Wenige Monate, bevor Colin Powell im Dezember 2002 seine Ansichten über regionale Demokratisierung im Mittleren Osten verkündete, veröffentlichte die UNO den Arab Human Development-Report (s. Freitag, 1/2/2003) der den katastrophalen Zustand der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der arabischen Welt offenbarte: Der Bericht machte auf die stagnierende Wirtschaftsentwicklung, ein alarmierendes Bevölkerungswachstum und die hohe Analphabetenrate aufmerksam. Für die Lage der Frauen habe es in den vergangenen zwei Dekaden kaum Fortschritte gegeben. Der Report schlug mehr Emanzipation im politischen und sozialen Leben vor - eine Demokratisierung der Region ist insofern keine Erfindung der amerikanischen Neo-Konservativen.
Der Umstand, dass in allen 22 arabischen Ländern autoritäre Herrschaftssysteme die politische Macht inne haben, lässt immer wieder fragen, ob die arabische und islamische Welt demokratieresistent sei. Selbst Staaten wie die Türkei, Kuwait und Libanon, die aufgrund externen Drucks freie Wahlen zugestehen, erscheinen bestenfalls als defizitäre Demokratien. Beobachter stellen resigniert fest, dass die dritte Demokratisierungswelle, die ein Jahrzehnt vor dem Ende des Kalten Krieges in Lateinamerika und Afrika so virulent war, die arabisch-islamische Welt nicht erreichte. Erfasst wurden davon seinerzeit höchstens einige Intellektuelle, die - wenn sie Glück hatten - ins Exil fliehen konnten. Die arabischen Systeme, die vom Schicksal der sozialistischen Diktaturen Osteuropas vieles gelernt haben, dulden bis heute kein Dissidententum. Gewappnet mit dem Ausnahmerecht und einem Arsenal von Sondergesetzen wird jede abweichende Meinung im Keim erstickt. Auch die Zeiten, als rebellierende Offiziere mit Panzern zum Präsidentenpalast und Funkhaus marschierten, um mit dem ersten Kommuniqué das unbeteiligte Volk über eine Revolution ins Bild zu setzen, sind - wie Saddam Hussein es vor einiger Zeit sarkastisch verkündete - vorbei. Ihre Repressionsapparate haben die autoritären Regimes perfektioniert, indem sie Moderne und Tradition gleichermaßen als Stabilitätsanker zu werfen verstanden. Stammesbindungen, regionale und konfessionelle Solidaritäten ergänzen omnipräsente Kontrollapparate.
Dennoch reichen diese Phänomene nicht aus, die Demokratieresistenz der arabischen und islamischen Welt zu deuten. Es werden daher gern die islamische Überlieferung und der Islamismus überhaupt zu Rate gezogen, um die innere Konsistenz der Systeme zu begründen. Dies ist nicht unproblematisch, denn Religion und Tradition können auch im Islam sowohl despotische als auch moderne demokratische Systeme legitimieren. Die Islamisten stellen erklärtermaßen die westliche Demokratie in Frage und schlagen bestenfalls nach der Parole "Der-Islam-ist-die-Lösung" ihre eigene authentische politische Ordnung vor. Allerdings entpuppt sich die islamische Ordnung dort, wo sie Gestalt annimmt - etwa im Iran und Sudan - als resolut autokratische Herrschaft, die sich kaum von anderen despotischen Ordnungen Arabiens unterscheidet. Ganz im Gegenteil: die private Sphäre wird in den islamistisch legitimierten Systemen weiter eingeschränkt, die Frau unterliegt systematischer Diskriminierung.
Es bleibt daher fraglich, ob die sogenannte "islamistische Alternative" wirklich als der Grund für die blockierte demokratische Transition zu betrachten ist. In der arabischen Welt kann sich bis heute kein System als "islamisch" definieren, wir haben es vielmehr mit Militärdiktaturen oder tradierten Ordnungen zu tun, die sich zur Legitimation eines islamischen Anstrichs versichern. Selbst im Sudan entmachtete General Bashir die Islamisten um Hasan al-Turabi. Dieser Staat präsentiert sich inzwischen als eine der üblichen arabischen Despotien. Tatsächlich benutzen aber derartige Regimes den islamistische Diskurs als Vehikel für mehr Stabilität. Ein kontrollierbarer Islamismus eignet sich nicht zuletzt, um politische und wirtschaftliche Unterstützung aus dem Ausland zu erhalten. Staaten wie Ägypten, Algerien und Jordanien, aber auch der Jemen, beschwören gern die Gefahr des Islamismus im Rahmen ihrer Überlebensstrategie. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass der extreme Islamismus von al Qaida, der algerischen Groupe Islamique Armé (GIA) oder der ägyptischen Gamaat Islamiya etwa keine Gefahr für die Gesellschaften des Vorderen Orients darstellen würde. Es geht ja gerade darum, dass die autoritären Systeme die Gemäßigten in den Reihen der Islamisten durch gezielte Behinderung ihrer politischen Partizipation schwächen, um den Extremisten die Führungsübernahme zu ermöglichen. Daraus resultierende bürgerkriegsnahe Verhältnisse sind zwar für die autoritären Systeme stets ein Risiko, doch ebenso ein Stabilisierungsfaktor. Nach diesem Muster geht man in Algerien, Ägypten und Syrien mit den Islamisten um.
Die blockierte Demokratie ist außerdem oft die politische Konsequenz einer "Rentenwirtschaft", da die meisten Nationalökonomien des Vorderen Orients von den Renteneinkommen einer Ressource (zumeist Erdöl) abhängig sind. Dadurch verzichtet der Staat weitgehend auf Steuererhebungen und kann in Gestalt der Staatsklasse begünstigen und vernachlässigen. Die liberale Maxime No taxation without representation verliert in einem Rentierstaat ihren Sinn. Das Rentenmodell ist im Vorderen Orient weit verbreitet, weil es nicht nur die Ölexporteure sind, die sich auf Rentenquellen verlassen, sondern auch ärmere Staaten wie Ägypten und Jordanien. Deren Machteliten sind unentwegt auf der Suche nach neuen Rentenarten (politische Renten, Friedensdividenden, Entwicklungsrenten). Die autoritäre Struktur ist insofern - trotz der graduellen historischen, kulturellen und sozial bedingten Unterschiede - einem Rentierstaat systemimmanent. Dabei scheint Gewalt in den traditionalistischen Gesellschaften der Golfregion weniger erforderlich zu sein, als das in den sozial differenzierteren Gesellschaften Algeriens und des Irak der Fall ist.
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