Li Jun zeigt auf einen Betonbau, der unmittelbar vor seiner Wohnung emporragt. Die Kräne und die Baugerüste sind abmontiert. Dabei ist das eiförmige Hochhaus noch nicht fertiggestellt. Etwa auf halber Höhe ist die Glasfassade abrupt unterbrochen. Leitungen hängen herab. Die unteren Etagen sind mit Planen verdeckt.
Doch der 61-Jährige findet den Blick auf das halbfertige Gebäude von seinem Küchenfenster aus nicht schlimm. Im Gegenteil: Mit anderen Nachbarn hat er einen Teil der Baustelle abgedeckt und nutzt den Platz nun als Gemüsebeet. „Das stört momentan niemanden“, sagt er. Die ehemaligen Investoren seien pleitegegangen, neue Käufer gebe es noch nicht. Und überhaupt: In den vergangenen Jahren seien in seinem Viertel hier in Peking so viele alte Häuser abgerissen und durch moderne Bauten ersetzt worden, sagt er. „Es tut gut, wenn wir mal Zeit zum Durchatmen haben.“
Mehr als 20 Jahre mit fast durchgehend zweistelligen Wachstumsraten haben China einen Entwicklungsschub beschert, den es in der Menschheitsgeschichte in diesem Ausmaß noch nie gegeben hat. Der kommunistischen Führung ist es in diesem Zeitraum gelungen, fast eine Milliarde Menschen aus der Armut zu holen. Die im Jahre 2000 formulierten Millenniumsziele der Vereinten Nationen, bis 2015 die weltweite Armut zu halbieren, werden in diesem Jahr nur wegen China erreicht.
Im ganzen Land sind die Resultate zu sehen. Zehntausende von Wolkenkratzern, das längste Netz für Hochgeschwindigkeitszüge weltweit, moderne Autobahnen selbst durch Wüsten, abgelegene Provinzkäffer und auf dem tibetischen Plateau, die größten Häfen und Flughäfen der Erde; China zählt weltweit die meisten Internet- und Smartphone-Nutzer und ist der größte Absatzmarkt für Autos. Die Peking umkreisende Provinz Hebei produziert allein so viel Stahl wie die USA und Europa zusammen. Das noch in den 1980er Jahren so rückständige Land ist zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen. Ganze Kontinente sind von der Wirtschaftsentwicklung Chinas abhängig. Auch Deutschland hat einen erheblichen Teil seines derzeitigen Wohlstands den Chinesen zu verdanken.
Doch nun scheint sich diese Entwicklung zu verlangsamen. Nachdem die chinesische Volkswirtschaft bereits im vergangenen Jahr mit 7,4 Prozent so langsam gewachsen ist wie seit fast einem Vierteljahrhundert nicht, hat die chinesische Führung die Prognosen für dieses Jahr noch weiter gesenkt. Um nur noch „etwa sieben Prozent“ werde Chinas Wirtschaft 2015 wachsen, verkündete Premierminister Li Keqiang Anfang März in seinem Rechenschaftsbericht vor dem Nationalen Volkskongress, Chinas einmal im Jahr tagenden Parlament, dem der chinesische Premier rechenschaftspflichtig ist. Der Weltwirtschaft fehle der Schwung, es gebe mehr Unsicherheiten und in China selbst müsse die Wirtschaft einen schmerzhaften Strukturwandel durchlaufen, begründete Li das für chinesische Verhältnisse niedrige Wachstumsziel.
