Gedichte habe ich nie geschrieben", pflegte der bedeutendste Dichter der modernen Poesie Irans, Ahmad Schamlu (1925-2000) immer zu sagen, "sie haben mich geschrieben", betonte er stets. Denn er sah sich nur als ein befähigtes Medium zur Übertragung seiner poetischen Phantasie. So, wie Schamlu sein Verständnis von der modernen Lyrik andeutete, hieß das aber nicht, dass er dem Dichter eine passive Rolle während des kreativen Prozesses zuschreiben wollte. Im Gegenteil. Er glaubte an das aktive "Vorstellungsvermögen des Dichters", an "dessen poetische Kreation", die durch gesellschaftlich und natürlich bedingte Impressionen ausgelöst wird. Aus dieser künstlerischen Quelle produzierte er insgesamt 17 Lyrikbände, seine 45 weiteren Bücher umfassen Kurzgeschichten, Märchen, literarische Essays und Übersetzungen (unter anderem von Majakowskij, Rilke, Lorca), hinzu kommen neun Kinderbücher und die auf den Umfang von rund 50 Bänden angelegte Sozialenzyklopädie Das Buch der Gasse (Keta-e Kutsche), von der bisher sechs erschienen sind.
Der vor kurzem veröffentlichte zweisprachige (Persisch/Deutsch) Lyrikband Blaues Lied beinhaltet einige ausgewählte Gedichte von ihm, die zwischen den Jahren 1968-2001 in seiner Heimat publiziert wurden. Im Ringen mit dem Schweigen ist das einzige im Iran noch nicht erschienene Gedicht, das Schamlus turbulentes Leben widerspiegelt. Eine außergewöhnlich schöpferische Kraft, innovative Gedanken, Ruhm, Widerstand gegen Ungerechtigkeit, Gefängnis und Exil markieren sein 75 Jahre langes Leben, dessen düstere Seite das Gedicht Im Ringen mit dem Schweigen offenbart: Bamdad bin ich/am Ende/müde/eines Kampfes, der, gegen mich allein gerichtet,/erschöpfender ist als jeder andere/(bevor du noch das Ross besteigst, bist du gewiss,/dass eines Geiers mächtiger Schatten/mit breiten Schwingen/das Feld überquert,/Schicksal/deine/blutüberströmte Zauberpuppe/begraben hat,/der bleibt/kein Entkommen/aus Scheitern und Tod)/Bamdad bin ich.
Bamdad war Schamlus Pseudonym, als er, inspiriert von moderner Lyrik im Nima´schen Stil, zu dichten begann. Der Lyriker Nima Joschij (1897-1960), der den Namen Vater der modernen iranischen Lyrik zu Recht verdiente, gab 1922 mit der Veröffentlichung des Gedichtes Die Legende (Afssaneh) der modernen iranischen Lyrik den Kurs vor und versetzte den Traditionalisten einen Schock. Die Legende war der Anfang eines langen Abschieds von der klassischen, formstrengen Dichtung, die zum großen Teil in der Form durch Echoreim, höfische Lobeshymnen und epische Verse, im Inhalt von Rat (Moralpredigt) und Belehrung geprägt war, wenn man einmal von einigen großen weltbekannten Klassikern wie Omar Khyyam, Dschalal-ed-din Rumi, Hefiz und anderen Dichtern des Mittelalters absieht.
In der modernen Lyrik waren Verse von variabler Länge. Dies befreite den Dichter vom Zwang, gleich lange Verse zu schreiben und dadurch unnötige Worte zu fabrizieren. Freies Denken war der Ertrag dieser neuen Art der Dichtung. So rückten anstelle der Redetechnik die Freiheit des Denkens und die Utopien in den Vordergrund. Im Gegensatz zur alten Dichtung, wo jeder Vers eine in sich geschlossene Einheit bildete, stehen in der modernen Lyrik Irans alle Zeilen und Strophen in einer sowohl ästhetisch als auch inhaltlich strukturellen Verbindung.
In diesem Sinne setzte Schamlu den Weg Nimas fort. Anfang der fünfziger Jahre postulierte er dann die Notwendigkeit, das einfachste und leichteste Wort nicht zu scheuen und Wörter der Alltagssprache, Kindersprache und der Straße mit der über tausend Jahre alten Schriftsprache zu verknüpfen. So stehen in seiner Dichtung Alltagswörter und Kinderverse wie selbstverständlich neben klassischen Vokabeln. Schamlu hat über den Umweg der Moderne eine neue Brücke zur altiranischen Lyrik und Folklore geschlagen. Nach Nima wurde er selbst zum Wegbereiter einer neuen zeitgenössischen iranischen Lyrik, die dann später unter dem Begriff "Free Verse" bekannt wurde.
