Herr Marciacq, wie schätzen Sie die Lage in Belarus ein?
Florent Marciacq: So große Demonstrationen gab es nie zuvor. In den vergangenen Jahren ist die wirtschaftliche Lage immer prekärer geworden. Soziale Hilfen wurden gekürzt, das Pensionsalter erhöht. Die Corona-Pandemie, über die sich Alexander Lukaschenko lustig gemacht hat, war ein mächtiger Katalysator. Die Bevölkerung hat verstanden, dass sie der Administration nicht mehr vertrauen kann. Sie hat den sozialen Vertrag mit Lukaschenko aufgekündigt, der ihr bis heute einen gewissen Wohlstand und Stabilität auf Kosten der Demokratie anbot. Es wird eine riesige Herausforderung, was danach kommt. Wir wussten, es ist kein demokratisches Land ist, aber im Vergleich zu anderen Ländern in
ist kein demokratisches Land ist, aber im Vergleich zu anderen Ländern in der Region war Belarus geopolitisch immerhin stabil. Da kann sich viel ändern.Placeholder infobox-1Wie könnte es weitergehen?Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lukaschenko all das wieder unter den Teppich kehren und alleiniger Machthaber bleiben kann. Er hat seine wichtigsten Unterstützer, die Fabrikabreiter, verloren. Auch Hochbeamte fangen an, das sinkende Schiff zu verlassen. Es wird Änderungen geben müssen, doch noch ist unklar, in welche Richtung.Wie realistisch ist eine Intervention Russlands?Putin könnte zwar Sicherheitspersonal ins Land schicken, aber das wäre unpopulär und wenig zielführend, weil er als Angreifer, nicht als Retter wahrgenommen würde. Es kann eher sein, dass sich Putin bewusst Zeit lässt, um seine Optionen einzuschätzen. Es ist nicht sicher, ob er Lukaschenko überhaupt retten möchte, denn das Verhältnis war in den letzten Jahren ambivalent. Eine zu direkte Unterstützung des Regimes wäre riskant und würde den Demonstranten ein neues Feindbild anbieten. Sollte es keinen russlandfreundlichen Ersatz für Lukaschenko geben, dann wäre das Fördern von Unruhen eine realistische Option für Moskau. Generell ist es für Putin keine gute Zeit, denn auch gegen ihn wird seit Wochen im fernen Osten Russlands demonstriert. Irgendetwas muss er aber tun, denn Belarus ist Teil der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (engl. CSTO), einem miltärischen Bündnis.Welche wirtschaftliche Rolle spielt Russland?Die Abhängigkeit von Russland ist enorm: 45 Prozent des belarussischen Handels wird mit Russland gemacht, hingegen nur 18 Prozent mit der EU. Besonders abhängig ist Belarus vom Energiebereich, der den riesigen öffentlichen Sektor zu einem großen Teil finanziert. In der Vergangenheit hat Lukaschenko sehr geschickt zwischen Russland und EU balanciert. Auch mit einer neuen Regierung wäre das Verhältnis zu Russland eine enorme Herausforderung. Die Wirtschaft in Belarus ist vulnerabel. 60 bis 80 Prozent aller Menschen arbeiten für den Staat. Der Wechsel zur Marktwirtschaft kann ohnehin sehr schmerzhaft sein. Hoffentlich kommt keine geopolitische Rivalität dazu.Was kann die EU tun? In Kürze soll es ja Sanktionen geben.Die EU hat nur wenig Hebel und wird wohl Sanktionen gegen einzelne Personen verhängen, schließlich soll nicht die Allgemeinheit getroffen werden. Lukaschenkos Entscheidungen werden sie aber nicht beeinflussen. Es ist dennoch gut, dass Sanktionen angekündigt wurden, denn staatliche Gewalt ist inakzeptabel. Was die EU aber machen kann, ist, die Souveränität des weißrussischen Volks zu respektieren und zu fördern. Belarus darf nicht Teil eines geopolitischen Spiels werden. Anstatt alleine zu handeln, könnte die EU andere Rahmen nutzen, die dieses Risiko verringern – etwa durch eine enge Zusammenarbeit mit der OSZE.Wie proeuropäisch ist denn die Bevölkerung eingestellt?Sie teilt einen gewissen Teil unserer Werte, aber nicht die Logik der politischen Integration der EU. Anders als beim Euromaidan in der Ukraine sieht man bei den jetzigen Protesten keine EU-Fahnen. Sie wollen Neuwahlen und Selbstbestimmung, die EU spielt dabei keine Rolle.Die Veränderung muss also von innen kommen?Absolut. Sie möchten ihre Autonomie behalten, aber in einem transparenten und demokratischen Staat mit freien Wahlen. Natürlich können wir sagen, das sind die Werte, die auch wir als EU vertreten. Aber wir haben kein Monopol auf diese Werte und müssen aufpassen, nicht in neokolonialistisches Denken zu verfallen.Für die EU ist es allemal eine unbequeme Position, zumal die vielfachen Menschenrechtsverletzungen durch das Regime direkt vor unserer Haustüre passieren. Ab wann muss Europa handeln?Es ist ein schmaler Grat. Sollte Putin tatsächlich intervenieren, könnte sich die Bevölkerung eine Einmischung Europas wünschen. Es gibt aber drei Probleme: Wir wollen keinen direkten Konflikt mit Russland. Wir können keine Perspektive anbieten, denn die EU tut sich bereits schwer, ihre Erweiterungspolitik am Leben zu erhalten. Und: Wir wollen auf keinen Fall die Bevölkerung spalten. Das würde das Land ins Chaos stürzen.