Düstere Zeiten
Kommentatoren im In- und Ausland sehen bereits wirtschaftlich düstere Zeiten auf China zukommen. Von „harter Landung“ ist die Rede und dem „Ende des Wirtschaftswunders“, von einem Strukturwandel, der sehr schmerzhaft zu werden droht. Einige Ökonomen sprechen von der sogenannten Falle des mittleren Einkommens, der middle income trap. Den Volkswirten zufolge ist der Aufstieg von einem armen Land zu einem Schwellenland vergleichsweise einfach. Dazu bedarf es stabiler Verhältnisse und eines Heers an Arbeitskräften, das bereit ist, wenig anspruchsvolle Produkte zu geringen Löhnen herzustellen. Hat ein Land jedoch ein bestimmtes Entwicklungsniveau erst einmal erreicht, kommt es darauf an, ob es gelingt, neue Wachstumsimpulse zu schaffen: Die Menschen müssen neue Ideen hervorbringen, die mit Produkten der Industrieländer konkurrieren können. Dieser Schritt ist aber sehr viel schwieriger.
Wie einer Reihe von anderen Schwellenländern wird es China einigen westlichen Ökonomen zufolge nicht gelingen, diese Stufe zu einem Industrieland zu erreichen, das mit Innovationen und stabilen sozialen Verhältnissen nachhaltig den Wohlstand seiner Bevölkerung sichert. Manche Beobachter sehen gar den Zusammenbruch Chinas unmittelbar bevorstehen.
Doch was ist dran an diesen Hiobsbotschaften? Wie ist es um das Land bestellt, wenn seine Wirtschaft nur noch halb so stark wächst wie im Jahr 2007, als das Wachstum 14 Prozent erreicht hatte? Galten acht Prozent nicht vor kurzem noch als Minimum, um den Arbeitsmarkt stabil zu halten? Was heißt es, wenn Chinas Wirtschaft demnächst noch weniger als um die von der Regierung prognostizierten sieben Prozent wächst? Und was bedeutet das für die Weltwirtschaft?
Eine Antwort auf diese Fragen hat Danny Quah, Ökonom an der London School of Economics. Er hat Chinas Wachstumszahlen der vergangenen Jahre verglichen und kommt zu einem mathematisch simplen, unter westlichen Beobachtern dennoch unzureichend beachteten Ergebnis. Mit einer Wachstumsrate von 7,4 Prozent im vergangenen Jahr hat die chinesische Wirtschaft sogar einen höheren Zuwachs erzielt als vor neun Jahren, als der Anstieg bei zwölf Prozent lag, behauptet Quah.
Seine Erklärung: Er betrachtet das tatsächlich erzielte Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die absolute Veränderung. So lag 2005 das BIP bei 2,3 Billionen US-Dollar; das Plus von zwölf Prozent entsprach 274 Milliarden Dollar. Damals jubelte die ganze Welt über das sensationelle Wachstum. China galt als Boomland.
Viele Ökonomen haben die Gewohnheit entwickelt, Wachstum als prozentuale Veränderung darzustellen. Chinas prozentuale Steigerung mag sehr viel geringer ausfallen als in früheren Jahren. Die absoluten Zahlen haben aber weiter zugenommen. So lag Chinas Wirtschaftsleistung 2009 bei etwa fünf Billionen Dollar, 2010 bei sechs Billionen, 2012 schon bei über acht Billionen Dollar – eine atemberaubende und zugleich sehr gleichmäßige Steigerung. Behält Premier Li mit seiner Prognose von plus sieben Prozent Recht, dann wird die Volksrepublik in diesem Jahr eine um 790 Milliarden Dollar höhere Wirtschaftsleistung erbringen als im Vorjahr. In absoluten Zahlen wird Chinas Wirtschaft 2015 also fast dreimal so stark anschwellen wie 2005. Trotzdem ist nun von einer drohenden Krise oder gar einem Crash die Rede.
Zwar sind auch Chinas Probleme größer und vor allem kostspieliger geworden. Viele davon gehen mit der gestiegenen Wirtschaftsleistung einher: China betreibt sehr viel mehr Fabriken, benötigt mehr Kraftwerke, und die Konsum- und Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung haben sich drastisch verändert. All das verursacht gewaltige Folgekosten.
