Verbeuge dich vor meinem Leben

Literarischer Ton In ihrem Reportageband übt die "Sammlerin der Seelen" Irena Brezná den Frieden in Kriegszeiten

Ein "embryonales" Verhältnis zu ihrer Heimat lehnt die Autorin Irena Brezná aus der Slowakei ab. Nicht weil die Osteuropäerin seit 1968 in der Schweiz lebt, sondern weil sie in der Fremde "neue Räume" entdeckt hat, die sie "ihrem Land schenkt", um es aus anderem Blickwinkel betrachten zu können. Vielleicht deshalb beginnt das jüngste Buch der Autorin Die Sammlerin der Seelen mit den Themen Heimat und Fremde.

Jahre lang spürte sie ihre vor über drei Jahrzehnten abhanden gekommene Heimat in der Fremde mit einem "fein entwickelten Heimatorgan" auf. Am Ende dieser Suche, die sie in ihrer intimsten Sprache durchführt, in der sie ihrem Sohn Märchen vorliest und sich mit ihrer Freundin in Bratislava über die Liebe unterhält, stellt sie fest, dass die Heimat nichts anderes als eine verwechselbare Illusion ist. "Ich besitze nun eine weltweit anwendbare Fremd-Card. Wenn ich mich vergesse und versuche, in verschiedene Gruppierungen als Einheimische einzutreten, gibt es einen Code, der mich entschlüsselt und auffordert mit meiner wahren Identität zurückzukommen. Dann hole ich die Fremd-Card."

Heimatsinne und Fremd-Card lautet der Titel des ersten Teils von Die Sammlerin der Seelen. Brezná, 1950 in der Slowakei geboren, emigriert 1968 mit ihren Eltern in die Schweiz. Sie schreibt aus der Perspektive einer zwischen Ost und West zerrissenen Weiblichkeit und versucht, in sehr persönlichen Aufsätzen diese beiden Seiten zu vereinen. Die östliche Seite sieht für sie so aus: "Die professionellen östlichen Frauen schminken und kleiden sich wie Puppen, die in der Anwesenheit der Männer kichern und im Handumdrehen befehlen diese grob." Der westlichen Seite begegnet die Autorin im Traum: Eine drahtige westliche Intellektuelle in grau-schwarzem Hosenkostüm, die Theorien erklärt. Eine kichernde Puppe, die über eine gewisse Autorität verfügt und eine arrogante Besserwisserin, eine tüchtige Geschäftsfrau. Die Unterschiede sind so drastisch, dass Brezná sie nur miteinander verbinden kann, um dadurch von den Gemeinsamkeiten profitieren zu können.

Die Sammlerin der Seelen berichtet nicht nur über die Vereinigungen und Einigkeiten. Zwei Drittel der (schon in Zeitungen erschienenen) Reportagen aus der Zeit von 1995 bis 2000 befassen sich mit Krieg, Feindschaften und Angriffen gegen Menschenrechte. Um Europa also dreht sich hier alles, und zwar um das höchsteigene Europa der 53-jährigen Publizistin. Unterwegs in meinem Europa heißt der Untertitel des Buches, in dem sie drei Aspekte miteinander verflechtet: Denken in Landesterritorien, grenzenloses Handeln und immer Auf-Ästhetik-Bedachtsein. Die drei scheinbar disparaten Aspekte zu verbinden, gelingt der Theodor-Wolff-Preisträgerin Brezná erstaunlich harmonisch: Mit einer unverfälschten und reinen Prosa, gepaart mit warmherziger, humaner Intelligenz, verleiht sie ihren literarischer Reportagen eine besonders vitale Ausdruckskraft. Etwa in ihren ausführlichen Aufzeichnungen über den Besuch in Moldawien und Transnistrien. In den idyllischen Orten, die damals in der Sowjetzeit "Garten Eden" hießen, findet man nun Ruinenstädte aus verrostenden Industrieanlagen, einstürzenden Plattenbauten und abgesägten Obstgärten. Ein Bauarbeiter aus der Gegend spricht für alle: "Man hat uns belogen, beraubt, wir wissen nicht einmal mehr, wen wir töten sollen. Oder sollen wir uns selbst erhängen?"

Erhängen wollen sich auch einige Mädchen in den Mädchenabteilungen der russischen Gefängnisse, in denen rund 40.000 weibliche Gefangene "verwahrt" werden. Mit einem unverbrauchten, die Dinge auf den Punkt bringenden Stil schildert die Autorin diesen "Vorhof der Hölle", in dem ein bis zwei Mädchen dazu gezwungen werden, den Status von Sklavinnen zu übernehmen. "Das heißt, sie müssen sexuell verfügbar sein ... Sie werden mit Löffeln vergewaltigt. Ihre Haare werden verbrannt, an der Oberlippe werden sie tätowiert, um sie als Angehörige der niedrigsten Kaste zu brandmarken."

Ähnliche Gräueltaten finden ebenfalls in Tschetschenien statt, aber nicht nur im Versteckten, nicht in den ausgehobenen Erdgruben und nicht in den Filtrationslagern, sondern in der Öffentlichkeit. Im Juli 2001 haben die meist vermummten Soldaten die Bewohnerinnen von Sernowodsk auf ein Feld getrieben und vor ihren Augen die Frauen vergewaltigt. 48 Männer versuchten, diese in der tschetschenischen Kultur schlimmste Form der Erniedrigung zu verhindern, woraufhin sie mit Handschellen an Panzerwagen angekettet und ebenfalls vergewaltigt wurden. Obwohl Tschetschenien nicht im Europa liegt, befasst sich Irena Brezná seit 1996 mit der tschetschenischen Republik Itschkeria. Mit literarischem Ton erzählt sie, dass Politik etwas mit Märchen zu tun hat, mit dem Staub, dem Licht, dem Dreck eines bestimmten Territoriums. Mit Matuschka Rossija und ihrem Sohn, Soldat in Tschetschenien.

Aus Tschetschenien kommt auch die Menschenrechtlerin Sainab Gaschajewa, der die Autorin als Sammlerin der Seelen ihr Buch gewidmet hat. Aus Gesprächsfragmenten mit ihr und aufschlussreichen Episoden setzt Irena Brezná das düstere Bild des Kriegs und des Bevölkerungsleides zusammen. Ihre eindrücklichen Schilderungen konfrontieren den Leser mit seinem Verlangen nach Einfachheit und Komfort bis Brezná selbst an die Grenze ihrer Verteidigungslinie gelangt. Da kämpft sie gegen den Krieg, in dem sie ihn aus ihrem Alltag vertreibt. So sagt sie offen zu Sainab Gaschajewa, mit der sie eine Weile durch Westeuropa reiste, um an jenen vergessenen Krieg zu erinnern: "Der Krieg hat nicht Vorrecht auf alles. Du lebst im Krieg, ich im Frieden, trotzdem sind wir beide, jede auf ihre Weise, arm und reich. Verbeuge dich vor meinem Leben, wie ich es vor deinem tue. Es ist nicht weniger wert, nur weil es nicht durch den Krieg bedroht ist. Es war Frühling 2002, in Tschetschenien war noch Krieg, aber wir übten in der Schweiz schon den Frieden."

Irena Brezná: Die Sammlerin der Seelen. Unterwegs in meinem Europa. Aufbau, Berlin 2003, 207 S., 16 EUR

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