Manchmal denke ich, nur eine kinderreiche Familie reißt einen aus der Verwahrlosung, man reißt sich zusammen, lässt nicht überall in der Wohnung seine alten Kleider rumliegen und räumt die Bierflaschen weg. Wenn man eine kinderreiche Familie hat, muss man am Morgen bereits aufgestanden sein, bevor man noch lange herumliegt, zum Beispiel den ganzen Tag, weil man alt wird und sterben will oder am Tag zuvor einfach wieder zu viele Biere getrunken hat, die man nicht getrunken hätte, wenn man eine Familie und reiche Kinder hätte. So hätte ich zum Beispiel gestern keine Biere getrunken, und auch mein Freund nicht und auch Janet nicht. Janet hätte kein blaues Auge gehabt, und wäre auch sonst nicht blau gewesen und hätte sich gestern in einem Lokal, das bestimmt nicht »Blauer Affe« heißen würde, niemals zu uns, die wir gar nicht da gewesen wären, an das Fass gestellt, beziehungsweise gelehnt. Denn stehen war nicht mehr so. Und stehen wäre nicht gewesen. Eine kinderreiche Familie hätte dies, denke ich, vereitelt, aber das stimmt nicht, denn Janet hat eine Familie oder zumindest das, was sie uns davon erzählt.
Eigentlich stehen wir also nicht an der Fasstonne im »Blauen Affen«, wir wohnen auch nicht in Neukölln und wollen auf keinen Fall jetzt dort noch kurz ein kurzes Bier trinken. Auch nicht da ist der stille Mann, der immer wieder an den Spielautomaten tritt und dort leise und geschmeidig Eurostücke einwirft, als ob nichts wär, und sich dann zurück auf seinen Hocker setzt, als wär nichts gewesen, und den Automaten seine Umdrehungen machen lässt, als wär der auch nicht da. Immer wieder setzt er sich zurück auf seinen Hocker, während sich die Bilderwalzen im Automat drehen und ausdengeln, hockt still da und schaut nicht hin, als wäre sein Blick böse und schwarz, als würde er durch ihn das bunte, sorglose Treiben im Automaten beeinflussen und großes Unglück über sich bringen.
In regelmäßigen Abständen steht er auf und wirft neue Eurostücke in den Automaten, als würde es ihm gerade spontan einfallen, das jetzt einfach mal zu tun, als würde er es nicht schon seit Stunden tun, als wäre er nicht schon letztes Mal, als wir zum ersten Mal hier gewesen sind, auch da gewesen, und hätte da nicht auch den ganzen Abend Eurostücke in den Automaten geworfen, sich immer wieder in einiger Entfernung, in einer Art Sicherheitsabstand zurückgesetzt, als würde ihn alles nichts angehen, als wäre das Einwerfen der Euros ein bloßer Automatismus oder bereits bloßer Sinn der Sache, als würde er nicht dort im Sitzen auf seinem Hocker alles verlieren.
Und da stellt sich auch schon Janet zu uns an das Fass. »He, seid ihr Studenten, ihr seid doch Studenten, das sehe ich doch, dass ihr Studenten seid«, ruft sie uns aus ihrem Anoraksystem entgegen und nähert sich mit ihrem blauen Auge dem Fass.
»Meine Tochter«, sagt Janet und wirft sich gegen das Fass, »will auch studieren. Meine Tochter«, sagt Janet, während wir leere und volle Gläser auf dem wackelnden Fass zu halten versuchen, »die will auch studieren«, denn Janet hat eine kinderreiche Familie und keine Arbeit, scheiße, und ihre Tochter, »die jüngste, die 14 ist und total schlecht in Mathematik, die will Architektur studieren. Dabei ist sie in Mathematik eine totale Niete«, sagt Janet und greift mit ihrem Anorakarm in meine Zigarettenschachtel. »Ach was, Mathematik, das braucht man da gar nicht«, sagt mein Freund, nur Statik, und es sieht dabei so aus, als würde er die Gläser umarmen, die er nur festzuhalten versucht, »Statik«, sagt er, »das ist ganz was anderes.« »Ich musste auch viel rechnen«, sagt Janet und, »wer wackelt denn hier so, verdammt!« »Das ist Horst«, sagt mein Freund und zeigt auf eine Stelle, wo niemand steht, denn er ist unsichtbar, hat aber schon jede Menge getrunken, weil die leeren Gläser, die sieht man trotzdem, auch wenn sie durchsichtig sind. »Ich hab Krankenschwester gelernt, jetzt arbeitslos, scheiße«, sagt Janet und redet dabei so laut, wie nur Leute reden, die eigentlich ganz andere Absichten haben, diese aber durch unauffällig lautes Sprechen, so genanntes Schreisprechen, zu verbergen versuchen.
