Vor wenigen Wochen hat die Sterbesaison begonnen. Ungefähr 800 Menschen sind ertrunken, es war die größte Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer, die je bekannt geworden ist. Doch es steht zu befürchten, dass dies nur der traurige Anfang war. In den nächsten Wochen werden noch sehr viel mehr Menschen nach Europa aufbrechen. Sie treibt die blanke Verzweiflung in die oft hoffnungslos überfüllte Boote. Und sie werden weiter sterben. Die europäischen Politiker aber gucken tatenlos zu. In der ersten Woche reden sie von einem „Unglück“, zeigen sich geschockt und entsetzt. Hastig treffen sie sich zu Krisensitzungen. Aber anschließend gehen sie so schnell wie möglich zur Tagesordnung über. Am Ende ist alles wieder wie vorher.
Dieses zynische Spiel kennen wir von der Katastrophe vor der Insel Lampedusa, nicht einmal zwei Jahre ist das her. Italien startete als Reaktion ein Programm zur Seenotrettung. „Mare Nostrum“ hat Tausenden Menschen das Leben gerettet. Aber Italien wurde die Aktion zu teuer und die anderen europäischen Länder wollten nicht zahlen. Im vergangenen Herbst wurde die Operation eingestellt. Stattdessen patrouilliert nun die Grenzüberwachungsagentur Frontex, und es geht nun auch nur noch darum, die Grenzen und nicht die Flüchtlinge zu schützen. Lampedusa ist vergessen, die Festung Europa wird wieder hochgerüstet.
Der "Schlepper" als Bösewicht
Alle konnten wissen, was passieren würde. Der Tod von 800 Menschen war eine Katastrophe mit Ansage. Die Internationale Organisation für Migration zählte mehr als 1.500 Opfer seit Jahresbeginn, das sind 15 Mal so viele wie in den ersten Monaten des vergangenen Jahres. Die Menschen sind nicht verunglückt; sie wurden fahrlässig getötet. Aber von wem? Niemand übernimmt die Verantwortung, und niemand stört sich daran. Unter europäischen Politikern herrscht kollektive Verantwortungslosigkeit. Hätte Italien mehr tun müssen, die EU-Kommission, die anderen Staaten?
Es gibt Schuldige. Die Bundesregierung etwa hat die europäische Abschottungspolitik jahrelang nicht nur mitgetragen, sondern sie sogar gefördert. Weil sie ihre Mitschuld an der Katastrophe aber verschleiern will, sucht sie sich einen Bösewicht: die „Schlepper“. Innenminister Thomas de Maizière sagt: „Wir dürfen und werden es nicht dulden, dass diese Verbrecher aus bloßer Profitgier massenhaft Menschenleben opfern.“
Solche Sätze verdrehen die Realität. Natürlich gibt es unter den Menschen, die den Flüchtlingen helfen, nach Europa zu kommen, auch skrupellose Geschäftemacher. Aber die Flüchtlinge steigen freiwillig in die Boote, vor allem aus einem Grund: Alle anderen Wege sind ihnen versperrt. Europa ist abgeriegelt, abgeschottet. Regierungen wie die deutsche treiben die Menschen mit ihrer Politik in die Arme der Fluchthelfer und Geschäftemacher.
Gnadenlose Abschottung
Wer hierzulande einen Asylantrag stellen will, darf meist gar nicht erst einreisen. Die Fluggesellschaften müssen hohe Strafen zahlen, wenn sie Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis nach Deutschland bringen. Das Bundesverwaltungsgericht ist 1992 sogar zu dem Schluss gekommen, dass diese Regel das Asylrecht aushebelt. Die Karlsruher Verfassungsrichter sahen das jedoch anders. Sie haben die Regel für gültig erklärt.
