Journalisten lieben Zahlen. Sie sind präzise und objektiv. Man braucht sie bloß abzuschreiben – und schon ist der eigene Text über jede Kritik erhaben. Doch so wichtig Statistiken sind, so notwendig ist ein kritischer Blick auf sie. Wo kommen die Daten her? Was sagen sie wirklich aus? Oft wird die Interpretation gleich mitgeliefert – etwa vom Innenministerium zu der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik. Die offizielle Deutung ist allerdings sehr fragwürdig.
In dieser Woche etwa verkündete CDU-Innenminister Thomas de Maizière, die Zahl der tatverdächtigen Zuwanderern sei im vergangenen Jahr um rund die Hälfte (!) gestiegen. Gleichzeitig seien auch deutlich mehr rechts motivierte Gewalttaten verzeichnet worden, während die Gewalttaten aus dem linken Spektrum spürbar zurückgingen. Auf den ersten Blick scheinen die Fakten unwiderlegbar. Doch in Wirklichkeit sind die Zahlen alleine wenig aussagekräftig. Stattdessen schüren sie Angst vor Flüchtlingen und diskreditieren Positionen abseits des politischen Mainstreams.
Wird man mit großen Füßen kriminell?
De Maizière nutzte die Statistik sogar ganz ohne Scheu, um seine Abschiebungs-Agenda gegen Flüchtlinge voranzutreiben. Bei der Vorstellung der Zahlen sagte er: „Wer keines Schutzes bedarf, hat auch kein Recht darauf, in unserem Land zu bleiben.“ Dass sich die Statistik zur Stimmungsmache eignet, hat auch die AfD erkannt, die Straftaten mit der „unkontrollierten Einreise von Hunderttausenden Migranten“ in Verbindung bringt.
Dabei ist es eigentlich wenig verwunderlich, dass Flüchtlinge öfter straffällig werden als der Durchschnitt der Bevölkerung: Sie sind in der Regel arm, formal weniger gebildet, haben in Kriegen psychische Schäden erlitten. Hier werden sie in Massenunterkünften eingepfercht, sind ständig staatlicher Drangsalierung und gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und bekommen über lange Zeiträume keine Arbeitserlaubnis. All das spielt jedoch in der Kriminalitätsstatistik keine Rolle.
Jeder vernünftig denkende Mensch weiß, dass Kriminalität nichts mit dem Geburtsort, dafür aber sehr viel mit sozialen Faktoren zu tun hat. Daher kann man sich die Unterscheidung in Deutsche und Ausländer in der Statistik auch sparen. Genauso absurd wäre es, die Schuhgröße zu erfassen. Da käme zwar auch ein zunächst interessantes Ergebnis heraus: Wer auf großem Fuß lebt, begeht mehr Straftaten. Auf den zweiten Blick liegt das aber ebenfalls an anderen Faktoren: Großfüßler sind oft männlich und die werden häufiger kriminell.
Man kann die Straftat-Statistik über Flüchtlinge natürlich auch als eine Art Gradmesser für die Integration betrachten: Je ähnlicher die Kriminalitätswerte sind, desto mehr sind die Menschen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Auch die linke taz kann der Statistik etwas Positives abgewinnen, wenn diese zur „Versachlichung einer überhitzten Debatte“ beitrage: „Es sind diese Befunde, mit denen die Politik umgehen muss. Sie sollte Flüchtlinge dezentral unterbringen, statt in Großunterkünften Konfliktherde entstehen zu lassen.“ Allerdings: Von einer breiten politischen Diskussion über dezentrale Unterbringung ist wenig zu hören. Und das ist auch kein Wunder. Wer über die staatliche Verhinderung von Integration reden möchte, sollte genau dazu Daten erheben. Eine Kriminalitätsstatistik über Flüchtlinge hingegen verstärkt bloß Vorurteile.
Eine Aufgabe für die politische Bildung
Ähnlich verhält es sich mit den staatlichen Zahlen über „politisch motivierte Kriminalität“, sowohl von links als auch von rechts. Die Botschaft dahinter: Wer radikale Positionen vertritt, ist oft kriminell und gefährlich. Daher sollten sich Linke nicht darauf berufen – auch, wenn es auf den ersten Blick vorteilhaft erscheint, wie in diesem Jahr: Während die Rechten angeblich gewalttätiger wurden (plus 14,3 Prozent bei den Gewalttaten), sind die Linken wohl friedfertiger geworden (minus 24,2 Prozent).
Besonders aussagekräftig sind die Zahlen allerdings nicht: Wer etwa friedlich einen Naziaufmarsch blockiert, gilt schon als krimineller Linker, denn es werden nicht nur Gewalttaten berücksichtigt. Außerdem wird in Wirklichkeit gar nicht gezählt, wie oft gegen das Gesetz verstoßen wird, sondern bloß, wie oft Polizisten das glauben – und das auch noch als politisch motiviert einschätzen. Die Anschuldigungen können noch so haltlos sein: Selbst wenn es später einen Freispruch gibt, bleibt das angebliche Vergehen in der Statistik.
In Deutschland wird auch Buch geführt über Straftaten, die von Gerichten per Urteil festgestellt werden. Ein möglicher politischer Hintergrund wird in dieser Statistik jedoch nicht vermerkt – zu Recht. Zum einen dürfte das für Richter teilweise ziemlich schwer festzustellen sein. Zum anderen ist das auch nicht die Aufgabe der Justiz. Sie soll Rechtsverstöße feststellen und ahnden, nicht mehr und nicht weniger.
Wer kümmert sich dann um die Demokratie, wenn sie ernsthaft in Gefahr ist? Zahlen über Anschläge auf Asylbewerberheime dürfen nicht einfach verschwinden. Zuständig sollte jedoch die Bundeszentrale für politische Bildung sein. Sie kann und sollte durchaus Zahlen veröffentlichen über Vorfälle, bei denen politische Gegner oder Minderheiten tätlich angegriffen werden. Das ließe sich dann auch einordnen mit Hilfe von weiteren Erkenntnissen über Rassismus, Diskriminierung und politische Gewalt in Deutschland. Das wäre deutlich sinnvoller, als die Zahlen der politischen Propaganda eines CDU-Innenministers zu überlassen. Und es würde deutlich, dass Rassismus ein Problem ist, das sich nicht durch Strafen, sondern nur politisch lösen lässt.
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