Die unbekannten Nachbarn

Asylbewerber Das Flüchtlingsheim in Berlin-Hellersdorf wird zum Hassobjekt der NPD. Was denken die Anwohner?
Ausgabe 35/2013
Die unbekannten Nachbarn

Foto: imago/Ipon

Ein Flüchtlingsheim in unserer Nachbarschaft? Wenn die Politik schon nichts unternimmt, müssen das die Bürger selber in die Hand nehmen. Auf ihre ganz eigene Art. Sie haben eine Mahnwache angemeldet, nur wenige Meter von der Asylunterkunft in Berlin-Hellersdorf entfernt. Aber sie demonstrieren hier nicht gegen die Flüchtlinge, sondern für sie. Und sie wollen das tun, was die Politik aus ihrer Sicht verschlafen hat: die Anwohner informieren und mit Vorurteilen aufräumen.

Am Montagnachmittag ist alles ruhig. Nichts zu sehen von Nazis, die gegen das Flüchtlingsheim demonstrieren und den Hitlergruß zeigen. Nichts zu sehen von Anwohnern, die mit den Nazis sympathisieren und sich dazu gesellen. Die Szenen der vergangenen Woche gingen deutschlandweit durch die Medien.

Nun sind die Linken besonders aufmerksam. Die Jugendlichen bei der Mahnwache beobachten sehr genau, wer am Flüchtlingsheim vorbeiläuft. Die Polizei fährt Streife – rund um die Uhr. Wenn etwas passiert, ist sie schnell vor Ort. Zudem wird die Flüchtlingsunterkunft von einer privaten Sicherheitsfirma bewacht. Der stämmige Wachmann am Eingang lässt nur die Asylbewerber herein, sonst niemanden, auch keine Journalisten. Die ehemalige Schule ist nun ein kleiner Hochsicherheitstrakt in der Plattenbausiedlung.

Latenter Rassismus

An der Straßenkreuzung sitzen zwei Jugendliche in Campingstühlen, ein Schirm schützt sie vor der Sonne. Mitgebracht haben sie einen kleinen Tisch mit Flugblättern und Broschüren, die sie an Passanten verteilen. An den Zaun hinter ihrem Stand haben sie Transparente angebracht: „Rassismus tötet“ ist darauf zu lesen und auch: „Kein Mensch ist illegal“.

Dirk Meiser spricht die vorbeikommenden Bürger an. Der 42-Jährige wohnt nur wenige hundert Meter entfernt, kennt die Leute in Hellersdorf. Und trotzdem wurde er in den vergangenen Tagen immer wieder überrascht von der „absoluten Masse an Falschinformationen“. Die meisten Bürger wüssten fast nichts über das Flüchtlingsheim. „Manche denken, es ist das erste in ganz Berlin“, sagt Meiser. Er habe auch eine Frau getroffen, „die ging davon aus, dass jeder dort 100 Euro pro Tag bekommt“. Andere wiederum glaubten, in der Unterkunft lebten nur Kriminelle. Sie hätte Angst vor Diebstahl.

Die Anwohner seien keine Nazis, sagt Meiser. Hinter der sogenannten Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf etwa stecke in Wirklichkeit die NPD. Er spricht jedoch von einem „latenten Rassismus“ in der Bevölkerung. Der zeige sich etwa in Äußerungen wie: „Nur weil ich keine Ausländer mag, bin ich doch kein Rassist.“

Die meisten Leute auf der Straße wollen nicht über das Flüchtlingsheim reden, winken sofort ab, wenn sie von Journalisten angesprochen werden. In einer Mitteilung des Bezirks heißt es: „Viele Anwohnerinnen und Anwohner sind es zu Recht leid, einerseits von Rechtsextremisten instrumentalisiert und andererseits pauschal als ‚Nazis‘ diffamiert zu werden.“ Zeichnen die Medien ein ganz falsches Bild von einer Nazi-Hochburg Hellersdorf?

Die rechtsextreme NPD sitzt im Bezirksparlament, bei der vergangenen Wahl bekam die Partei 4,1 Prozent der Stimmen. Die Zahl der rechtsmotivierten Straftaten sticht im Vergleich mit anderen Berliner Bezirken nicht besonders hervor.

Eigentlich ist Hellersdorf eine linke Hochburg. Die Linkspartei kam bei der Wahl auf mehr als 30 Prozent, stellt nun die stärkste Fraktion im Bezirksparlament. An den Laternen rund um das Flüchtlingsheim sind fast nur Plakate der Linken zu sehen, die Propaganda der NPD ist verschwunden. Schon an der U-Bahn-Station werden Besucher mit einem Antifa-Spruch begrüßt: „Nieder mit dem deutschen Mob“ hat jemand in weißer Farbe auf den Boden gesprüht.

Wahlkampf der Nazis

Es soll Flüchtlinge geben, die aus Angst vor überraschenden Nazi-Angriffen derzeit lieber bei Freunden übernachten als in dem Heim. In den Medien wurde bereits diskutiert, ob man es den Asylbewerbern zumuten könne, dort zu leben. Ihre Unterkunft dürfen sie sich nämlich nicht aussuchen.

Die Berliner Senatsverwaltung bleibt hart: „Wir können uns nicht von rechtsgerichteten Kräften diktieren lassen, wo man Flüchtlinge unterbringen kann und wo nicht“, sagt eine Sprecherin. Zudem lebten in Hellersdorf nur wenige Flüchtlinge im Vergleich mit anderen Berliner Bezirken.

Die Flüchtlingsunterstützer bei der Mahnwache hoffen, dass die NPD nicht an den kommenden Wochenenden wiederkommt. Die rechtsextreme Partei nutzte den Streit über das Flüchtlingsheim für ihren Wahlkampf, sagt Dirk Meiser. Erist jeden Tag acht Stunden hier, von 10 bis 18 Uhr. Der Ruhe hier in Hellersdorf traut er nicht so ganz. Noch nicht.

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