Fast alle von dem Übersetzer Farhad Showghi ausgewählten Gedichte des Bandes Blaues Lied markieren diesen Stil. Im Gedicht der Nebel vom Jahre 1968 will der Dichter noch nicht auf alle Varianten der traditionellen Dichtung verzichten, wobei er in Blaues Lied, gedichtet im 2001, vollständig von Reim und Versmaß Abschied nimmt. Diese Todesart - ein Gedicht aus dem Jahr 1987 - kennzeichnet den Beginn der Souveränität des Dichters in Sprache und Stil. Naturbezogene Metapher und Verschmelzung mit dem Naturgeist sind die wichtigen Elemente in Schamlus Dichtung. In diesem Sinne stellt Diese Todesart die phantasievolle und poetische Auseinandersetzung des Dichters mit dem Tod dar, mit dem er sich besonders in der letzten Phase seines Leben intensiver beschäftigt hat.
Schamlu schrieb zugleich, wie man aus dem vorliegenden Lyrikband entnehmen kann, über Menschlichkeit (Nicht tanzen lass ich dich dem blauen Rauche gleich..." von 2001), Gerechtigkeit (Nachtlied von 1980), Widerstand (Hauptstadt des Durstes von 2001), über Einsamkeit, Vergeblichkeit und Scheitern (Im Ringen mit dem Schweigen von 1993).
In seinen ersten Gedichtbänden, insbesondere Frische Luft von 1957, versuchte er sein gesellschaftlich-politisches Engagement in seinen Gedichten widerzuspiegeln. "Ich bin der Dichter, der das Gedicht des Lebens verkündet", sagte Schamlu über sich selbst. Deshalb wurde er mehrmals ins Gefängnis gesteckt und musste von 1976 bis 1979 im Londoner Exil leben. Nach der islamischen Revolution (1979) kehrte er in seine Heimat zurück, geriet aber bald in politischen Konflikt mit den neuen religiösen Machthabern.
In Blaues Lied vermisst der mit den Werken Schamlus vertraute Leser seine brillanten Liebesgedichte, die besonders im Lyrikband Aida im Spiegel ihre poetische Vollkommenheit vorführen. Trotz der unleugbar großen Schwierigkeiten, Schamlus Gedichte wirklich adäquat zu übersetzen, wünschte man sich zuweilen eine inhaltlich präzisere Übereinstimmung der Übertragung mit dem Original. (zum Beispiel im Gedicht im Ringen mit dem Schweigen, bedeutet das Wort Godaseh "Glut" und nicht "Zauberpuppe". Im dritten Abschnitt heißt der erste Vers "nur wenn du mich rufst" und nicht "nur wenn du mir ein Lied schenkst". Dementsprechend muss man dann den Ausdruck "Flehgesang" am Ende des Abschnittes "Flehruf" übersetzen.)
Der persische Teil des Bandes ist nicht so sorgfältig und liebevoll gestaltet wie der deutsche. Das inhomogene Layout wirkt verwirrend. Manchen Gedichten fehlt der Titel (Nachtlied 3). Manche sind mit den unterschiedlichen nicht fett markierten Kalligraphiengrößen betitelt (Diese Todesart, Noch denke ich an jenen Raben).
Dennoch muss man das beherzte Engagement des Übersetzers und des Verlages schätzen, das zur erstmaligen Herausgabe eines Lyrikbandes des prominentesten Dichter Irans geführt hat, der mehrmals für den Nobelpreis nominiert wurde. Eine CD, auf der die Gedichte des Bandes zum Teil mit der beeindruckenden Stimme des Dichters zu hören sind, macht nicht nur die Sammlung wertvoller, sondern zeigt auch, dass Schamlu im Ringen mit dem Schweigen die Oberhand gewann.
Ahmad Schamlu: Blaues Lied. Ausgewählte Gedichte. Persisch/Deutsch mit CD. Übersetzt von Farhad Showghi. Urs Engeler Editor, Basel 2002, 131 S., 24 EUR
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