Das Café, in dem wir uns treffen, liegt direkt am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte. Malte Spitz wohnt nur ein paar Meter entfernt, mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. In das Café gehe erhäufig, sagt er, es ist ruhig. Malte Spitz hat seinen Laptop dabei, er ist Netzpolitiker. Mit 22 Jahren saß er schon im Bundesvorstand der Grünen. Die Vorratsdatenspeicherung ist sein großes Thema, diesen Herbst wird im Bundestag erneut darüber beraten. Während unseres Gesprächs stottert der 31-Jährige, aber nur selten.
der Freitag: Herr Spitz, wir sind beide in der kleinen münsterländischen Stadt Telgte aufgewachsen, unsere Eltern waren bei den Grünen im Ortsverband, zum Studium sind wir nach Berlin gegangen. Ich bin Journalist, Sie sind Politiker geworden. Warum?
Malte Spitz: Ich habe lange für den Journalismus gebrannt und finde Schreiben noch heute super. Aber als ich 2003 nach Berlin kam, war für mich der Einstieg in die Politik einfacher, ich konnte über die Grüne Jugend schnell Fuß fassen, und politisches Engagement ist noch heute meine Leidenschaft.
Als Netzpolitiker haben Sie es sogar auf die Titelseite der „New York Times“ geschafft. Kurz zuvor haben Sie T-Mobile auf Herausgabe der Handydaten verklagt, die im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung über Sie gesammelt wurden. Die haben Sie dann im Internet veröffentlicht, um zu zeigen, was man aus diesen Daten schließen kann. Wie hat das die Diskussion verändert?
Vorher war das eine abstrakte Debatte: Vorratsdaten verraten etwas über das Alltagsleben. Dann aber konnte es jeder an meinen eigenen Daten sehen. Du klickst auf Play und siehst mich herumfahren mit dem Zug, mit dem Auto, mit dem Rad. Insgesamt waren es mehr als 35.000 Daten aus einem halben Jahr. Mir ging es um Aufklärung. Und darum, einen Aha-Effekt zu erzeugen. Für viele Menschen wurde das sperrige Thema Vorratsdatenspeicherung greifbar und verständlich.
Weil man Details sehen kann.
Ja, wann stehe ich unter der Woche auf, wann schreibe ich morgens die erste SMS, wann komme ich ins Büro, wann bin ich wieder zu Hause. Für einen Verfassungsschutzbeamten, der mich observieren will, ist das eine super Quelle, weil er genau weiß, wann und wo er mich antreffen kann. Und wenn er etwas Abweichendes feststellt, ist das erst mal verdächtig.
Es war bestimmt eine schwierige Entscheidung, die privaten Daten dann auch zu veröffentlichen. Wie kam es dazu?
Die Idee war schon immer im Hinterkopf, ich habe aber erst nach der Klage den Entschluss gefasst. Ich habe überlegt, veröffentliche ich einen Tag, eine Woche, einen Monat aus meinem Leben? Am Ende habe ich alles veröffentlicht und gesagt: Scheiß drauf, ich muss mir nichts vorwerfen. Obwohl die Visualisierung jetzt schon über vier Jahre alt ist, schreiben mir fast wöchentlich Leute, wie sie das mitnimmt, wie sie das aufgeweckt hat.
Sie machen sich zum gläsernen Bürger und sagen: Ich muss mir nichts vorwerfen. Das ist doch die klassische Argumentation für mehr Überwachung – angeblich nichts zu verbergen zu haben.
Ich habe schon etwas zu verbergen, aber ich konnte für mich selbstbestimmt die Entscheidung treffen, dass ich diese Daten veröffentliche. Bei der Vorratsdatenspeicherung habe ich keine Kontrolle über die Daten. Ich werde nicht informiert, wer sie abruft, wie diese Daten verarbeitet werden, mit welchen anderen Daten sie abgeglichen werden.
Die Vorratsdaten sollen nur zur Bekämpfung von Straftaten genutzt werden. Wer nicht kriminell ist, hat nichts zu befürchten.
Das ist nur die halbe Wahrheit. Erstens geht es um zehntausende Fälle, auch Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Zweitens: Auch Geheimdienste haben Zugriff. Da weiß man nicht, was wozu abgefragt wird. Drittens gibt es die Funkzellenabfrage, die immer häufiger angewendet wird.
Was ist das für eine Methode?
