„Vorbeugung rechnet sich“

Kriminalität Die Prävention von Straftaten ist billiger, als später den Schaden zu zahlen, sagt der Experte Erich Marks. Trotzdem mache die Politik zu wenig
Ausgabe 23/2015

der Freitag: Herr Marks, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie man Verbrechen besser vorbeugen kann. Was ist der größte Irrtum über die Kriminalprävention?

Erich Marks: Viele denken, dass Präventionsprojekte kleine nette Maßnahmen sind, die man durchaus machen kann, die aber unterm Strich nicht zur Lösung von Kriminalitätsproblemen beitragen. Prävention wird einfach nicht ernst genug genommen. Da wird zu wenig getan.

Wie kann das sein? Im Prinzip sind doch alle für Vorbeugung.

Eine Teilerklärung ist sicherlich, dass man die Erfolge erst später sieht. Das ist wie mit der ökologischen Nachhaltigkeit. Wenn Sie heute in Prävention investieren, in Kindergärten, in Schulen, in Jugendeinrichtungen, dauert das mehrere Jahre oder Jahrzehnte, bis Sie die Erfolge messen können. Das ist schwierig für Politiker, die häufig in Legislaturperioden denken.

Sie sagen aber auch, dass es inzwischen ein Umdenken gibt.

Ja. Es hat Jahre gedauert, bis man auch in Deutschland gemerkt hat: Man kann Prävention messen, man kann sie überprüfen, man kann sie auf bestimmte Probleme und Zielgruppen zuschneiden. Ich vergleiche das mit der Geschichte unseres Präventionstages. Vor 20 Jahren haben wir mit 168 Teilnehmern angefangen, das war damals ein absolutes Exoten-Thema. Heute kommen rund 3.000 Menschen, es ist nunmehr der größte Kongress dieser Art in Europa.

Zur Person

Erich Marks, 60, leitet den Deutschen Präventionstag, einen Fachkongress, der Anfang der kommenden Woche in Frankfurt am Main stattfindet. Zudem ist er seit 2002 Geschäftsführer des Landespräventionsrats in Niedersachsen

Foto: Presse

In den Medien wird viel über die Strafverfolgung berichtet, aber nur wenig über die Vorbeugung. Woran liegt das?

Als Journalist brauchen Sie häufig ein Bild oder einen O-Ton. Wollen Sie da immer das Einüben von Sozialverhalten bei Kindern und Jugendlichen zeigen? Wenn jemand abgeführt wird, wenn jemand eingesperrt wird, wenn jemand vor Gericht steht, dann sind das extreme Situation. Über Vorbeugung zu berichten, ist in der Regel nicht so aufregend.

Wenn die Vergewaltigung von Kindern bekannt wird, kommt ganz schnell die Forderung nach härteren Strafen. Ist Abschreckung die beste Verbrechensvorbeugung?

Nein. Es gibt offenbar immer noch diesen Reflex, auf schlimme Taten mit härteren Strafen zu reagieren. Das bringt aber wenig bis nichts, das wissen wir aus der Forschung. Es gibt eine alte kriminologische Erkenntnis: Nicht die Strafhöhe hält die potenziellen Täter von dem Verbrechen ab, sondern die Sanktionswahrscheinlichkeit. Selbst mit Höchststrafen lässt sich die Kriminalitätsrate nicht senken. Das zeigt sich beispielsweise in den USA. Die Amerikaner haben gesagt: Wir wollen konsequent durchgreifen, weil wir glauben, dass das abschreckt. Fast nirgendwo sonst auf der Welt sind so viele Menschen im Gefängnis. Trotzdem ist die Kriminalität sehr hoch. Bei der Prävention hingegen wissen wir, dass sie wirkt. Und dass sie sich wirtschaftlich rechnet.

Trotzdem finden sich immer wieder Politiker, die härtere Strafen fordern. Sind sie womöglich in ihren Emotionen gefangen und es geht ihnen nur um Rache an dem bösen Täter und nicht darum, in Zukunft Straftaten zu vermeiden?

Das könnte sein. Wir sollten daher versuchen, eine neue Denkweise zu etablieren. Es gibt aber auch schon großen Rückhalt in der Gesellschaft für vorbeugende Maßnahmen. Wenn man die Bevölkerung befragt, dann wird es eindeutig positiv bewertet, dass es für Prävention Geld gibt.

Einige Menschen meinen aber auch, man solle das Geld lieber für die Opfer ausgeben, als mit den Tätern zu arbeiten.

Auch diese Position gibt es. Aber es liegt eindeutig im Interesse der Opfer, dass man sich auch um die Täter kümmert. Nehmen wir die häusliche Gewalt. Häufig ist der Mann der Täter, der seine Frau misshandelt. Insbesondere wenn das Paar zusammenbleiben will, ist doch entscheidend, dass der Täter sein Gewaltverhalten nicht wiederholt. Natürlich können wir die Strafverfolgung nicht komplett durch Prävention ersetzen. Aber wenn wir Opferhilfe ernst nehmen, müssen wir vorbeugen und dafür sorgen, dass es keinen Rückfall gibt. Wir haben zahlreiche Projekte, die sogenannte Täterarbeit anbieten. Das ist erst mit spitzen Fingern angefasst worden, aber inzwischen ist das ganz normal und anerkannt.