Auch über den Landweg haben die Flüchtlinge keine Chance. Griechenland, Bulgarien und Spanien bekämpfen die Migranten gnadenlos. Meterhohe Zäune, Hightech-Überwachung und Frontex-Patrouillen, finanziert durch die Bundesregierung und andere europäische Länder. Hinzu kommen „Push-Back“-Operationen, bei denen Flüchtlinge völkerrechtswidrig zurückgewiesen werden. Organisationen wie Pro Asyl prangern das seit langem an, geändert hat sich nichts. All das geschieht unter den Augen der EU-Länder.
Die Abschottung hat auch mit einem ungerechten System innerhalb der EU zu tun. Zuständig für den Asylantrag ist immer das Land, das einen Flüchtling als erstes registriert. Die Bundesregierung hatte schon in den 90er Jahren seine Nachbarländer zu so genannten sicheren Drittstaaten erklärt und eingereiste Flüchtlinge ohne Prüfung des Einzelfalls dorthin zurückgeschickt. 2003 wurde diese Abschiebung der Verantwortung europäisiert und in EU-Recht gegossen. Heute protestieren die Länder an den EU-Außengrenzen zwar regelmäßig, doch sie haben damals zugestimmt und müssen sich an die Regelung halten. Sie können nicht einfach aus dem unfairen Spiel aussteigen. Die Folge: Länder wie Bulgarien, Griechenland, Italien und Spanien fühlen sich überfordert und schotten sich gegen die Flüchtlinge umso brutaler ab.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière wirbt für eine faire Aufteilung der Flüchtlinge auf alle europäischen Länder, inzwischen hat auch die EU-Kommission einen Vorschlag dazu gemacht. In der Tat könnte das ein erster Schritt sein, in Deutschland gibt es ebenfalls einen Verteilungsschlüssel für die Bundesländer. Allerdings fehlt ein europäisches Asylverfahren und die Situation ist je nach Land anders: Mal bekommen Flüchtlinge eine eigene Wohnung, mal müssen sie auf der Parkbank schlafen. Besser wäre es daher, wenn sich Asylbewerber und Asylberechtigte in ganz Europa frei bewegen dürften, dann könnten sie auch zu Freunden und Familien ziehen. Ein europäischer Finanzausgleich sollte für Kostengerechtigkeit zwischen den Staaten sorgen. De Maizière sollte sich aber nicht zu früh freuen: Deutschland würde wegen seiner Wirtschaftskraft deutlich mehr zahlen als andere Länder.
Europa muss den Flüchtlingen endlich ermöglichen, legal einzureisen und einen Asylantrag zu stellen. Europa muss aber auch deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen. Sonst suchen sie weiter illegale Wege – und das Mittelmeer wird auch in Zukunft ein Massengrab sein.
Kommentare 8
> und das Mittelmeer wird auch in Zukunft ein Massengrab sein.<
das ist so sicher wie der fakt, dass das wasser von oben nach unten fließt (ausnahmen im karst kennen nur eingeweihte).
lieber felix,
das thema - auch das schließt deine feststellung ein - wird uns erhalten bleiben. in rom ließ sich der zustrom der germanen auch nicht in wenigen jahren stoppen. wie damals gibt es auch heute einige leute, die sich gewinn versprechen vom zustrom der fremden.
wo die sache grundsätzliches zu tage fördert wie die europa-abschottungspolitik, ist es naheliegend, das grundübel des systems zu benennen: den markttypischen eigennutz, der sich auch nazionalistisch gibt. die unterschiede sind vernachlässigbar, wenn die wirtschaft nur die besten arbeiter von den migranten erwartet, die benachteiligten hierzuland und in andern ländern die konkurrenz der zuwanderer fürchten, die rassisten plump xenophob reagieren und das regierviertel eine gelegenheit sieht, seine schutzfunktion unter beweis zu stellen?
die kriegsgesellschaft, mit der wir es zu tun haben, unterscheidet zwischen in- und ausland, wobei das ausland potenziell feindesland ist, entsprechend die ausländer irgendwie gefährlich sind oder zumindest sein könnten.
