Das ist die Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet der iranische Präsident, Mahmmud Ahmadi-Nedjad, mit seinen unendlichen Hasstiraden gegen Juden das Interesse an der jüdisch-iranischen Literatur weltweit geweckt hat. Ohne seine Verbalattacken gegen das Judentum und das "Land der Juden" wären diese Werke wahrscheinlich in der Flut des internationalen Literaturbetriebs versunken. Womöglich wäre etwa der Roman der Schriftstellerin Dalia Sofer Die September von Schiras (Freitag 41/2007) nie veröffentlicht worden. Oder die Erfahrungen der Autorin Roya Hakakian als Jugendliche im Iran der Revolutionszeit, das in diesem Frühjahr unter dem Titel Bitterer Frühling erscheint. Und auch das Schicksal der Hauptfigur in dem wunderbar konstruierten und in melancholischem Ton erzählten Roman Regen am kaspischen Meer der Schriftstellerin Gina Nahai hätte wohl kaum Gehör gefunden.
Nahai nennt ihre Protagonistin Jass. Ihr Name hat, je nach Betonung des Buchstabens A, zwei Bedeutungen: die gängige ist Jasmin, wie die Blume, die zweite lautet "Hoffnungslosigkeit". Jass verkörpert letztere Bedeutung, weil sie im Roman immer am Rand eines Abgrunds steht. Sie findet es besonders "gemein", dass die gleichen vier Buchstaben das scheußliche Gesicht der Verzweiflung und zugleich die Schönheit von Jasmin enthalten. Schön ist aber Jass nicht. Sie sieht nicht so aus, wie man sich eine Jüdin vielleicht vorstellt: Rote Haare und ein blasses Gesicht mit Sommersprossen. Nach iranischen Schönheitsmaßstäben ist sie sogar hässlich. Wegen ihres Aussehens wird sie aber nicht gebrandmarkt, auch nicht wegen ihrer Religion, sondern weil sie Tochter einer Jüdin namens Bahar ist, die es wagt, das jüdische Armenviertel in Teheran zu verlassen und sich durch Heirat mit einem reichen und hartherzigen Juden namens Omid an die besseren Kreise anzuschließen.
Thematisch schildert der Roman Regen am kaspischen Meer die Klassenhierarchie unter den iranischen Juden und lässt bewusst die politischen Verhältnisse unter dem herrschenden Regime außer Acht. Hier geht es nicht um irgendeinen Clash der Kulturen oder um Glaubensbekenntnisse, sondern um die Klassenauseinandersetzungen zwischen jüdischen Mittellosen und einer etablierten und integrierten Schicht von Juden, die sich als Iraner bezeichnen und die in diesem Land schon wichtige Positionen in der Wirtschaft erlangt haben. Jass verkörpert die zerrissene Wesensart einer Außenseiterin, die von Niemandem geliebt, beachtet und von allen aber gedemütigt und erniedrigt wurde, "als ob sie eine Muslimin wäre".
In Bahars Familie gibt es sogar einen engen Verwandten, der zum Islam übergetreten ist. Er ist aber stark und identifiziert sich mit seinem neuen Glauben. Selbst wenn er an einem jüdischen Trauerfest teilnimmt, vergisst er seinen Umhang, Aba, und seinen Gebetskranz nicht. Ihm wird nachgesagt, dass er sich durch den Religionswechsel von der vernichtenden Last der Armut befreien wollte.
Vor der Armut zu fliehen ist ebenfalls das Motiv Bahars, ihre elende Vergangenheit hinter sich zu bringen. Wegen ihres einst niedrigen gesellschaftlichen Status wird sie aber nie von der Familie ihres Mannes als "Mensch" akzeptiert. Nach der Heirat wird sie ebenfalls von ihren alten Bekannten und Freunden verstoßen, weil sie sich von ihr verraten fühlen. Neid spielt dabei auch keine geringfügige Rolle. Schließlich gehöre sie nun zu den "besseren Menschen."
