Meine Freundin, die einen Rucksack trägt, den sie noch nie entleert hat, ist nach Berlin gezogen. Seither heißt sie nicht mehr die Freundin, die einen Rucksack trägt, den sie noch nie entleert hat, sondern die Freundin, die nach Berlin gezogen ist. Oder auch die Freundin, die nach Berlin gezogen ist (aus beruflichen Gründen) und jetzt mit Biogras dealt. Heute hat meine Freundin, die sich selber manchmal "Mutti" nennt, weil sie ein Kind hat, welches zu ihr "Mama" oder "Kacka-Kacka" sagt, ihren einzigen freien Abend. Sie plant nach dem Kino ins Kino zu gehen, um endlich mal wieder ins Kino zu gehen. Danach will sie in diverse Bars, trinken, flippern und trinken und was man eben so macht, wenn man einen freien Abend hat.
Mein Leben besteht nur aus freien Abenden. Sie sind frei, aber auch einsam. Indiz dafür: Meine krummen Finger. Seht her, wie krumm sie sind! Ist der Finger krumm, sagt der Chinese, ist der, dem der Finger zugehört, einsam. Zu meinen krummen Fingern gesellt sich mein krummer Charakter, aber reden wir nicht weiter davon. Meine Freundin teilt mir eben mit, dass sie, nachdem sie trinken, flippern und trinken war, Sex haben wird und zwar, egal mit wem. Meine Freundin ist nämlich auch die, mit der ich immer, was ich auch sage, über Sex rede. An mir kann es nicht liegen. Manchmal streifen wir auch die Themen Blut und Ausfluss im allgemeinen. Selten diskutieren wir aber Literatur und Blumen. Warum eigentlich?
Auch an diesem Abend hätte ich gerne über Literatur und noch lieber über Blumen gesprochen. Aber auch an diesem Abend saß ich wieder mit meiner Freundin, die sich am Flipper gerne mit "Du Arschloch" anredet, an einem Tischlein und sprach über Sex, Blut und Ausfluss im allgemeinen. Die Literatur, wagte ich zu sagen, ich mach mal Augenkontakt, sagte meine Freundin. Bald darauf tauchte ein junger, sehr dünner Mann auf. Er trug eine Mütze und meine Freundin, die an ihrem einzigen freien Abend einen Mann abschleppen wollte, fing an, mit ihm zu diskutieren. Dann tauschten sie ihre Meinungen aus, zogen ihre Mäntel an und gingen. Ich blieb einsam zurück. Ich starrte auf meine krummen Finger, die das Bier hielten, und dachte mir PFUI BERLIN PFUI, denn es war schon vier und das Lokal hatte noch immer geöffnet, noch schlimmer, es schien immer weiter aufzumachen und gar nicht mehr zu schließen. Ich gedachte einer Freundin, die an einem Pfosten im Schulhof Strafe stehen musste, weil sie den Fehler gemacht hatte, ohne einen Fahrschein Straßenbahn zu fahren. Berlin. Pfosten und Pfähle entlang des kompletten Schienennetzes. Pfosten auf dem Alexanderplatz. PFOSTEN, PFOSTEN, PFOSTEN, dachte ich, irgendwoher erklang die Internationale und es hätte mal wieder ein schöner freier Abend werden können, wenn nicht, und jetzt komme ich zum Hauptteil meiner Erzählung, ein kleiner, kräftiger Kerl aufgetaucht wäre. Es taucht also ein kleiner, kräftiger Kerl auf und reißt mir die krumme Hand vom Glas. Dann starrt er hinein. Dort, sagt er, diese fleischige Linie, sie verheißt, er umklammert meine Hand ARM WIRST DU STERBEN, ARM! Ich bestelle mir noch ein Bier und befestige meine Hände mal fürsorglich am Humpen. HUMPEN, HUMPEN, HUMPEN, denke ich.
Die Massenteilchenbewegung, sagt er, spürst du sie nicht, diese Schwingungen? Spürst du sie nicht? Jetzt beugt er sich vor. Ja spürst du denn gar nichts! Er versucht, mir in die Augen zu schauen. Ob ich denn gar nichts spüre, nichts! Er beugt sich noch näher. Ob ich denn überhaupt keine emotionale Intelligenz besitzen würde! Dann beugt er sich zu mir als Frau und erzählt mir aus seinem Leben. Er will mir als Frau sein Leben und damit sein Wesen nahe bringen, weil Frauen mögen Nähe. Und Näharbeiten. Seine Freundin, sie habe ihn immer so gereizt. Da habe er sie gewürgt, solange, bis sie gekackt habe. Ich will es gar nicht wissen. Doch die Massenteilchenbewegung will es, die Schwingungen, und vor allem der natürliche Aggressionsabbau, von dem er jetzt spricht, weil gern erklärt man sich die Welt irgendwie zusammen, wenn man ein Arschloch ist. So mache ich es ja auch. Habe ich meine Freundin schon mal gewürgt, überlege ich. Habe ich eigentlich schon gekackt? Er habe, so setzt er fort, mehrere Monate ein schlechtes Gewissen gehabt. Damit will er mir darstellen, wie sympathisch er eigentlich ist. Harte Schale, weicher Kern. Ein eher nachdenklicher, sensibler Typ. Und jetzt habe er sich einen Schutzkasten vorgeschnallt, dabei macht er eine Handbewegung. Ich löse mich von meinem Humpen und erhebe mich, auf der Suche nach einer Tür, aus der heraus ich das Lokal zu verlassen plane. Wenn sich jemand einen Schutzkasten vorgeschnallt hat, dann Obacht! Wer hilft, macht falsch! Zuhause würge ich die Haustiere, bis sie kacken, dann lege ich mich auf die Schlafcouch. Meine Freundin, die mit dem Biogras dealt, ist noch nicht zurückgekehrt. Wir hätten uns vielleicht noch ein bisschen gegenseitig gewürgt und den schönen Teppichboden zugekackt. Aber leider wird das heute Abend nichts mehr.
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