Weg vom BIP-Wachstumswahn

Interview Hans Diefenbacher ist Ökonom und hat eine Alternative zum allmächtigen Bruttoinlandsprodukt entwickelt
Ausgabe 48/2015
„Das BIP verrät nix über den Zustand unserer Umwelt“, meint Hans Diefenbacher
„Das BIP verrät nix über den Zustand unserer Umwelt“, meint Hans Diefenbacher

Foto: Heinrich Völkel/Ostkreuz für der Freitag

Ein Autounfall ist gut für die Wirtschaft. Denn mit der Reparatur von Autos verdienen Werkstätten ihr Geld, im Falle eines Totalschadens freuen sich Hersteller über den Verkauf von Neuwagen. All diese Effekte fließen in das Bruttoinlandsprodukt ein, den Wert aller in einer Volkswirtschaft geschaffenen Güter und Dienstleistungen in einem bestimmten Zeitraum – in Deutschland 2014 knapp drei Billionen Euro. Wächst das BIP, dann gilt das gemeinhin als gutes Zeichen. Sinkt es, erschrecken viele wegen der angezeigten Rezession. Der Ökonom Hans Diefenbacher glaubt nicht nur wegen des Unfallbeispiels, dass das BIP allein kein guter Gradmesser für Wohlstand ist. Er hat den Nationalen Wohlfahrtsindex mitentwickelt, eine ergänzende Alternative zum BIP. Dessen Ergebnisse lassen sich online unter fest-nwi.de für Deutschland sowie Bayern, Thüringen, Sachsen, Rheinland-Pfalz, Bayern, Schleswig-Holstein und Hamburg abrufen.

der Freitag: Herr Diefenbacher, das Bruttoinlandsprodukt ist das Maß aller Dinge, wenn es um das Niveau unseres Wohlstands geht. Sie haben den Nationalen Wohlfahrtsindex mitentwickelt. Kann der die Macht des BIPs brechen?

Hans Diefenbacher: Darum geht es nicht. Der Wohlfahrtsindex soll das BIP nicht ablösen, sondern ergänzen. Beim Vergleich der beiden Werte wird eine Diskrepanz sichtbar. Das führt zur Frage, wie man diese Unterschiede erklären kann. So entsteht eine andere Sichtweise auf Wachstum und Wohlfahrt.

Welche Unterschiede sind das?

Der Nationale Wohlfahrtsindex beruht zunächst auf den Konsumausgaben, die mit der Einkommensverteilung gewichtet werden. Je ungleicher die Einkommen, desto geringer ist der Beitrag des Konsums zur gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt. Anschließend werden eine Reihe von Dingen hinzugerechnet, die wohlfahrtsstiftend, aber nicht im BIP enthalten sind, vor allem Hausarbeit und ehrenamtliche Tätigkeit. Und dann gibt es eine lange Liste an Positionen, die wir abziehen, weil sie sozial-ökologischen Kosten entsprechen, die im BIP nicht oder mit falschem Vorzeichen enthalten sind: Kosten für den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen, Luftverunreinigungen durch Schadstoffe, Unfälle und Kriminalität etwa.

Geht es uns in Deutschland also gar nicht so gut, wie es die hohen BIP-Ergebnisse nahelegen?

Na ja, es gibt auf jeden Fall etwas, das man Leerlauf-Wachstum oder illusionären Wohlstand nennt: wenn bei Wirtschaftswachstum negative Folgen auftreten, die dazu führen, dass ein Teil des Wachstums wieder aufgebraucht werden muss, um diese Effekte zu beseitigen. Man baut eine Umgehungsstraße, aber dann wird es so laut, dass ein Lärmschutzwall nötig wird. Mit dem Nationalen Wohlfahrtsindex können wir das anders darstellen als bislang üblich.

Zur Person

Hans Diefenbacher, 61, hat in Freiburg und Heidelberg Volkswirtschaftslehre studiert. Heute ist er unter anderem als Leiter des Arbeitsbereichs Frieden und Nachhaltige Entwicklung des von der evangelischen Kirche finanzierten Instituts für interdisziplinäre Forschung in Heidelberg tätig. Mit Roland Zieschank hat er das Buch Woran sich Wohlstand wirklich messen lässt (oekom Verlag) veröffentlicht, 1996 außerdem Anarchismus. Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft

Das BIP steigt fast jedes Jahr. Und der Wohlfahrtsindex?