wenn aus den genannten gründen nicht mal die europäer sich auf ein gemeinsames programm einigen können, wie sollte dann die sogenannte weltgemeinschaft helfen können?
die migration ist aber ein weltproblem wie der klimaschutz oder allgemein die ökologie. wachhunde, die übereinander herfallen und sich jagen und beißen, sind nicht die besten wachhunde. die sogenannten souveränen staaten sind wie die unverträglichen wachhunde ungeeignet, die probleme der welt zu lösen. sie sind das eigentliche problem. darum stimme ich deiner schlussfolgerung zu.
grüße, helder
Schuld ist auch die Bundesregierung, weil sie die Politik der Abschottung stützt
Man muß schon einen extrem verstellten Blick auf die Realität haben, um zu so einem Schluß zu kommen. Mit der gleichen Logik könnte man behaupten: Europa ist schuld, weil es überhaupt Migranten aus dem Wasser fischt und aufnimmt. Würden man alle umgehend zurückschicken, läßt der Nachahmerdruck irgendwann nach.
Liebe Community!
Bei dem großen Wort "Schuld" würde mich Eure Meinung zu einem Gedankenexperiment interssieren: Würde Deutschland am Strand von Nordafrika Aufnahmestellen einrichten und jeden aufnehmen, der es bis dorthin schafft. Und würde ferner in der Folgezeit ein wachsender Strom von Flüchtlingen aus dem südlicheren Afrika bei dem Versuch dort hin zu gelangen in der Sahara verdursten.
Wären wir dann auch "schuld" am Verdursten dieser Flüchtlinge? Müssten wir die Sahara überwachen lassen und alle Aufnehmen, die verzweifelt genug sind, sich in diese Gefahr zu begeben?
Ich sehe keine Schuld oder so etwas, sondern recht komplexe Zusammenhänge. Häufig wirken Handlungen aus der Vergangenheit in die Gegenwart, wie William Pfaff in den Blättern bezüglich der arabischen Staaten ausführt.
Bezüglich Asylpolitik schrieb Reinhard Müller: "Flüchtlinge müssen menschenwürdig behandelt werden - aber eine Aufnahmepflicht in den europäischen Staaten besteht nicht. Es verstößt nicht gegen internationales Recht, wenn man sie an der Grenze zurückweist."
Zu den innerafrikanischen Verhältnissen führt Joseph Croiteru aus: "In der Diskussion über afrikanische Flüchtlingsströme wird kaum über die Migration innerhalb Afrikas geredet. Dabei ist sie der Schlüssel zum Verständnis des Ansturms auf Europa."
Es gibt ja dann auch in Afrika Interessen, über die selten berichtet wird. Jochen Stanke tut das am Beispiel Nigers.
Aufschlußreich ist schließlich ein Vergleich der Bevölkerungsdichte
Bevölkerungsdichte/ Fläche
Australien ca. 3 Ew/km²; ca. 7,69 Mio. km²
Kanada ca. 4 Ew/km²; ca. 9,98 Mio. km²
USA ca. 33 Ew/km²; ca. 9,82 Mio. km²
Afrika ca. 30 Ew/km²; ca. 30,2 Mio. km²
Afrika, nach Abzug Wüste, ca. 55 Ew/km²; ca. 18,1 Mio. km²
EU-Staaten ca. 116 Ew/km²; ca. 4,38 Mio. km²
Deutschland ca. 228 Ew/km²; ca. 0,35 Mio. km²
"Schuld ist auch die Bundesregierung, weil sie die Politik der Abschottung stützt" - und weil sie sich Monat für Monat davor drückt, das gesamte komplexe Thema einmal auf den Tisch zu packen, gemeinsam mit europäischen Partnern.
Die Frage ist allerdings, ob etwas besser werden würde, WENN das Thema eines Tages angepackt wird. Wenn ich daran denke, welche Maßnahmen die Gemeinsachaft beschloss, um den wirtschaftlich bedrohten armen Staaten im Süden Europas zu "helfen", auf die Beine zu kommen...