Da sagt die Polizei: Wir hätten gern alle Daten von den eingeloggten Handynutzern zwischen 10 Uhr und 13 Uhr am 15. September am Rosenthaler Platz in Berlin. Das sind Informationen über hunderte Menschen, die bleiben oft für Jahre in den Ermittlungsakten, ohne dass man genau weiß, wer darauf Zugriff hat. Viertens verkaufen Unternehmen auch Daten.
Die Vorratsdaten?
Es gibt bisher keine Trennung zwischen Vorratsdaten und anderen Verkehrsdaten. Es ist eine Datenbank, mit der gearbeitet wird.
Unordnung im Funkverkehr
Die Europäische Union hatte im Jahr 2006 eine Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung beschlossen, die Staaten mussten sie umsetzen und nationale Gesetze erlassen. In Deutschland trat das ent-sprechende Gesetz 2008 in Kraft, wurde jedoch zwei Jahre später schon wieder vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Im vergangenen Jahr hat auch der Europäische Gerichtshof die EU-Richtlinie für ungültig erklärt. Dennoch wagt die Große Koalition in Deutschland einen neuen Anlauf. Das SPD-geführte Justizministerium und das CDU-geführte Innenministerium haben sich auf einen Gesetzentwurf verständigt. In dieser Woche fand dazu im Rechtsausschuss des Bundestags eine Expertenanhörung statt.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass vier Wochen lang festgehalten wird, in welcher Funkzelle sich ein Handy befindet. Zehn Wochen lang werden die Rufnummern der Gesprächspartner gespeichert, außerdem Datum, Uhrzeit und Dauer das Anrufs. Auch der Versand und das Erhalten von SMS wird mit Zeit und Ort festgehalten. Gleiches gilt für die IP-Adressen der Internutzer. Von Berufsgeheimnisträgern wie etwa Anwälten sollen die Daten zwar gesammelt, jedoch nicht von den Behörden abgerufen werden. Die Inhalte der Kommunikation sollen generell nicht gespeichert werden.
Aber die Daten dürfen doch nicht verkauft werden, oder?
In Deutschland wird das bisher nach meiner Kenntnis nicht gemacht, weil es ein Graubereich ist. Aber es gibt Anbieter, die praktizieren das in anderen Ländern, zum Beispiel Vodafone oder O2. Die verkaufen nicht die Daten von Einzelnen, sondern zusammengefasste Daten. Ein Werbekunde sagt dann, ich würde gern wissen: Wo halten sich die neuen iPhone-6-Nutzer auf, also die Leute, die in den letzten Monaten 700 Euro dafür ausgegeben haben?
Das Thema lässt Sie nicht los. Für Ihr aktuelles Buch „Was macht ihr mit meinen Daten?“ haben Sie zusammengetragen, wer welche Daten über Sie gesammelt hat. Wie haben Sie das recherchiert?
Insgesamt habe ich mehr als 40 Anfragen gestellt, bei der Polizei, der Stadtverwaltung, der Krankenkasse, den Fluglinien, der Deutschen Bahn, bei Banken, bei Auskunfteien. Jeder Bürger hat nach dem Bundesdatenschutzgesetz einen Anspruch auf Auskunft, sowohl gegenüber staatlichen Behörden als auch gegenüber privaten Unternehmen. Die müssen verraten, welche Daten dort über mich gespeichert sind, wo diese herkommen und an wen sie weitergegeben werden. Ganz viele Stellen haben nur eingeschränkt oder gar nicht geantwortet oder haben sich extrem viel Zeit gelassen.
Das klingt, als wäre es Ihnen ziemlich schwer gemacht worden. Woran liegt das?
Einige haben keinen Plan, wie sie mit solchen Anfragen umgehen sollen. Bei Air Berlin habe ich die Antwort bekommen: Tut uns leid, dass Sie Ärger mit Ihrem Flug hatten. Dann gibt’s die Unternehmen, denen das viel zu aufwendig ist. Die sagen sich wohl: So ein Scheiß, das kostet uns Stunden! Wenn man keine ordentlich sortierte Datenbank hat, ist das auch aufwendig. Die haben dann versucht, mich abzuwimmeln oder mich mit Brotkrümeln an Daten abzuspeisen, obwohl noch das ganze Brot da ist.
Gab es auch eine Auskunft, die Sie erschreckt hat?
Blauäugig war ich bei den Daten meiner Krankenversicherung. Da sind alle Arztbesuche der letzten drei Jahre drin. Die Kasse weiß aber nicht nur, wann ich wo war und welche Leistungen erbracht wurden. Jedes Mal wird ihr auch die genaue ärztliche Diagnose übermittelt.
