Der Weg aus der Finsternis

Osama bin Laden und der radikale Bruch mit der Geschichte des Islam Nur die 23 Jahre von der Stiftung der Religion bis zum Tode des Propheten werden anerkannt

Was wollen die Attentäter von New York und Washington? Wie lautet ihre Botschaft, welches sind ihre Ziele? Niemand hat sich ausdrücklich bekannt, es gibt keine Forderungen. Manche unterstellen diesem Terror daher nihilistische Motive. Terror als "Wille zum Nichts", als Wille zur völligen Vernichtung des anderen wie sich selbst. Dagegen steht die These von islamistischen Tätern, die sehr konkrete Vorstellungen von einem "göttlichen Zeitalter" haben.

Die al-Qaida-Gruppe und Organisationen wie die ägyptische al Jama´a al-Islamiya, der Groupe Islamique Armé (GIA) in Algerien, al-Ansar im Libanon oder - teilweise - al-jihad al-islami und Hamas in Palästina sind religiös gefärbte Strukturen neueren Typs. Im Gegensatz zur Guerillabewegung der siebziger Jahre streben sie nicht danach, sich durch egalitäre politische und soziale Visionen zu legitimieren. Diese Spielart des radikalen Islam will stattdessen zu einem vorgestellten göttlichen Zeitalter zurückkehren. Eine durch und durch chiliastische Bewegung(*), die auf eine - wie sie es sieht - umfassende soziale und politische Krisis reagiert.

Eine Einordnung als nihilistische Strömung, wie sie unlängst Michael Ignatieff, der "Harvard-Professor für Menschenrechte", verkündete, wäre indes falsch. Das Ziel von al-Qaida besteht in der Rückkehr zu einer Ordnung, wie sie zu Lebzeiten des Propheten existiert haben soll. Dabei ist das Apokalyptische als Mittel und nicht als Ziel zu betrachten. Hier liegt der entscheidende Dissens zu den beiden großen Denkern des Reform-Islam, Jamal al-Din al-Afgani und Muhammad Abdu, die Ende des 19. Jahrhunderts eine lange Periode des Niedergangs der islamischen Zivilisation beenden wollten und einen neuen Islam vertraten, der mit verknöcherten Strukturen zu brechen vermochte.

Dem radikalen Islam hingegen geht es nicht um Reform des Islam, sondern um Destruktion, indem die göttliche Ordnung durch Zerstörung der existenten Weltordnung wiederhergestellt wird. Ein "Islamismus neueren Typs" also, der seine Quellen in den Auffassungen des Pakistaners Abu A´la Al-Maududi wie auch des 1966 unter dem Nasser-Regime hingerichteten Ägypters Sayyid Qutb findet.

Beide Theoretiker des politischen Islam gehen vor allem von zwei Axiomen aus - der Illegitimität der real-weltlichen politischen Herrschaft, die nicht auf Hakimiyat Allah (der Herrschaft Gottes) beruht, und einer fundamentalen Ablehnung der westlichen Zivilisation. Sayyid Qutb bewertet in den letzten Schriften - sie entstehen kurz vor seinem Tod - die gesamte islamische Geschichte, mit Ausnahme der 23 Jahre zwischen der Stiftung der Religion und dem Tode des Propheten, als die lange Zeit der Finsternis. Die Muslime hätten die Lehre des Propheten in der Regel kaum befolgt, doch sei die Ignoranz ein universales Phänomen und ein globales, das die vorherrschende westliche Zivilisation präge. Die Ignoranz des 20.Jahrhunderts, so der Titel von Qutbs letztem Pamphlet, stehe im Widerspruch zum göttlichen Willen und zu göttlicher Bestimmung.

Die Konsequenz dieser Lehre besteht darin, dass jede politischen Ordnung, welche die Herrschaft Gottes nicht anerkennt, als illegitim gilt. Zugleich wird die gesamte islamische Geschichte - einschließlich der Herrschaft der vier, im sunnitischen Islam als rechtgeleitet bezeichneten Kalifen (al-Khulafa´ al-Raschidun) - als Zeit der Dunkelheit gedeutet.

In seiner negativen Bewertung der Meta-Erzählungen der islamischen Zivilisation steht Qutb im Widerspruch zu den Prinzipien der immer noch größten islamistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts, nämlich der Gesellschaft der Muslimbrüder (jama`at al-Ikhwan al-Muslimun), deren Ideologe er in den fünfziger Jahren war. Diese Bruderschaft strebte ebenfalls die Errichtung einer islamischen Ordnung (al-nizam al-islami) an, wahrte aber stets eine positive Haltung zur islamischen Geschichte.