Zwischen dem Beginn unserer Berechnungen 1991 und dem Jahr 2000 gibt es eine mehr oder minder parallele Entwicklung. Danach gehen die Werte auseinander. Das BIP steigt weiter, während der Wohlfahrtsindex zurückgeht. Das hängt zum großen Teil damit zusammen, dass damals die Einkommen immer ungleicher verteilt wurden. Später, in der Krise, gab es eine andere Situation: Das BIP ging um ungefähr fünf Prozent zurück, der Wohlfahrtsindex veränderte sich kaum. Daran kann man sehen, dass die Krise durch eine gute Arbeitsmarktpolitik bei den Menschen nicht angekommen ist. Die Konsumausgaben haben sich kaum verändert, die Einkommen wurden etwas gleicher verteilt.

Wie sehen die neuesten Entwicklungen aus?

Nach der Krise 2009 ist das BIP wieder deutlich gestiegen. Bis 2012 hat sich der Wohlfahrtsindex hingegen kaum verändert. Damit ist der Unterschied zwischen beiden Indizes wieder größer geworden.

Warum haben Sie keine Zahlen, die aktueller sind?

Einige Daten sind noch nicht verfügbar. Wir erheben keine eigenen Daten, sondern nutzen öffentliche Statistiken oder Zahlen aus anderen Quellen. Insgesamt fließen 20 Komponenten ein und die sind teilweise noch zusammengesetzt aus vielen Einzelkomponenten.

Auf internationaler Ebene gibt es den Human Development Index. Warum brauchen wir noch weitere Alternativen zum BIP?

Der Human Development Index ist ein so genannter composite indicator. Da rechnen Sie Lebenserwartung, BIP und Bildungsjahre zusammen: drei in unterschiedlichen Einheiten gemessene Größen. Am Ende müssen Sie das irgendwie normieren, das ist angreifbar. Beim Human Development Index landen hochentwickelte Länder immer im oberen Bereich, da ändert sich kaum etwas. Für Einzelentwicklungen ist der Index also wenig aussagekräftig, für ökologische Belange eigentlich gar nicht. Wir hingegen bewerten ökologische und soziale Komponenten in Geld, sodass man sie zusammenrechnen und mit dem BIP vergleichen kann.

Ist Ihr Index ein besseres BIP?

Ich würde sagen: ein anderes BIP.

Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie die Architekten des BIPs? Sie pressen eine komplexe Welt in eine einzige Zahl.

Für die Politik ist die eine Zahl eine erste Orientierung. Dann kann die Auseinandersetzung mit den 20 Komponenten folgen, aus denen der Wohlfahrtsindex zusammengesetzt ist. In jeder Publikation stellen wir diese einzeln dar und diskutieren sie. Sie haben also zum einen den Gesamtblick und zum anderen die Möglichkeit, sich differenziert mit einzelnen Punkten auseinanderzusetzen. Allerdings ist das beim BIP nicht anders.

Warum ist das BIP so beliebt?

Es ist eine einzelne Zahl und damit scheinbar leicht zu kommunizieren und zu beeinflussen. Diese Zahl wird inzwischen für alle Länder der Welt berechnet. Mit welcher Verlässlichkeit – nun, darüber kann man diskutieren. Aber das BIP ist etabliert und international standardisiert. So wird das Gefühl vermittelt, einen wichtigen Indikator zu haben.

Den Wohlfahrtsindex könnte man doch auch überall ermitteln.

Wir werden bald Vergleichsrechnungen aus anderen Ländern bekommen. In Irland gibt es eine Gruppe, die das nächstes Jahr versucht, wir beraten sie. In Belgien gibt es einen ähnlichen Ansatz.

Was sollte Ihrer Meinung nach der Nationale Wohlfahrtsindex in zehn Jahren bewirkt haben?

