Was bringt zwei grundsätzlich unterschiedliche Romane zusammen, wenn weder deren Autoren sich ähneln noch die Figuren und Schauplätze? Die Erzähltechnik in beiden Büchern unterscheidet sich ebenfalls gewaltig voneinander, genauso wie die Zeit, in der sich die jeweilige Geschichte abspielt. Die Rede ist von dem Roman des französischen Schriftstellers Eric-Emmanuel Schmitt mit dem verführerischen Titel Monsieur Ibrahim und die Blumen des Korans und vom Debütroman der iranischen Schriftstellerin Chahdortt Djavann mit dem Namen Parvaneh heißt Schmetterling. Der letztere trägt im Original den Titel Je viens d´ailleurs. Vielleicht ist es die unterschiedliche Haltung beider Protagonisten, die die Verwandtschaft der Bücher ausmacht?
Die Geschichte des Monsieur Ibrahim wird von Moses, einem Jungen jüdischer Abstammung als Ich-Erzähler, der in Paris lebt, dargestellt. Die Protagonistin des Romans von Djavann, Chahdortt, ist nur ein Jahr älter als Moses, als Khomeini im Jahre 1979 im Iran die Macht ergreift. Mit Elf zerbricht Moses sein Sparschwein und geht "zu den Dirnen". Er beginnt noch im Laden von Monsieur Ibrahim zu klauen, um sein bescheidenes Taschengeld aufzubessern. Weil Terror und Gewalt in Chahdortts Leben dringen, schließt sie sich heimlich einer regimekritischen Organisation an und kämpft rebellisch und mit kindlichem Eifer gegen die täglichen Demütigungen und Ungerechtigkeit. Obwohl Chahdortt bei ihren Eltern wohnt, erfahren sie nichts von den politischen Aktivitäten ihrer Tochter. Moses lebt auch mit seinem vergrämten Vater, und zwar "mehr als Sklave als der Sohn eines Rechtsanwalts ohne Fälle und ohne Frau". Um dem väterlichen und gesellschaftlichen Despotismus zu entfliehen, finden Moses und Chahdortt in Freundschaften Zuflucht. Moses empfindet eine innige Zuneigung zum Ladenbesitzer Monsieur Ibrahim, als er erfährt, dass Ibrahim ihn die ganze Zeit beim täglichen "Mopsen" beobachtet und seinen Unfug toleriert hatte. Chahdortt schließt eine intime Freundschaft mit ihren drei Schulkameradinnen, die mit ihr gegen den Eingriff der bewaffneten Passdaran (Revolutionswächter) protestieren.
So bringen der 43-jährige Eric-Emmanuel Schmitt und die sieben Jahre jüngere iranische Schriftstellerin Chahdortt Djavann die Lebensgeschichten zweier Jugendliche in Narrative, in denen Freundschaft und Glaube eine große Rolle spielen. Denn Monsieur Ibrahim, der seit mindestens vierzig Jahren als Araber in der jüdischen Straße Rue Bleue lebt, gilt als weiser und echter Muslim. Die Passdaran, die Chahdortts Freundinnen ermorden, töten die unschuldigen Menschen auch im Namen des Islam.
Mit schnellen Schnitten und flottem Stil erzählt uns Schmitt, dass Monsieur Ibrahim doch kein Araber ist und ursprünglich vom "Goldenen Halbmond", also aus der Türkei kommt. Ibrahim verteidigt mit ruhigem Gewissen den Vater Moses´, der sich ein paar Monaten nach Beginn ihrer platonischen Freundschaft umbringt und Moses schutzlos in der grausamen Welt alleine lässt. Monsieur Ibrahim, der sich im Laufe der Geschichte immer wieder auf sein heiliges Buch Koran beruft, hat erstaunlicherweise Verständnis für den Selbstmord des Vaters und bittet Moses, seinem Vater den Freitod nachzusehen. Der erfolglose Rechtsanwalt hatte eine traurige Kindheit, unbehütet und einsam ohne Eltern. Sie seien eines Tages von Nazis abgeholt und in einem Konzentrationslager umgebracht worden. Daraufhin adoptiert Monsieur Ibrahim Moses. Sie fahren dann in die Heimat von Monsieur Ibrahim, in sein "Geburtsmeer", um zu erfahren, wo er herkommt.