Sie fordern eine evidenzbasierte Kriminalpolitik. Was heißt das?

Die Wissenschaft hat eine Menge zu bieten, aus dem die Politik Konsequenzen ziehen kann. Vorbildlich ist etwa der Staat Washington. Das Parlament hat dort vor über 30 Jahren gesagt: Wir wollen ein Forschungsinstitut einrichten und alle Maßnahmen mit Präventionsbezug durch dieses Institut prüfen lassen. Wir haben nur begrenzte finanzielle Mittel und wir wollen das Geld so ausgeben, dass wir ein Höchstmaß an Wirkung erzielen.

Wie kann man überhaupt wissenschaftlich untersuchen, wie effektiv Prävention ist? Wenn das Verbrechen nicht stattfindet, weiß man doch gar nicht, ob die Vorbeugung gewirkt hat oder ob es auch sonst kein Verbrechen gegeben hätte.

Das ist vergleichbar mit der medizinischen Forschung. Man untersucht die Kriminalitätsentwicklung in einer bestimmten Gruppe und vergleicht das mit einer Kontrollgruppe, in der keine Prävention geleistet wurde. Es ist daher methodisch problemlos möglich, Wirkungen zu messen.

Sie sagen, Prävention rechnet sich. Es geht also um eine Kosten-Nutzen-Abwägung. Die Prävention ist für die Gesellschaft billiger, als später die Kosten der Kriminalität zu tragen. Doch wie wollen Sie Straftaten in Geld umrechnen? Beim Diebstahl ist der Schaden noch leicht zu beziffern, aber beim Mord?

Es gibt glücklicherweise viel weniger Morde, als das Fernsehen zeigt. Ich will lieber auf Gewalt eingehen. Da müssen Sie alle Kosten berechnen, auch die der psychischen Folgen. Jemand ist krank, muss ärztlich und medizinisch behandelt werden, kann nicht arbeiten, zahlt weniger Steuern, und so weiter. Hinzu kommen Polizei, Gerichte, Gefängnisse für die Täter: Das alles sind Kosten, die die Gesellschaft zahlt. Inzwischen haben wir dazu sehr differenzierte ökonomische Berechnungsmöglichkeiten.

Und in welchen Fällen lohnt sich die Vorbeugung?

Eigentlich immer. Es gibt so gut wie keine Programme, die nicht mindestens kostenneutral sind. Zu diesem Schluss kommt etwa der deutsche Präventionsforscher Andreas Beelmann in einer Metaanalyse. Auch der kanadische Kriminologe Irvin Waller hat weltweit die Ergebnisse einschlägiger Kommissionen untersucht und darüber ein Buch geschrieben. In der deutschen Übersetzung trägt es den leicht provokanten Titel: Mehr Recht und Ordnung! – oder doch lieber weniger Kriminalität? Waller schlägt vor, dass wir einen festen Prozentsatz festlegen und zum Beispiel sagen: Von dem Geld, das wir derzeit für Strafverfolgung ausgeben, berechnen wir immer fünf bis zehn Prozent und stellen das für Prävention bereit.

Wie viel wird denn derzeit in Prävention investiert und wie viel in Strafverfolgung?

Das können Sie gar nicht vergleichen. Es gibt zwar niemanden, der eine Statistik führt, aber ich garantiere Ihnen: Wenn man das in zwei Balken darstellen würde, wäre der eine nicht zu sehen. Die Investitionen in die Prävention liegen im Promille-Bereich.

Wenn Vorbeugung viel billiger ist: Sind Sie mit dem Buch von Waller schon mal zu einem Finanzminister gegangen?

Nein.

Die Finanzminister der Länder müssten doch ein Eigeninteresse daran haben, dass das Geld umgeschichtet wird.

Im Prinzip schon. Wir wollen aber nicht, dass die Finanzminister bloß Geld sparen. Stattdessen muss das gesparte Geld wieder in vorbeugende Maßnahmen investiert werden, zusätzlich zu den bisherigen Mitteln. Die Zeit ist auf jeden Fall reif, um über die Ökonomie der Prävention zu reden. Daher ist das auch das Hauptthema unseres diesjährigen Kongresses.

Wenn man Kriminalität nur ökonomisch betrachtet, würden manche Taten gar nicht mehr verfolgt oder verhindert, weil es sich wirtschaftlich nicht lohnt.

Das wäre absolut problematisch. Prävention ist nicht ausschließlich eine Frage der Ökonomie. Wir möchten aber das Wissen um Kostenersparnisse stärker in die Diskussion bringen und damit den einen oder anderen Kommunal- oder Finanzpolitiker überzeugen, mehr als bisher zu tun. Wir müssen mehr Prävention wagen.

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