Das Chlorhühnchen fehlt, bemängelt der ältere Herr im weißen Mantel. „Der Bundesadler soll ja durch das Chlorhühnchen ersetzt werden.“ Das Chlorhühnchen ist zum Symbol geworden für den Protest gegen das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen TTIP und der ältere Herr Teil einer satirischen Pro-TTIP-Demo. Wird hierzulande bald alles zugelassen, was in den USA erlaubt ist, nur weil das sonst ein Handelshemmnis wäre? Bekommen wir Europäer bald Chlorhühnchen auf den Teller? Die Angst ist groß, am vergangenen Wochenende gingen Tausende gegen das Freihandelsabkommen auf die Straße.
Attac und andere Organisationen hatten mehr als 150 Demos und Aktionen in Deutschland auf die Beine gestellt, auch in anderen EU-Ländern wurde protestiert. In Berlin wurden vor dem Brandenburger Tor symbolisch die Vertragstexte geschreddert, eine bunte Demo zog durch Kreuzberg, und im Stadtteil Prenzlauer Berg trafen sich ein paar Dutzend satirefreudige Demonstranten zur „ersten Pro-Freihandelsdemonstration in Berlin, vielleicht sogar in Deutschland“. Aufgerufen hatte die „Tea-TIP-Party“.
Monsantooooo!
Der Gründungsvorsitzende Otto Graf Zaster, 63 Jahre alt, steht vor einer Menschentraube am Mikrofon. Er trägt einen grauen Anzug, schwarze Lackschuhe, blaue Krawatte und Brille. In höchsten Tönen preist er die Vorzüge des Freihandels und verspricht: „Binnen kürzester Zeit wird die Diskriminierung der Gentechnik in der Landwirtschaft fallen. Monsanto steht dafür schon in den Startlöchern.“ Die Zuhörer, überwiegend männlich und ebenso schick gekleidet wie ihr Parteichef, jubeln ihm zu und rufen: „Monsantooooo!“ Auf einem Plakat ist zu lesen: „Genfood tut dem Körper gut!“ Ein anderes fordert „Sonderrechte für Konzerne“.
Otto Graf Zaster heißt in Wirklichkeit Günter Sölken und engagiert sich ehrenamtlich in der No-TTIP-AG von Attac Berlin. „Wir wollten weg von der Latschdemo“, erklärt er. Und so kam die Idee von der Demo als Theaterstück. Es gibt sogar ein richtiges Drehbuch, ausgedruckt auf DIN-A4-Zetteln. Trotzdem ist vieles improvisiert. Die Sprechchöre etwa oder auch die kritischen Zwischenrufe der Gegendemonstranten, wenn Otto Graf Zaster zu viel Unsinn erzählt. Einige Attac-Aktivisten tragen dann nämlich doch „Stop TTIP“-Plakate um den Hals und verteilen Flugblätter.
Diese sind beidseitig bedruckt, von Attac und der Tea-TIP-Party. Besonders kritisiert – oder gelobt – wird die Schaffung neuer privater Schiedsgerichte, vor denen Konzerne einen Staat verklagen können, wenn durch Gesetze oder andere Vorschriften ihre Gewinne geschmälert werden. Im Moment klagt etwa der schwedische Vattenfall-Konzern gegen den deutschen Atomausstieg. Von der Tea-TIP-Party werden die Schiedsgerichte bejubelt: „Das heißt, alles irgendwo Verbotene, das woanders nicht verboten ist, ist jetzt auch dort nicht mehr verboten, wo es eigentlich verboten ist. Also verboten ist es noch, aber es kann dagegen geklagt werden, dass es verboten ist, wenn es in dem Staat, in dem der klagende Konzern seine Niederlassung hat, nicht verboten ist; und dann gibt’s entweder ziemlich hohe Entschädigungszahlungen vom Staat oder eine Ausnahmeregelung oder eben kein Verbot mehr. Also eine Win-Win-Win-Situation für die Konzerne.“
Und da ist noch CETA
Chlorhühnchen und private Schiedsgerichte – das sind derzeit die Hauptangriffspunkte im Kampf gegen TTIP. Doch das könnte den Kritikern auf die Füße fallen. Die Chlorhühnchen werden wohl nicht kommen, weil die europäischen Verbraucherschutzstandards kaum nachträglich abgesenkt werden. Die Gefahr besteht eher darin, dass künftig eine stärkere Regulierung ausbleibt, weil US-Behörden und Konzerne schon sehr früh im Gesetzgebungsverfahren angehört werden müssen.
Und die privaten Schiedsgerichte könnten noch aus dem Vertragstext fliegen, nachdem sich Deutschland und andere EU-Staaten dagegen ausgesprochen haben. Allerdings sind sie im schon fertig ausgehandelten Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) enthalten, das als Vorlage für TTIP gilt. EU-Parlament und Mitgliedsstaaten können jetzt bloß Ja oder Nein sagen.
Der Aktionstag richtete sich daher nicht nur gegen TTIP, sondern auch gegen CETA und ebenso gegen das geplante multinationale Dienstleistungsabkommen TiSA. Kann das alles noch gestoppt werden? Ganz abwegig ist das nicht. Das Anti-Piraterie-Abkommen ACTA wurde nach heftigen Protesten vom Europaparlament abgelehnt. Damit war es tot.
Den Todesstoß für TTIP und CETA könnte nun eine Unterschriftensammlung bringen. Mehr als 250 Gruppen aus ganz Europa haben sich zusammengeschlossen und in der vergangenen Woche eine „selbstorganisierte Europäische Bürgerinitiative“ gestartet. Eine offizielle Bürgerinitiative war von der EU-Kommission mit fadenscheiniger rechtlicher Begründung abgelehnt worden. Dagegen klagen die TTIP-Gegner, parallel sammeln sie aber schon Unterschriften. Allein in den ersten 24 Stunden kamen mehr als 150.000 zusammen, inzwischen sind es schon mehr als 500.000. Zum Vergleich: Eine echte europäische Bürgerinitiative benötigt eine Million Stimmen, und selbst dann ist sie nicht verbindlich. Es kommt vielmehr auf den politischen Druck an.
In Deutschland ist der besonders stark, es gibt mehr Proteste als in anderen EU-Ländern. Das dürfte zum einen daran liegen, dass der Verbraucherschutz den deutschen Bürgern ziemlich wichtig ist. Zum anderen aber auch daran, dass die Protestbewegungen in südlichen Krisenländern derzeit andere Themen haben.
Otto Graf Zaster aber geht es blendend. Seine Rede endet mit den Worten: „Es lebe der Freihandel, es lebe das Wachstum, es lebe der Neoliberalismus, der Kapitalismus und die Freundschaft unserer Konzerne diesseits und jenseits des Atlantiks.“ Die Menge applaudiert. Nur das Chlorhühnchen fehlt.
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