Hasan al-Banna, der historische Führer der Muslimbruderschaft, glaubte, das Festhalten der Muslime an den Prinzipien und Werten des Islam garantiere den Muslimen die Wiederherstellung der glorreichen Vergangenheit. Diese Orientierung war stets die Antwort auf die Frage: Warum sind wir zurückgeblieben?

Um auf die Lehre von Qutb zurückzukommen: Der Begriff Jihad - 38mal im Koran in Verbindung mit der Pflicht zur Verteidigung des Islam erwähnt - wird von ihm als "Pflicht eines jeden Muslims" postuliert. Seine Deutung des Jihad-Begriffs stimmt tatsächlich mit dem koranischen Text und der Praxis des Propheten überein und mündet in die Formel: die illegitime Herrschaft, die Ignoranz müssen bekämpft werden.

Die ägyptische Gruppe al-Takfir wa al-Hijra, die 1981 das tödliche Attentat auf Präsident Sadat in Kairo verübte, verkörperte diese ideologischen Maxime, indem sie erklärte: die Gesellschaft sei en bloc als ungläubig zu erklären, die Gläubigen sollten sich symbolisch oder tatsächlich aus ihr entfernen. Schließlich verließ der Prophet selbst Mekka, als seine Bemühungen, die Ungläubigen zu bekehren, scheiterten.

Sayyid Qutb und seine Schüler in der gesamten islamischen Welt schufen damit ein Konstrukt, bei dem nur die erwähnten 23 Jahre nach der Stiftung der Religion als gültiges Vorbild dienen, weil sie für die ursprüngliche Lehre des Islam grundlegend waren. Mit anderen Worten, die "islamische Ordnung" wird nur bedingt als historisch betrachtet, weil die Muslime im Verlauf ihrer Geschichte die griechische Philosophie, die iranisch-sassanidische und die byzantinische Staatsorganisation adaptierten und integrierten, und die Osmanen später mit Zustimmung der islamischen Gelehrten einige Rechtsnormen der westlichen Welt übernahmen.

Militanz und Brutalität der radikalen Islamisten dienen also dazu, wieder eine "göttliche Ordnung" zu erlangen. Nihilistisch sei in der Wirklichkeit die Ignoranz der islamischen Meta-Erzählungen. Während Sayyid Qutb die islamische Geschichte aus ideologischen Gründen als Zeit der Finsternis deklariert und die westliche Kultur wegen ihrer materialistischen Ausrichtung ablehnt, versuchen seine späteren Schüler die Meta-Erzählungen der Moderne abzulehnen und das Recht auf ihre eigenen Erzählungen zu begründen.

Es ist daher nur logisch, wenn eine radikal-islamistische intellektuelle Elite seit den achtziger Jahren - unter anderem als Kritik an der westlichen Moderne - mit Begriffen wie "Authentizität" oder "Identität" operiert. Die Legitimation der eigenen Narrative, die bei diesen Radikalen auf einem ahistorischen Konstrukt basiert, stellt den Versuch dar, die reale Erzählung des Islam theoretisch zu überwinden.

Ob "Aktionisten" wie bin Laden diese Entwicklung des islamistischen Diskurs bewusst ist, bleibt unklar. Es scheint aber, dass sich Gruppen wie al-Qaida oder der GIA in einem wesentlichen Punkt auf Qutb berufen - in der Definition der Zivilisation als Ignoranz und in der Pflicht, die göttliche Ordnung wiederherzustellen. Die Gewalt hat hier eine wichtige Funktion. Das ideologische Bekenntnis zum Jihad führt zum extensiven Gebrauch von Gewalt gegen die Bewohner der algerischen Dörfer ebenso wie gegen ausländische Touristen in Ägypten. Diese Radikalität will nicht nur die nationalistischen Staatsmodelle des Vorderen Orients ablösen, sie betrachtet auch die moderate Meta-Erzählung, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Muslimbruderschaft repräsentiert wurde, als gescheitert. Sie sagt: Nur der radikale Bruch mit der bisherigen Geschichte verleiht dem Islam wieder seinen ursprünglich kämpferischen Charakter.

(*) Chiliasmus ist die Lehre von der Erwartung des Tausendjährgen Reiches Christi.

Der Autor ist Islamwissenschaftler, seine Überlegungen werden in der nächsten Ausgabe mit einem Text über Ägypten als Geburtsland des islamistischen Terrors fortgesetzt.

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