Ich hoffe, dass er dann Teil der amtlichen Statistik in Deutschland geworden ist und wir als Forschergruppe das nicht mehr machen müssen. Das muss nicht exakt unser Index sein, aber eben eine Alternative, die wirkungsvoll das BIP mit einer anderen Sichtweise kontrastiert. Zudem hoffe ich, dass die Politik einen stärkeren Blick auf Fragen der Einkommensverteilung und auf die ökologische Belastung der Wirtschaft bekommt.

Verstehen Sie sich als Teil der wachstumskritischen Bewegung, die in den vergangenen Jahren hierzulande entstanden ist?

Als Wissenschaftler befasse ich mich seit rund 30 Jahren mit dem Thema. Dass das nun auch in der Ökonomie verstärkt Einzug gehalten hat, das freut mich, klar. Wenn Sie die Wirtschaft zukunftsfähig machen wollen, dann werden bestimmte Sektoren schrumpfen müssen. Andere werden wachsen müssen, zum Beispiel die Wärmedämmung oder erneuerbare Energien. Was unter dem Strich der Effekt ist, ausgedrückt in Einheiten des BIPs, das ist nicht so wichtig. Deshalb würde ich versuchen, von der Fixierung auf das BIP-Wachstum wegzukommen.

Der Wohlfahrtsindex dagegen darf gern kräftig wachsen.

Ja, aber der Index ist so konstruiert, dass er vermutlich nicht sehr schnell und nicht über alle Grenzen hinweg steigen kann. Er kann nur dann weiter steigen, wenn Sie negative Effekte stark mindern. Dazu müssen Sie die Wirtschaft komplett ökologisch umbauen, und dann wissen wir nicht, wie die Effekte insgesamt sein werden.

Aber im Prinzip gibt es keine Obergrenze für den Wohlfahrtsindex.

Theoretisch stimmt das. Wenn es Ihnen gelingen würde, die Wachstumsprozesse beispielsweise vom Ressourcenverbrauch komplett zu entkoppeln, dann haben Sie keine Obergrenze. Aber wenn Sie das tatsächlich machen, dann werden Sie sehen, dass Sie Wachstumsziffern in der beim BIP angestrebten Art nicht erzielen können. Weil die Entkopplung nicht so schnell geht. Am Anfang werden Sie immer noch einen sehr hohen Ressourcenverbrauch haben, der das Wachstum des Wohlfahrtsindexes bremst.

Im aktuellen Wirtschaftssystem wollen Unternehmen ständig wachsen. Kann man den Wachstumszwang beenden, ohne den Kapitalismus abzuschaffen?

Moment! Wir haben eine Reihe von Unternehmen, die wollen gar nicht über alle Grenzen wachsen, sondern so bleiben, wie sie sind.

Ist am Ende nicht jede Firma dazu gezwungen, auf Wachstum zu setzen? Ansonsten läuft sie doch Gefahr, von wachstumsfixierten Konkurrenten völlig vom Markt verdrängt zu werden.

Nicht notwendigerweise. Wenn Sie in einer Ökonomie leben, in der den Kunden auch wichtig ist, zu wissen, dass die Produkte in der Region hergestellt werden, dann sind Wachstumsprozesse über alle Grenzen überhaupt nicht erforderlich. Insbesondere dann nicht, wenn Sie mit Eigenkapital arbeiten.

Konkurrenz gibt es trotzdem. Man kann zwar darauf hoffen, dass die Kunden sagen: Ich bleibe bei meinem Bäcker, den ich schon seit Jahren kenne, der nicht wachsen will ...

Wenn Sie davon ausgehen, dass der Konkurrent bessere Brötchen macht, dann wird’s in der Tat schwierig. Aber wenn das nicht der Fall ist, dann gibt es kein Problem.

Wenn der Konkurrent wächst und immer mehr Profit macht, dann kann der auch immer mehr Geld investieren, um den kleinen Bäcker kaputtzumachen.

Damit haben Sie aber implizit die Annahme getroffen, dass die Brötchen des Großen billiger und besser wären. Das muss nicht unbedingt sein. Manchmal ist klein auch besser.

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