Die Hauptleidende in diesem Wirrwarr in dieser jüdischen Gemeinde ist Jass. Sie ist schutzlos der ungeheuren Last der Demütigung und dem unheimlichen Schmerz der Entwürdigung ausgesetzt. Was ihr zu schaffen macht, ist Anmaßung jeglicher Art und allerorts, sogar von ihren eigenen Eltern. Zudem wird sie immer wieder von unwiderstehlicher Furcht heimgesucht, das Glück der Mutter geraubt zu haben, die nie von ihrem Ehemann geliebt wurde. Omid verliebt sich kurz nach der Verlobung mit Bahar in eine Muslimin und lebt praktisch mit ihr. Jass fühlt sich von Beiden nicht gemocht. Gegen diese tiefe und ungerechte Lieblosigkeit und Missachtung entwickelt Jass zwar innerlich eine Art Widerstand, findet aber keinen Mut, ihre Gefühle zu zeigen. Langsam zieht sie sich von Allem und Allen zurück und lebt nur wie ein Geist in der Dunkelheit der Nacht.
Unsichtbar ist auch Jass am Anfang des Romans. Sie ist zuerst nur eine Stimme, die man nicht verorten kann. Im ersten Kapitel erzählt sie die märchenhafte Begegnung ihrer Eltern aus der Vogelperspektive. Irgendwann taucht das Wort "ich" oder "mich" mitten in der Geschichte auf. Die Ich-Erzählerin betrachtet sich selbst aber aus dem Blickwinkel der Anderen: Sie sei nur ein Mädchen; ein nutzloses Mädchen, das den Namen der vermögenden und einflussreichen Familie "Arbab" nicht weiter fortzusetzen vermag; ein Mädchen, das Hass und Ablehnung mit der Muttermilch eingesogen hat. Dass sie ein wertloses Wesen sei, verinnerlicht Jass sehr früh als kleines Kind und fühlt sich als Unglückbringende der Familie und den "Anderen" gegenüber schuldig. Diese "Anderen" sind immer da, immer präsent, gehören der iranisch-jüdischen Gemeinde an, in der sich Bahar bewegt. Man lebe nur, um von ihnen beachtet und akzeptiert zu werden.
Die Geschichten dieser Anderen erzählt Nahai, parallel zur Geschichte Jass´ weitaus akribischer und präziser. Nicht, weil sie dadurch die unterschiedlichen Aspekte des iranisch- jüdischen Lebens am Ende der siebziger Jahre in Teheran darstellen will, sondern auch weil sie untrennbar mit dem Schicksal ihrer Hauptfigur verbunden sind. Jass illustriert anschaulich, wie sich das Judendasein von innen anfühlt. Ihre detaillierte Schilderung spiegelt zudem ihr außergewöhnliches Beobachtungsvermögen wider, das allmählich eine dramaturgische Dimension annimmt. Ausdauernd, ja gierig dokumentiert sie alles bildhaft, weil sie langsam spürt, dass ihr die Ereignisse stückweise "gestohlen bleiben" und dass der Alltag abrupt für einen Moment "ausgelöscht" wird; bis festgestellt wird, dass sie allmählich taub wird, dauert es eine Weile und bis Bahar akzeptiert, dass ihre "unvollkommene" Tochter ein Hörgerät trägt, hält eine Ewigkeit an. In dieser Zeitspanne ruft Jass alle ihre Sinne auf, versucht das Leben in allen Einzelheiten zu "verschlucken", damit sie sich später daran erinnern kann, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, alles mit ihrem Gehör wahrzunehmen. Da fängt ihr richtiges Dilemma an.
Regen am kaspischen Meer ist das Selbstporträt einer jüdischen Familie, deren Kaltblütigkeit und Amoral die Seele eines Kindes so gründlich verwüstet, dass es sich schließlich vernichtet, um der Mutter ein glückliches Leben zu ermöglichen. Die 47-jährige in Teheran geborene Schriftstellerin, Gina Nahai, die seit 1977 in den USA lebt, schreibt so einfühlsam, gekonnt und fantastisch, dass ihr Roman auch ohne die "Beihilfe" der Hasstiraden Ahmadi-Nedjads seinen gebührenden Platz im Literaturbetrieb finden wird.
Gina Nahai Regen am kaspischen Meer. Übersetzt von Brigitte Jakobeit. Marebuchverlag, Hamburg 2008, 317 S., 19,90 EUR
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