Für die Amerikaner mag diese Abstimmung am 15. Dezember ein legimatorischer Akt sein, auch wenn sich die Frage nach der Legitimation des unter ihrem Patronat geschaffenen politischen Systems gar nicht mehr stellt. Kein ernst zu nehmender irakischer Politiker betrachtet die Schritte, die seit 2003 - vorzugsweise mit dem Verfassungsprozess - gegangen wurden, noch als irregulär. Nicht weil die Besatzung vom UN-Sicherheitsrat durch mehrere Resolutionen sanktioniert wurde, sondern weil es keine Alternative gibt. Für die Arabische Liga jedenfalls schien das Grund genug, um das Zweistromland im Oktober wieder als legitimen Partner anzuerkennen, sofern es der Regierung in Bagdad gelingt, alle Iraker an den Verhandlungstisch zu bringen - auch den "legitimen Widerstand". Lediglich die al-Qaida-Gruppe des Jordaniers Abu al-Masab al-Zarqawi soll davon ausgeschlossen bleiben. Al-Zarqawi, der seinen Heiligen Krieg regionalisieren will, denkt ohnehin nicht daran, mit "Ungläubigen", "Abtrünnigen" und ihren amerikanischen Paten zu verhandeln.
Die Iraker erhofften sich von diesen Wahlen vor allem mehr Sicherheit. Diese Sehnsucht hat nichts mit dem Wunsch nach Restauration des Status quo ante und einer Rückkehr zur Diktatur der Baath-Partei zu tun, auch wenn die neue Nationalarmee wie die Besatzungsmacht außer Stande sind, die Anschläge der Jihadisten merklich zu reduzieren und die al-Qaida-Gruppen auszuschalten. Die Jihadisten dringen zwischenzeitlich bis in die Grüne Zone von Bagdad vor, in der das US-Oberkommando wie auch die Regierung Talabani stationiert sind. Darüber werde in den USA wie seinerzeit über die Strategie des Vietcong in Südvietnam debattiert, bemerkt dazu Newsweek in seiner jüngsten Ausgabe. Es gelte das Motto: bloß keine Panik.
Der Beobachter fragte sich bei all dem besonders, inwieweit werden die Sunniten zur Wahl gehen? Schwören sie der politischen Isolation ab, in die sie mit dem mehrheitlichen Boykott des Urnengangs vom 30. Januar 2005 wie auch des Verfassungsreferendums im Oktober geraten sind? Wird eine relevante Wahlbeteiligung der Sunniten einer unversöhnlichen Radikalität Sympathien und Beistand entziehen? Es ist kein Geheimnis, dass sich der schiitische Widerstand um den Geistlichen Muqtada al-Sadr auf andere Motive beruft als der sunnitische. Letzteren treibt die Angst vor der Marginalisierung in einem künftigen irakischen Staat. Mit einem Bevölkerungsanteil von etwa 20 Prozent können die Sunniten kaum Positionen beanspruchen, wie sie bis zum 9. April 2003 - dem Tag, da Bagdad fiel - als garantiert galten. Für Muqtada al-Sadr hingegen, der sich mittlerweile moderater gibt, geht es um einen Platz in der schiitischen Hierarchie.
Der Beobachter fragte sich auch, ob der politische Konfessionalismus trotz des Gewichts der konfessionalistischen Partein und trotz der geltenden Proporzregeln bei der Ämtervergabe noch zukunftsfähig ist. Dieses System erscheint schon deshalb fragwürdig, weil es die Islamisierung des Landes ungerührt vorantreibt. In schiitischen Hochburgen wie Basra hat die Übermacht der beiden großen schiitischen Parteien - der al-Dawa und des Oberstes Rates der Islamischen Revolution (SCIRI) - zu einer Autokratie geführt, die alles abstößt, was nicht "islamisch" - sprich: fundamentalistisch - ist. Universitäten und Ämter werden zu Domänen der frommen Männer beiden Formationen. Armee und Polizei leiden darunter, das in ihren Reihen konfessionelle Konflikte ausgetragen wurden. Andere Volksgruppen fühlen sich angeregt, statt der konfessionellen die ethnische Intoleranz zu pflegen. Als es der Verteidigungsminister in Bagdad vor Tagen wagte, kurdische Offiziere verlegen zu wollen, sprachen kurdische Politiker von einem Putsch - der Minister revidierte daraufhin seinen Entschluss. Dass nichtkonfessionelle Parteien wie die Irakische Nationale Liste des früheren Premiers Iyad al-Alawi oder die Kommunisten (einst eine der stärksten Gruppierungen des Landes) unter diesen Umständen eine inkriminierte Opposition bleiben, kann nicht erstaunen.
Die großen Blöcke wie die Kurdische Allianz und die Vereinigte Koalition der irakischen Schiiten werden vermutlich auch künftig unter Beteiligung der gemäßigt sunnitischen Irakischen Islamischen Partei die Regierung bilden, aber erst nach zähen Verhandlungen. Die Kooperation zwischen Schiiten und Kurden schien zuletzt höchst fragil. Präsident Jalal Talabani, Führer der Patriotischen Union Kurdistans (PKK) und ein Trapezkünstler der Allianzen, vertrat völlig andere Positionen als der schiitische Premier al-Jaafari.
Drei Fragen werden es sein, die potenzielle Koalitionäre herausfordern: Was geschieht mir den fremden Truppen? Wie kann es mehr Sicherheit geben? Welches sind die nächsten Schritte hin zu einem föderalistischen Staat. Die erste und die zweite Frage hängen entscheidend von einer vorzugsweise "politischen" Integration der Sunniten ab. Sollte dies möglich sein, wird es gelingen, den Einfluss der Nachbarn (vor allem des Iran) und den Spielraum der extremen Islamisten merklich einzudämmen. Der Föderalismus hingegen wird umstritten bleiben. Die Sunniten haben zwar keine Vorbehalte, die kurdische Autonomie anzuerkennen, wie sie seit 1991 existiert, aber sie verweigern einer Föderalisierung der schiitischen Regionen ihr Plazet. Eine föderale Ordnung, wie sie die neue Verfassung quasi dekretiert, ermöglicht eine größere Teilhabe der Regionen an den Gewinnen, die aus der Ausbeutung natürlicher Ressourcen entstehen. Nur wurde in den sunnitischen Gebieten bislang kein Erdöl entdeckt, während in den schiitischen Provinzen die größten Vorkommen des Irak zu finden sind. Insofern könnten die Wahlen der Auftakt zu neuen Verteilungskämpfen gewesen sein, so dass die nationalen Versöhnungsverhandlungen, die im November in Kairo begannen, noch stärker auf die Schicksalsfrage nach der Integrität des Landes fixiert sein werden.
Professor Ferhad Ibrahim lehrt zur Zeit als Gast an der University of Jordan in Amman.
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