Die Überlebende

Porträt Setsuko Thurlow ist ein Opfer der Atombombe von Hiroshima. Seit Jahrzehnten kämpft sie gegen Nuklearwaffen
Ausgabe 32/2015
Anfangs beschimpft, inzwischen ein Vorbild für viele Tausend: Setsuko Thurlow
Anfangs beschimpft, inzwischen ein Vorbild für viele Tausend: Setsuko Thurlow

Foto: Kyodo News/Imago

Sie sieht einen blauweißen Blitz und kurz darauf hat sie das Gefühl, in der Luft zu schweben. Setsuko Thurlow ist 13 Jahre alt und erfährt erst Wochen später, was sie da gerade erlebt hat: Über der japanischen Stadt Hiroshima hat die US-Armee eine Atombombe abgeworfen. Jetzt ist das genau 70 Jahre her. Setsuko Thurlow kämpft für eine Welt ohne Nuklearwaffen.

An jenem Montagmorgen des 6. August 1945 ist sie im Schülereinsatz in einem Quartier der japanischen Armee. Um Viertel nach acht explodiert die Atombombe, sie sieht das Licht durch das Fenster. „Als ich zu mir kam, war es still und dunkel“, erzählt sie. „Ich steckte zwischen eingestürzten Gebäudeteilen fest und konnte mich nicht bewegen.“ Mitschüler jammern: „Mutter, hilf mir!“ oder „Gott, hilf mir!“ Setsuko kann sich befreien und klettert aus den Trümmern. Als sie es geschafft hat, steht das Gebäude in Flammen. Die meisten ihrer Klassenkameraden verbrennen bei lebendigem Leib.

Draußen ist es dunkel, so viel Staub und Rauch liegt in der Luft. An ihr laufen „geisterhafte Gestalten“ vorbei. „Ihr Haar stand zu Berge, sie waren nackt und zerrissen, blutig, verbrannt, schwarz und verschwollen. Körperteile fehlten, Fleisch und Haut hingen ihnen von den Knochen, manche hielten ihre Augäpfel mit den Händen, manchen hingen die Eingeweide aus dem offenen Bauch.“

Die 13-Jährige steigt über Tote und Verletzte, geht zu einem Truppenübungsplatz am Fuße eines Hügels. Sie riecht den Gestank verbrannter Haut, hört das Flehen von Verletzten: „Wasser, Wasser, bitte gib mir Wasser!“ Der Übungsplatz ist überfüllt, überall liegen Tote und Verletzte. Sie läuft zu einem Fluss, wäscht sich Blut und Dreck ab. Dann reißt sie ihre Kleidung herunter, durchnässt sie und rennt zu den bettelnden Menschen. Sie saugen verzweifelt die Nässe aus der Kleidung.

„Der Bauch ist erst halb verbrannt“

Setsuko überlebt, ihre Eltern auch. Ihre Mutter kann aus den Trümmern ihrer Wohnung gerettet werden, ihr Vater hat die Stadt früh am Morgen verlassen. Er kommt zurück zum zerstörten Haus, bekommt Strahlung ab, zehn Jahre später stirbt er, vermutlich an den Folgen. Setsukos Schwester und ihr vierjähriger Sohn gehen gerade zum Arzt, als die Atombombe explodiert. Ihre Körper sind anschließend voller Brandwunden, die beiden kaum wiederzuerkennen. Wenige Tage später sterben sie und Setsuko muss zusehen, wie Soldaten ihre Leichen verbrennen. Sie heben eine Grube aus, schmeißen die Körper hinein, zünden sie an, stochern mit ihren Bambusstöcken darin herum. „Der Bauch ist erst halb verbrannt.“ Die 13-jährige Setsuko vergießt keine Träne. Sie ist „psychisch betäubt“, so beschreibt sie später ihren Zustand. „Wenn meine Psyche aktiv gewesen wäre, hätte ich in einer so fürchterlichen Situation nicht überleben können.“

Auch ihr Körper hat mit der Strahlung zu kämpfen. Ihr fallen Haare aus, sie hat innere Blutungen, Durchfall. „Diese Dinge waren sehr gewöhnliche Symptome zu dieser Zeit“, sagt sie heute. Damals aber sind viele Leute ratlos, wissen nicht, dass es sich um typische Folgen radioaktiver Strahlung handelt. Setsuko Thurlow wird wieder gesund, muss allerdings noch einige Jahre lang Medikamente nehmen.

Über die Krankheiten darf nicht öffentlich geredet werden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird das mit Deutschland verbündete Japan von den US-Amerikanern und Briten besetzt, Kritik am Atombombenabwurf ist tabu, die Überlebenden müssen sich in Schweigen und Selbstzensur üben. „Die Behörden zensierten die Medienberichte über das Leid der Überlebenden und beschlagnahmten Tagebücher, Aufzeichnungen, Filme, Fotos und Krankenakten“, berichtet Thurlow. Erst nach dem Ende der siebenjährigen Besatzung wurden viele medizinische Informationen öffentlich bekannt. 360.000 Menschen haben im Jahr 1945 in Hiroshima gelebt, mehr als 260.000 seien an den Folgen der Explosion, der Hitze und der Strahlung gestorben, sagt Setsuko Thurlow. Manche sofort, andere erst nach Wochen, nach Monaten oder Jahren.

Von der Politik enttäuscht

Thurlow aber hat nach dem Bombenabwurf ihr Leben noch vor sich. Sie will Sozialarbeiterin werden, geht in die USA, um das dort zu studieren, später arbeitet sie in Toronto, Kanada. Daneben kämpft sie für eine Welt ohne Atomwaffen. Auslöser war ein Interview, das sie in den Vereinigten Staaten gegeben hat. Sie wurde zu ihrer Rolle als Hiroshima-Opfer befragt, sie verurteilte den Abwurf – und bekam böse Zuschriften. Die Bombe habe den Krieg beendet, sie solle gefälligst wieder da hingehen, wo sie herkomme. Daraufhin beschloss sie, sich dafür einzusetzen, dass die Leiden der Opfer nie vergessen werden. Ihr Leben bekam einen tieferen Sinn.

In den Jahren darauf engagiert sie sich in verschiedenen Friedensorganisationen, reist um die Welt, um ihre Erfahrungen weiterzugeben. Ihre Geschichte hat sie inzwischen schon sehr oft erzählt, im Internet gibt es Youtube-Videos und Abschriften ihrer Vorträge. Kürzlich war die 83-Jährige in Berlin, redete vor Schulklassen und an der Universität. Der Hörsaal war rappelvoll, einige Zuhörer mussten stehen.

Sie hat auch schon auf einer UN-Konferenz gesprochen und bei internationalen Verhandlungen über ein komplettes Atomwaffenverbot. Von der Politik ist sie enttäuscht. „Obwohl wir Überlebenden unsere Lebensenergie darauf verwendet haben, Menschen vor der Hölle des Atomkriegs zu warnen, hat es in 70 Jahren kaum Fortschritte in der Abrüstung gegeben.“ Heute lagern ungefähr 16.000 Atombomben auf der Welt, manche Waffen haben die 90-fache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Mehr als 4.000 Bomben sind in ständiger Alarmbereitschaft, schon durch ein Versehen könnte ein Atomkrieg ausgelöst werden. „Das ist unheimlich“, sagt Setsuko Thurlow. „Es kann jeden Moment passieren, jede Sekunde.“

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