gefühl von Zuhause zu vermitteln versuchen, ihre letzten Tage im Pflegeheim einer australischen Kleinstadt, halb wach, halb im Koma. In Rückblenden scheint ihr Leben auf, lautlose Erinnerungen an eine Kindheit in jenem Haus, das einst dem Großvater von Maysa gehörte, die wiederum von ihrem Leben mit der Tochter berichtet und fortwährend vom Schicksal des Vaters erzählt: Aus Bruchstücken und Fragmenten entsteht ein buntes, abwechslungsreiches Bild voller Sehnsucht nach dem Vertrauten.
Diese verschachtelte Erzählstruktur soll die Geschichte der Familie Adnan aus Beirut, geprägt von Flucht und Heimatlosigkeit, entstehen lassen. Sie flüchtet vor den Bürgerkriegswirren in ein Dorf im Libanongebirge und von da aus nach Australien. Auf diese ungewollte Reise nimmt Salwa außer zwei kleinen Koffern nur die Erinnerungen an eine Kindheit ohne Vater, an die Sitten und Traditionen ihrer vertrauten Kultur mit.
Niemand hat sie gefragt, ob sie auswandern will. Der Mann plant monatelang heimlich die Ausreise. Als alles vorbereitet ist, lockt er Salwa mit dem Baby nach Beirut, um "einen Ausflug zu machen". Und zwingt sie, das Schiff zu besteigen. Sie weigert sich vehement. Erst als ihr der Mann das Baby mit Gewalt entreißt und aufs offene Deck springt, folgt sie ihm. Das neue Leben hat für sie keine Reize; sie leidet unter Sehnsucht und Heimweh. Die Qual der willkürlichen Trennung von ihrer Heimat, der Schmerz einer ungerechten Verbannung begleiten sie bis zu ihrem Tod, hinterlassen Wunden in der einsamen Seele, die in den 27 Jahren der Fremde nicht geheilt werden können.
Zu Hause, irgendwo ist ein Buch vom Abschied, artifiziell herausgearbeitet die zehrende Sehnsucht, die nicht nur Charaktere, sondern den gesamten Alltag prägt. Als ob diese Sehnsucht nach der alten Heimat nur Güte in den Figuren hervorruft, sie in liebevolle, verständige und wohlwollende Menschen verwandelt. Es gibt keinen harten Ton im Text. Was nicht ausschließt, dass Grausamkeiten fast selbstverständlich geduldet, Ungerechtigkeiten mit Sanftmut und Habibi, Habibi beantwortet werden.
Obwohl die Familie Salwas vor dem Krieg flieht, bleibt er in weiter Ferne. Er ist ein "Wort", das man nicht aussprechen darf. Es birgt Unheil. "Wenn ich meinen Sohn das nächste Mal in den Armen halte, werde ich ihm sagen, dass der Krieg die Menschen nicht auf das Leben vorbereitet, sondern ihnen entreißt, was an Leben in ihnen ist", denkt die sterbende Salwa, als der Sohn sie streichelt. Worte findet sie nicht mehr. Krieg ruft in ihr jene tonlose Angst hervor, die ihre Gedanken bis zur Unaussprechlichkeit verdichten. Und so bleibt ungesagt, was arabische Frauen auch ihren Kindern mit auf dem Weg geben wollen. Es reduziert sich auf das Männergeschwätz, nach dem der Krieg Ausbildungsplatz ist. Auch für den Sohn, der als künftiger Medizinstudent nach Beirut zurückkehrt, um seinen Wehrdienst zu absolvieren und seiner Mutter schreibt: Er könne "dort alles ausprobieren, was er für sein Studium" brauche. Eine Perspektive, die der Mutter den Atem nimmt.
Vom Leben in Australien gibt diese Frau nicht viel preis. Isoliert, dem Mann und den vier Kindern zugewandt, macht sie sich nie mit den Lebensverhältnissen in diesem Land vertraut. Das fatale ist, auf diese Weise leben Eltern und Kinder in verschiedenen Welten. "Wir sind unterwegs in den Libanon; und meine drei Töchter sind durch nichts zu bewegen, etwas mehr Begeisterung an den Tag zu legen. Sie haben Angst vor dem, was vor ihnen liegt, und ich kann es ihnen nicht verdenken, denn auch mir ist ein wenig bange bei dem Gedanken, was ich nach siebenundzwanzig Jahren wohl zu Hause vorfinden werde." Dass Vater Adnan ihnen "gute Ehemänner" verschaffen will, ahnen sie nicht. Sohn Richard bleibt allein in der Fremde und Sorgen macht sich auch niemand. Denn zur "traditionellen" Erziehung gehört: "Jungen können verweichlichen, wenn man ihnen zu viel Liebe zeigt". "Meine Jungen werden Männer sein", sagte die Großmutter und Adnan ist einer von ihnen. Er wünscht, dass seine Kinder genau jenen Normen entsprechen und seine Frau ist außerstande, andere Normen zu setzen. Sie ist eine liebenswerte, manchmal aufbegehrende, aber in der Tradition verhaftete Frau, die völlig in Ordnung findet, dass sie in der traditionell arabisch-islamischen Familie keine öffentlicher Rolle spielt. Nie würde der Ehemann den Namen seiner Ehefrau in der Öffentlichkeit aussprechen. Er nennt sie "das Haus".
Vielleicht umfasst Sehnsucht nach zu Hause ja auch, ein Schicksal zu teilen, dass man in der Fremde allein tragen muss. Vielleicht hat Heimweh etwas mit Landschaften zu tun, die das Leben prägen und nur dort auch in der traditionellen Form gelebt werden können.
Der Roman Zu Hause, irgendwo stellt die vom Heimweh geprägten Schicksale von Frauen dar.
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