Ist das erlaubt?
Zuvor dachte ich, dass die Diagnose unter die ärztliche Schweigepflicht fällt. Dies ist aber nicht so, es gibt eine Regelung im Sozialgesetzbuch, die dies erlaubt. Taucht in Ihrer Krankenakte auch auf, dass Sie stottern? Ja. Zwei, drei Ärzte haben das mit dazugeschrieben. Ich stottere, seitdem ich sprechen kann.
Was war der Auslöser?
Woher das kommt, kann niemand beantworten, nicht nur bei mir, sondern bei allen Stotterern. Ist das was Psychisches, hat das mit der Atmung zu tun, mit der Zunge oder den Hirnströmen?
Trotzdem sind Sie in die Politik gegangen, in einen Beruf, in dem man auch rhetorisch überzeugen muss.
Ich muss als Politiker oft reden. Aber ich habe immer versucht, das nicht als Hindernis zu sehen. Politik ist ja auch deutlich mehr als nur die politische Rede. Aber natürlich ist es manchmal schwierig. Beim Treffen des Ortsverbands, bei der Podiumsdiskussion, beim Parteitag vor 1.000 Leuten. Wenn ich eine Rede nicht flüssig vortrage, ist es für die anderen schwieriger, zu folgen. Es bleibt bei den Zuhörern weniger vom Inhalt hängen, den ich vermitteln will.
Eine Ihrer wichtigsten Reden hielten Sie im Jahr 2006, als Sie sich zum ersten Mal für den Parteivorstand beworben haben. Wie sind Sie da rangegangen?
Ich habe die Rede wochenlang vorbereitet, bestimmt 20 Mal geprobt, vorm Spiegel, frei im Raum, am Rednerpult in der Grünen-Bundesgeschäftsstelle, am Abend vorher im Hotelzimmer. Es gibt in jeder Rede Formulierungen oder Satzanfänge, wo ich beim Proben merke, oh, da bleibe ich häufiger hängen. Dann wird’s geändert.
Und wie ist es dann gelaufen?
Ich halte selten eine Rede so flüssig wie beim Proben. Natürlich bin ich angespannt, wenn ich vorn am Rednerpult stehe, das Scheinwerferlicht strahlt mich an, die Fernsehkameras sind auf einen gerichtet. Aber sagen wir mal so: Ich wurde gewählt.
Wenn Sie in der Rede anfangen zu stottern: Gibt es einen Trick, oder können Sie nichts machen?
Wenn ich drei, vier Mal hintereinander stottere, dann steigere ich mich häufig da hinein. Dann bin ich so angespannt, als würde ich gerade einen 50-Kilo-Sack hochheben. Das ist auch körperlich anstrengend. Ich versuche dann, mich zu entspannen. Ruhig atmen, einen Schluck trinken, ins Publikum blicken.
Freuen Sie sich, wenn man Sie auf das Stottern anspricht, weil sich Menschen dafür interessieren? Oder stört Sie das?
Wenn ich gefragt werde, rede ich auch über das Stottern, aber das ist nicht mein politisches Anliegen. Ich definiere mich nicht darüber.
Welche Reaktion wünschen Sie sich, wenn Sie stottern?
Mir ist ein ganz normaler Umgang am liebsten. Es gibt Leute, die schauen beschämt nach unten. Diesen Versuch, der Situation zu entkommen, empfinde ich als unangenehm. Dann gibt es Menschen, die legen mir Wörter in den Mund, wollen also für mich sprechen. Darüber rege ich mich auf – und ich glaube, vielen anderen Menschen, die stottern, geht es ähnlich. Und dann gibt es noch die Leute, die glauben, dass sie mich nicht drauf ansprechen dürften. Das ist aber völliger Quatsch.
War das Stottern für Sie auch mal ein richtiger Nachteil? Weil etwa Radio- oder Fernsehinterviews nicht gesendet wurden?
Ich denke schon, aber ich kann das nur vermuten. Die Journalisten rufen ja nicht an und sagen: Vielen Dank, Herr Spitz, für das Gespräch, aber wir haben es nicht verwenden können, weil Sie in dem Satz drei Mal gestottert haben.
Und umgekehrt: Kann Stottern für einen Politiker vorteilhaft sein?
Wenn es um wichtige politische Entscheidungen geht, gibt es keinen Mitleidsbonus.
Das Gespräch führte Felix Werdermann
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