Der stille Mann aber wendet sich still an die Wirtin, er hat kein Kleingeld mehr, und gerade brauche er wie zufällig welches. Konzentriert stellt er seine Frage, als sei ihm gerade eine gute Idee gekommen, für deren Umsetzung er nichts als etwas Kleingeld brauche. Aber die Wirtin, an deren dünnen, krummen, erfahrenen Beinen die schwarze Jeans weiträumig herabsteht, verwehrt es ihm. Sie habe auch kein Kleingeld mehr, da müsse sie erst zur Post, und die habe erst morgen wieder auf. »Zur Post«, ruft Janet laut, die mit uns an unserem Fass steht, »das ist ja interessant!« Von einem Nebenfass erklingt das Rosamunde-Lied und die Wirtin, leicht gebückt in ihrem dürren Körper, nähert sich unserem Fass jetzt mit drei Gläsern Bier. »Den ganzen Tag schon lungerst du hier rum«, sagt die Wirtin zu Janet, so laut, dass wir es hören, denn manchmal sind Botschaften, auch wenn sie direkt an eine andere Person gerichtet sind, gar nicht eigentlich für diese bestimmt. »Du gehst den Leuten auf die Nerven und schnorrst sie die ganze Zeit nur an.« Jetzt hat die Wirtin auch wieder jede Menge Kleingeld, das sie aus ihrem großen Lederbeutel mit ihrer knöchernen Hand auf den Tisch zählt. »Gehe ich euch auf die Nerven?«, fragt Janet, »nee, alles okay«, denn wir sind höflich und finden trotz unseres Studiums keinen Ausweg aus diesem bereits gelaufenen Abend, der jetzt hier abläuft, und ergreifen das frische Pils, jetzt ebenfalls leicht geduckt, in Erwartung des Fachgesprächs, das nun zwangsweise folgen wird, denn Fehler wir haben unsere Berufe verraten. Wir sind nämlich gar keine Studenten. Aber eigentlich sind wir ja auch gar nicht hier. »Ich hab auch mal ein Gedicht geschrieben für meinen Mann«, sagt Janet zu mir, weil ich gesagt habe, ich schreibe, »jetzt geschieden«, sagt sie, »und ein Bild dazu gemalt«, sagt sie zu meinem Freund, weil der gesagt hat, er male, »kam gut an«, sagt Janet, »jetzt arbeitslos«, sagt sie, »scheiße«, sagt sie, und: »ich muss runter vom Alkohol.« Außerdem habe sie kein Geld mehr und einen kranken Vater und drei Kinder und soundsoviele Entzugskuren in Sachen Heroin, Kokain und Pillen hinter sich und müsse jetzt nur noch runter von dem beschissenen Alkohol und nach Hause, habe aber kein Geld mehr und wolle gern noch ein Bier, ob nicht wir ihr ein Bier ausgeben könnten, und sie verspricht, es schnell zu trinken, ein schnelles Bier nur, das sie schnell trinken wird, denn eigentlich muss sie heimgehen, aber gehen geht dann auch nicht mehr und sie umarmt später draußen vor dem »Blauen Affen« einen Ampelpfosten, nicht aus Mitleid oder Liebe, sondern weil es nicht anders geht, und weil der Pfosten gerade da steht, wo auch sie zu stehen versucht.
Der stille Mann, von ihr »Türke« genannt, nähert sich geräuschlos unserem Fass, bekommt aber auch hier kein Kleingeld. Von Janet nicht, weil sie überhaupt kein Geld mehr hat, und von uns nicht, weil wir da erst zur Post müssten und die hat gerade nicht auf. Er wendet sich ab und verlässt das Lokal so still und dezent, wie er einst gekommen ist. »Die wollen nur eines«, sagt Janet und wirft ihren Kopf in Richtung »Türke«, der das Lokal bereits verlassen hat, und lässt ihre Daumenspitze aus der geballten Faust herausstehen. Kennt ihr den? Und sie erzählt uns von Menschen, die Dick und Doof heißen und Probleme mit Leuten haben, die mit Nachnamen Keiner und Niemand heißen. Keiner hat mir auf den Kopf gespuckt und niemand hat´s gesehen. Keiner hat Geld in den Automaten geworfen und niemand hat´s gesehen. Keiner hat keine Arbeit mehr und niemand hat Arbeit. Keiner hat schon mal ein Gedicht geschrieben und niemand malt hier Bilder. »Der eigentliche Trick«, sage ich zu Janet, weil ich keine Kraft dazu habe, eine Rede über Literatur zu halten, und weil ich mich nicht in dieselbe Lage bringen lasse, wie neulich die altertümlich weiß-rot gepuderten Herren Karasek und Reich-Ranitzcki von Fernseh-Moderator Beckmann, der tatsächlich auch schon mal ein Gedicht geschrieben hat und das irgendwie schön findet, wenn jemand ein Gedicht schreibt. »Der eigentliche Trick«, sage ich deshalb zu Janet, »ist nicht ein Gedicht zu schreiben, das kann jeder, man muss es auch verkaufen können. Ein Gedicht zu verkaufen, das ist die wahre Kunst.«
Janet baut noch ein Bierdeckelhaus, da dunkelt die Wirtin das Lokal ab, und wir folgen dem Geist des stillen Mannes ins Freie. Weiß liegt der Schnee auf den sonst schmutzigen Beeten am Rande der Straße, am Ampelübergang. Janet tritt hinaus und umarmt den Pfosten. Da lassen wir sie stehen. »Mir ist es ehrlich egal«, sage ich, »welche Süchte irgendeiner hier irgendwie noch hat.« »Lass stehen«, sagt mein Freund, »da kannste nix machen.« So etwas Hartherziges und Zynisches würden wir bestimmt nicht sagen, wenn wir Oberhäupter kinderreicher Familien wären. Und wenn Janet keine Kinder hätte, dann würde sie auch keine Ampelpfosten umarmen. Und die Wirtin wäre schon längst zuhause und der stille Mann würde am Bettchen seiner Tochter sitzen und ihr eine Geschichte erzählen. Es ist eine traurige Geschichte und der stille Mann, genannt »Türke«, muss weinen, das sieht aber seine Tochter nicht, denn sie hat bereits die Augen geschlossen und bereitet sich innerlich auf die morgige Statikprüfung vor. Wie ich einmal die tolle Idee hatte, Geld in einen Automaten zu werfen, so fängt sie an, und wenn keiner nicht gestorben ist, dann lebt niemand, der eine kinderreiche Familie hat, noch heute.
Felicia Zeller, geboren 1970 in Stuttgart, arbeitet zur Zeit hauptsächlich als Dramatikerin und als Lotio F., aber auch als Medienkünstlerin und als Doktor Zeller.
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