Vor allem die Umwelt leidet unter dieser rasanten Wirtschaftsentwicklung. Angesichts des verheerenden Smogs, der sich fast täglich über weite Teile Chinas legt, hat die chinesische Führung die Bekämpfung der Luftverschmutzung zur Staatsdoktrin erklärt – und gibt dafür inzwischen jährlich Hunderte von Milliarden Dollar aus. Und sicherlich lässt sich das Geld auch für den so dringend benötigten Aufbau eines Gesundheitssystems in China mit Wachstumsraten von acht Prozent sehr viel leichter abzweigen, als wenn die Wirtschaft nur um sieben Prozent wächst.
Wie die Bundesrepublik
Tatsächlich aber vollzieht die Volksrepublik gar keine ungewöhnliche Entwicklung. Auch in Deutschland erfolgte der absolute Zuwachs der Wirtschaftsleistung über die Jahrzehnte ziemlich stetig, während die Prozentzahlen deutlich gefallen sind. 1955 lag das Wachstum der Bundesrepublik bei zwölf Prozent, 1999 bei zwei Prozent. Heutzutage freut sich Deutschland über eine Eins vor dem Komma.
„Der Rest der Welt sollte froh sein, dass die chinesische Regierung die Abflachung akzeptiert und nicht noch weiter auf zweistellige Wachstumsraten setzt“, sagt der in China lebende US-Ökonom Michael Pettis, Professor an der Pekinger Universität. Er gilt als prominentester Wachstumskritiker Chinas, weil er schon vor Jahren warnend auf die verheerenden Auswirkungen einer weiter rasant wachsenden Wirtschaft hingewiesen hatte: Umweltschäden, wachsende soziale Ungleichheit, Überhitzungen wie die auf dem Immobilienmarkt.
Pettis ist froh, dass die chinesische Führung nun umgeschwenkt ist, die geringeren Wachstumsprognosen als „neue Normalität“ bezeichnet und zumindest die gewaltigen staatlichen Investitionen der vergangenen Jahre deutlich gedrosselt hat. „Nicht auszumalen, wenn Chinas Wirtschaft bei ihrer heutigen Größe auch in diesem Jahr noch mit zwölf Prozent wachsen würde“, sagt er. Denn solch eine Entwicklung ist eigentlich unmöglich: Die Rohstoffe würden weltweit genauso wenig ausreichen wie die Nachfrage nach Waren „made in China“.
Nach Ansicht des Harvard-Ökonomen Martin Feldstein bleibt stärkeres Wachstum trotzdem wichtig. China sei „immer noch ein relativ einkommensschwaches Land, in dem erhebliche Armut herrscht“, schreibt Feldstein auf der Debattenplattform Projekt Syndicate. Obwohl Chinas gesamtes Real-BIP nur von dem der USA übertroffen werde und in Kaufkraft gemessen sogar höher sein könnte, liege das Pro-Kopf-Einkommen bei lediglich 7.000 US-Dollar. Das entspreche nicht einmal einem Siebtel des US-Wertes. Um das Ziel der chinesischen Führung zu erreichen, eine „moderne, wohlhabende Gesellschaft“ zu werden, müsse das Land noch viel tun, urteilt Feldstein. An einen Zusammenbruch der Volkswirtschaft glaubt er aber nicht.
Die meisten Chinesen interessiert vor allem eine Frage: Wird es der KP-Führung gelingen, auch weiter ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen? Knapp die Hälfte der Chinesen sind nach wie vor arme Bauern auf dem Land. Sie müssen sich aus den Erträgen des Ackers versorgen, den ihnen der Staat einst zugeteilt hat. Damit auch sie zu Wohlstand kommen, will die Regierung ihnen zu wesentlich produktiveren Jobs in den Städten verhelfen. Dafür muss sie jedoch jedes Jahr zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Dieses Ziel scheint mit den Wachstumsprognosen des Premierministers zumindest rechnerisch ungefährdet: Bei sieben Prozent Wachstum kommen auch in diesem Jahr zehn Millionen Jobs hinzu. Die Mechanismen funktionieren also noch.
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