Chahdortt kehrt auch in ihre Heimat zurück, nachdem sie wie durch ein Wunder dem herrschenden Grauen nach der islamischen Revolution im Iran entkommt, nach Frankreich flüchtet und dort ihr Studium als Sozialwissenschaftlerin absolviert. Ihre Reise nach Teheran ist zugleich die Begegnung mit der Vergangenheit, in der ihre besten Freundinnen spurlos verschwanden. In ihrer Heimat besucht sie verschiedene Orte, unter anderem den Friedhof "Zahras Paradies". Dort herrscht Endzeitstimmung. Sie erinnert sich an alle, deren Stimmen im Widerstand gegen das islamische Regime verstummten. Sie lernt während ihrer Reise das kleine Mädchen Parvaneh kennen, das in einer banalen Auseinandersetzung mit den Revolutionswächtern verletzt und ermordet wird. Parvaneh führt ihr noch einmal den eigenen Schmerz vor Augen. Ihr wird bewusst, dass sie nur überlebt hat, weil sie aufgehört hat, zu verstehen und zu empfinden.
Die Reise in die Vergangenheit im Roman von Schmitt, der seit 10 Jahren zu den meistgespielten zeitgenössischen Theaterautoren auf internationalen Bühnen zählt, läuft genauso dramatisch. Nach vielen schönen Tagen in Istanbul verliert Moses seinen väterlichen Freund auf tragische Weise. In Paris zurück, findet er aber wieder sein Glück, nennt sich Mohammad, erbt das Geld von Monsieur Ibrahim, seinen Laden und seinen Koran. Für alle Welt wird er dann der Araber in der Ecke. "Araber, was in unserer Branche bedeutet, nachts und auch am Sonntag geöffnet sein", erklärt uns Moses am Schluss.
Die beiden Bücher umkreisen die Realität des Glaubens. In der Parabel Monsieur Ibrahim, der vierte Roman Schmitts, besteht sie aus Toleranz, Weisheit und menschlicher Beziehung, in dem Dichtung und Religion auf einer persönlichen Ebene eng beisammen liegen. Die Wirklichkeit im Roman Parvaneh stützt sich auf ein religiöses System, das taktlos alle Bereiche des menschlichen Lebens umzingelt und allen seine grausame Überlegenheit aufzwingt.
Um das fassbar zu machen, schlagen Schmitt und Djavann unterschiedliche Wege ein. Schmitts Weg führt in eine wunderbar humorvolle Verdichtung der Sprache und Djavanns ins Offene, wo die Erzählkunst äußerste Leichtigkeit erreicht. Den Punkt, an dem die düsteren Erlebnisse der Protagonistin Chahdortt in überzeugenden literarischen Stoff verwandelt werden, sucht man vergeblich. Ihr ging es darum, den üblichen Realismus zu verwenden. Durch die Darstellung des konkreten Fassbaren versucht die Autorin, die mittlerweile auf Französisch schreibt, die tiefe Dimension der Erinnerung entstehen zu lassen. Schmitt setzt hingegen auf kurze, sinnreiche, witzige und bildhafte Sätze, die meisterhaft nebeneinander gesetzt sind, als wolle jeder für sich wie ein Roman betrachtet werden. Mit Recht.
Chahdortt Djavann: Parvaneh heißt Schmetterling. Aus dem Französischen von Anja Nattefort. Ullstein, München 2003, 189 S., 15 EUR
Eric-Emmanuel Schmitt: Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran. Aus dem Französischen von Annette und Paul Bäcker. Ammann, Zürich 2003, 101 S., 12 EUR
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