der Freitag: Herr Pistner, die Atomkatastrophe von Fukushima jährt sich in dieser Woche zum dritten Mal. In den Randspalten der Zeitungen finden sich immer mal wieder Meldungen, was dort gerade passiert. Aber für technische Laien ist das nur schwer verständlich. Ist es ein Problem, dass die Bürger langsam das Interesse verlieren?
Christoph Pistner: Ja, denn wir brauchen nach wie vor die öffentliche Aufmerksamkeit. Die Probleme in Fukushima sind bei Weitem noch nicht gelöst. Es gibt nach wie vor Risiken, die von der Anlage ausgehen. Auch die Auswertung des Unfalls ist immer noch nicht abgeschlossen.
Der Atom-Experte Sebastian Pflugbeil hat kürzlich gewarnt: „Die Wahrscheinlichkeit, dass die Rettung gelingt, geht gegen Null.“ Wie dramatisch ist die Lage in Fukushima?
Apokalyptische Szenarien halte ich für übertrieben. Aber es gibt natürlich immer noch Gefahren. Derzeit wird daran gearbeitet, die abgebrannten Brennelemente in den Lagerbecken zu bergen. Die Gebäude, in denen sie liegen, sind vom Unfall massiv zerstört worden. Ob sie jetzt einem Erdbeben oder einer Überflutung standhalten würden, kann niemand sagen.
Was könnte passieren, wenn das nicht der Fall ist?
Sollte auf dem Anlagengelände Radioaktivität freigesetzt werden, würde das die ganzen Arbeiten dort in Frage stellen. Wenn es zu größeren Freisetzungen kommt, kann auch wieder ein größerer Umkreis um die Anlage betroffen sein, dann müssen eventuell auch noch mal Menschen evakuiert werden und weitere Gebiete könnten dauerhaft unbewohnbar werden.
Jeden Tag werden in Fukushima rund 400 Tonnen Wasser radioaktiv verseucht und niemand weiß, wohin damit. Wie kann das sein?
Die Reaktorkerne in den Blöcken 1 bis 3 müssen immer noch gekühlt werden, aber der geschlossene Kühlkreislauf ist zerstört. Daher wird ständig neues Wasser in die Anlagen reingepumpt, das läuft durch die Reaktordruckbehälter und die Sicherheitsbehälter hindurch, sammelt sich in den Kellern, vermischt sich dort mit eindringendem Grundwasser und enthält am Ende, weil man es durch die Reaktoren hat durchlaufen lassen, große Mengen an Radioaktivität. Dieses Wasser pumpt man dann wieder ab, reinigt es partiell und verwendet einen Anteil erneut für die Kühlung. Aber weil ständig Grundwasser in die Reaktorgebäude reinfließt, entstehen jeden Tag mehrere hundert Tonnen zusätzliches Wasser, die hochradioaktiv kontaminiert sind.
Derzeit wird das Wasser auf dem Gelände zwischengelagert. Ist das eine gute Idee?
Das Wasser kommt in große, provisorische Stahltanks, die immer wieder undicht werden. Aber eine dauerhafte Lösung ist nicht in Sicht. Tepco als Betreiber will eine Reinigungsanlage in Betrieb nehmen, die ist schon weitgehend fertig, funktioniert aber noch nicht richtig. Die Anlage soll dem Wasser einen großen Teil der Radioaktivität entziehen. Trotzdem gibt es keine Strategie, was danach mit den Wassermengen passieren soll. Es wird schon darüber spekuliert, ob die kon-trolliert ins Meer geleitet werden.
Ist das sinnvoll?
Unter normalen Umständen wäre das natürlich keine sinnvolle Strategie. Aber unter den Bedingungen in Fukushima muss man gucken, ob das verantwortbar ist oder nicht. Das wird vor allem davon abhängen, ob und wie gut diese Reinigungsanlage funktioniert.
Wurde nicht schon früher verseuchtes Wasser ins Meer gepumpt?
Unmittelbar nach der Katastrophe musste man mehrfach hoch radioaktives Wasser in den Pazifik leiten, weil damals die provisorischen Speicher fehlten.
Und nun sind die Fische alle vergiftet?
Radioaktivität kann über die Nahrungskette in den Fisch kommen. Deswegen wird das auch kontrolliert. Es kommt immer wieder vor, dass Fische mit deutlich erhöhten Werten gefunden werden. Solcher Fisch darf nicht in den Handel kommen.
Wie lange dauert es denn noch, bis die Situation in Fukushima unter Kontrolle ist?
Dazu müsste man definieren, was „unter Kontrolle“ heißt. Das Thema wird uns auf jeden Fall noch jahrzehntelang beschäftigen. Der erste Schritt ist die Bergung der Brennelemente aus dem Lagerbecken, das dauert ungefähr zehn Jahre. Danach kommt der schwierige Part, man muss an den geschmolzenen Brennstoff in den Reaktoren selbst ran. Dafür muss man zunächst die Gebäude so weit dekontaminieren, dass man dort arbeiten kann. Dann müssen die undichten Stellen an den Sicherheitsbehältern gefunden und repariert werden, damit man die Behälter mit Wasser fluten kann. Am Ende macht man die Sicherheitsbehälter auf und muss dann von oben mit Kränen und ferngesteuerten Systemen den Brennstoff bergen. Tepco geht davon aus, dass der ganze Prozess ungefähr 30 bis 40 Jahre dauert.