"Die Dummheit von Regierungen sollte niemals unterschätzt werden", warnte schon Helmut Schmidt.
Das haben wir irgendwie immer noch nicht ganz realisiert.
https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=804667236285744&id=716985431720592
Egal, welche Maßnahmen Deutschland ergreifen wird, der Flüchtlingsstrom wird weiter wachsen.
Solange dieser Kontinent nicht zur Ruhe kommt, wird es immer mehr Menschen geben, die dem dortigen Elend entfliehen werden. Die Industriestaaten verdienen am Waffenexport, an der Ausbeutung der dortigen Bodenschätze, und am Import der Agrarprodukte. Wir in Europa liefern den Menschen, als Beispiel Geflügelabfälle. Das bedeutet für den dortigen Bauern, er kann seine Produkte (hier Geflügel) nicht verkaufen. Er kann mit dem Billigangebot aus der EU nicht mithalten. Es ist eine Spirale des Elends ohne Ende. Unser Wohlstand beruht, auch auf der Ausbeutung Afrikas durch die Industriestaaten der Welt. Wir fischten ihre Meere leer, rauben ihnen ihre Bodenschätze…
Nun kommt die Flut der Flüchtlinge und sie wird nicht enden….. Abhilfe könnte nur ein riesiges Wirtschaftsprogramm für ganz Afrika schaffen. Utopie , da kein Industrieland dafür Geld bereitstellen wird. Es gibt derzeit keine annehmbare Lösung. Das Ausfliegen der Flüchtlinge direkt aus Afrika undenkbar, nicht machbar…….Sünden der Vergangenheit und der Gegenwart bringen immer eine Folge von Ereignissen, früher oder später treten sie in Kraft.
Der Aufstand der Israeliten und die Zerstörung des Jüdischen Staates 70 nach Christi hat furchtbare Folgen bis in unsere Zeit. Die Ausbeutung Afrikas und deren Folgen, wird die Welt noch 500 Jahre beschäftigen. Europa wird in hundert Jahren nicht mehr so sein wie jetzt. Die Flut wird kommen, zur Zeit ist es noch ein kleiner Strom der sich zu einer riesigen Flut entwickeln wird…….
Das deutsche und europäische Kapital, die Wirtschaftsverbände und auch die staatlichen Einrichtungen, raubt den Krisen- und Armutsregionen nach Möglichkeit auch noch die wenigen qualifizierten Fachkräfte. So nach den wirtschaftlichen Interessenbekundungen.
An den sozial-ökonomisch armen Menschen, ohne schulische und berufliche Bildung, an der großen Mehrheit der arabischen und afrikanischen Bevölkerungen, hat die deutsche und europäische Verwertungs- und Dividenden-Industrie, deren GroKo und Wirtschafts- und Monopolverbände, keinerlei profitables Interesse [eventuell noch die Organhändler -- für europäische Wohlstandsbürger]!
Allenfalls benötigt man sie, die Menschen in den sozialen Armutsregionen, als billiges Kanonenfutter: für die Bedienung von deutschen, französischen, britischen und amerikanischen Kriegsgerät und für die [billige] Zurück-Eroberung von (dortigen) Rohstoff-Quellen.
Damit vernichtet das deutsche und europäische Kapital, die Bourgeoisie und deren willige Administration, bewusst, jede selbständige ökonomische und soziale Entwicklung und Zukunft in den asiatisch-arabisch-afrikanischen Krisen-, Kriegs-, Rohstoff- und Armutsregionen!
Diese (ungeschminkten) Wahrheiten dürften auch der gebildeten [christlichen] deutschen Bevölkerung bekannt sein. Aber nur die Wenigsten führen (vorerst) einen aussichtslosen außerparlamentarischen und antiimperialistischen Kampf dagegen!
[-- unvollständig.]