Wie viele Menschen arbeiten eigentlich zur Zeit auf dem Anlagengelände?
Das schwankt natürlich, es ist aber eine vierstellige Zahl. Übrigens kommt nur ein Bruchteil von Tepco selbst, die meisten Mitarbeiter sind bei Fremdfirmen beschäftigt, die von Tepco beauftragt wurden.
In der Fukushima-Region wurden 360.000 Kinder und Jugendliche auf Schilddrüsenkrebs untersucht. Die Rate war nach Angaben der atomkraftkritischen Ärzteorganisation IPPNW 40-mal so hoch wie vorher. Wie schwerwiegend sind die gesundheitlichen Folgen von Fukushima?
Da möchte ich mich zurückhalten, weil sich die Gesundheitsexperten darüber im Detail streiten. Beim Unfall in Fukushima war es jedenfalls günstig, dass der Unfall relativ langsam ablief und die japanische Regierung Zeit hatte, um Menschen zu evakuieren. Dadurch wurden auf jeden Fall für einen Großteil der Menschen schlimme gesundheitliche Folgen verhindert. Aber der Preis dafür ist eben, dass 150.000 Menschen ihre Heimat verlassen mussten und bis heute nicht zurückkehren konnten.
Bekommen diese Menschen eine Entschädigung?
Der Anlagenbetreiber Tepco zahlt Entschädigung, allerdings sind die Verfahren schwierig und aufwendig. Jeder Betroffene muss individuell einen eigenen Antrag stellen und angeben, welche Schäden entstanden sind.
Wahrscheinlich ist es ziemlich schwierig, nachzuweisen, dass eine Krankheit vom Atomunfall verursacht wurde und nicht einfach so aufgetreten ist.
Bei den Entschädigungen geht es bislang gar nicht um gesundheitliche Folgen, die sich auch letztlich erst langfristig zeigen werden. Es geht bisher um ökonomische Einbußen. Wenn Sie Fischer oder Bauer waren, dann können Sie Einnahmeausfälle geltend machen. Oder wenn Sie Ihr Haus verloren haben, dann bekommen Sie Geld. Es gibt aber bislang keine umfassenden Zahlungen, die alle Schäden abgelten. Die Entschädigungen sind befristet, man muss den Antrag regelmäßig neu stellen. Das liegt daran, dass es für viele Gegenden keine klaren Aussagen vom Staat gibt, ob und falls ja, wann da Menschen wieder hin zurückkehren können.
Nach der Atomkatastrophe hat Japan seine 50 Reaktoren alle abgeschaltet, im Moment kommt das Land ohne Atomstrom aus. Warum will die Regierung jetzt wieder Anlagen ans Netz bringen, wenn man doch den besten Beweis geliefert hat, dass ein kurzfristiger Atomausstieg möglich ist?
Japan musste ausweichen auf konventionelle Energien, also auf Kohle, Öl und Erdgas. Daher wurde mehr importiert und auch der CO2-Ausstoß hat sich erhöht. Das wird jetzt in der Diskussion als Argument dafür gebracht, dass diese Situation auf Dauer nicht hinnehmbar sei. Und die Energieversorgung komplett auf erneuerbare Energien umzustellen, das geht auch nicht von heute auf morgen.
Die japanische Regierung hat nach Fukushima erklärt, bis zum Jahr 2040 aus der Atomkraft auszusteigen.
Das stimmt, aber im Dezember 2012 gab es einen Regierungswechsel und die neue Regierung sieht das etwas anders. Sie hält einen schnellen Ausstieg für unmöglich oder für zu teuer. Sie befürwortet eine weitere Nutzung der Kernenergie, wenn auch nicht mehr in demselben Umfang wie vor Fukushima.
Es gibt ein Abkommen zwischen der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA und der Universitätsklinik Fukushima. Wenn eine Seite etwas geheim halten möchte, dann wird das von der anderen Seite berücksichtigt, heißt es in dem Abkommen. Ist das nicht problematisch, weil die IAEA die Förderung der Atomkraft als Ziel hat und nun mitentscheiden darf, was geheimgehalten wird und was nicht?
Die IAEA ist auf der einen Seite eine Förderorganisation für die Kernenergie und auf der anderen Seite damit beauftragt, die Sicherheit der Kernenergie zu erhöhen, und sie hat auch eine Rolle in der Diskussion über die Folgen der radioaktiven Strahlung. Das ist problematisch, völlig klar. Ich würde aber auch sagen: Die Geheimhaltung von Informationen im Zusammenhang mit Fukushima ist in jedem Fall indiskutabel. Das gilt für die IAEA genauso wie für Tepco.
Sie sind für eine vollkommene Transparenz?
Auf jeden Fall. Das ist auch ein wichtiges Prinzip bei Ereignissen, die die Sicherheit der Kernenergie betreffen, dass man die Erfahrungen international zugänglich machen muss.
Das Gespräch führte Felix Werdermann
Christoph Pistner, 44, ist Experte für Atomtechnik und Anlagensicherheit und arbeitet am Öko-Institut in Darmstadt. Der promovierte Physiker hat mehrere Publikationen zum Ablauf des Unfalls von Fukushima veröffentlicht. Er berät auch die Bundesregierung in Fragen der Sicherheit deutscher Atomreaktoren
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