Bergkarabach von der Welt abgeschnitten: Zur falschen Zeit am falschen Ort
Erneute Kriegsgefahr Wegen Aserbaidschans Aggressionen sind die 100.000 Bewohner der armenischen Enklave Bergkarabach zu einem Dasein wie im Käfig verurteilt und Familien seit Monaten getrennt. Ein Treffen mit drei betroffenen Frauen in Jerewan
Sofi Abrahamian will in Jerewan weiterstudieren, muss zuvor aber ihre Diplomarbeit an der Hochschule in Bergkarabach verteidigen – per Videotelefonie.
Foto: Florian Bayer
Eigentlich sollte es die schönste Zeit des Lebens sein: Studienbeginn, Neuanfang in der großen Stadt – der Sommer in den quirligen Straßen von Jerewan. Doch Meri Hovhannisjan, 18 Jahre alt, ist nicht zum Feiern zumute. Sie kommt aus Bergkarabach, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber fast ausschließlich von ethnischen Armeniern bewohnt wird.
Seit einem halben Jahr ist ihre Heimat von der Außenwelt abgeschnitten, zuletzt gab es immer wieder Schusswechsel an der Grenze. Nun muss die Studentin zum ersten Mal überhaupt Monate ohne ihre Eltern und Brüder verbringen. Schon zu Weihnachten und Neujahr war das so, und nichts deutet darauf hin, dass sich die Situation ändert. „An wichtigen Feiertagen nicht zu Hause sein zu k
in zu können, ist das schlimmste Gefühl, das ich je hatte.“Stromausfälle und MedikamentenmangelAm 12. Dezember 2022 begann die Blockade durch vermeintliche aserbaidschanische Umweltaktivisten. Spätestens jedoch, als aserbaidschanisches Militär an der Grenze auftauchte und einen Checkpoint installierte, wurde klar, dass die Regierung in Baku damit zu tun hatte. Auf dem Spiel steht neben dem Schicksal der Bewohner von Karabach sehr viel mehr: Ein neuer Krieg liegt in der Luft, der diesmal auch auf Armenien selbst übergreifen könnte. Zuletzt drohte der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew mehrmals mit Gewalt, sollte Jerewan territoriale Forderungen nicht erfüllen. Danach soll es eine Verbindung zwischen Aserbaidschan und dessen Exklave Nachitschewan geben – einen extraterritorialen Korridor, der Armenien de facto zweiteilen würde. Eine rote Linie für die Führung in Jerewan.Meri Hovhannisjan bleibt durch Videotelefonate mit ihrer Familie verbunden. Sie habe Schwierigkeiten, sich auf ihr Studium zu konzentrieren. Vielen anderen aus Bergkarabach ergehe es ähnlich. „Wir haben das Gefühl, auf etwas zu warten, ohne zu wissen, worauf.“ Jeden Morgen beim Checken der Nachrichten hoffe sie, die Grenze sei wieder offen. Aber sie ist es nicht, seit über 150 Tagen schon nicht.Placeholder image-1Die Lage sei angespannt, hört sie von ihren Eltern. Es gebe täglich Stromausfälle, viele Medikamente und Lebensmittel würden fehlen. Hovhannisjans Vater, ein Bauarbeiter, ist wegen fehlenden Materials ohne Beschäftigung, ihre Mutter hingegen kann weiter als Mikrobiologin im Hospital arbeiten. Trotz allem will die Studentin das Beste aus ihrer Zeit in Jerewan machen. Sie arbeitet als Freiwillige bei „Impact Hub“, einem Co-Working Space mit diversen Hilfsorganisationen und Firmen unter einem Dach. Ein Modell, das auch für Bergkarabach hilfreich sein könnte. Über Politik will sie nicht reden. Man könne zwar der armenischen Armee vertrauen, nicht jedoch den Politikern. Eines aber wisse sie genau: Ihre Zukunft nach dem Studium liege in Bergkarabach.Vor knapp drei Jahren musste Anna Joljan (34) von dort fliehen, als im September 2020 der zweite Bergkarabach-Krieg ausbrach, den Armenien desaströs verlor. Schon in den ersten Tagen wurde Joljans Heimatort Latschin (armenisch: Berdsor) mit Artillerie beschossen. Ihr Mann brachte sie und die beiden Töchter nach Goris, bevor er selbst zurück ins Kriegsgebiet fuhr. Sie ahnte, dass sie für lange Zeit nicht würde zurückkehren können.Heute wird Latschin von Aserbaidschan kontrolliert. Was aus dem Haus ihrer Familie wurde, weiß Anna nicht. „Als wir alles verlassen mussten, haben wir noch Fotos gemacht, damit wir uns später erinnern können“, erzählt sie beim Treffen der Hilfsorganisation „People in Need“, die sich um mehr als 2.000 vertriebene Familien in ganz Armenien kümmert. Einige von ihnen sitzen in einem Restaurant der 20.000-Einwohner-Stadt Goris, um sich auszutauschen.Die Rolle RusslandsDie Stimmung ist gedrückt, alle blicken mit Sorge in die Zukunft. Man weiß, wie massiv geschwächt die armenische Armee ist. Auch kann auf den früheren Sicherheitsgaranten Russland wegen des Ukraine-Krieges nur bedingt gerechnet werden. Anna Joljans Töchter, sieben und elf Jahre alt, gehen in Goris in die Schule. Sie selbst ist zurück in ihrem früheren Beruf, lehrt an einer Schule armenische Literatur und Sprache. Sie hofft, bald eine Eigentumswohnung zu finden. Denkbar ist das, weil die armenische Regierung geflüchtete Familien mit Gutscheinen über zehn Millionen Dram (circa 23.500 Euro) unterstützt und sich Anna Joljans Schwiegereltern mit ihrer Entschädigung beteiligen wollen. Ersparnisse darüber hinaus hat die Familie nicht.Placeholder image-2Neben den aus Bergkarabach Vertriebenen gibt es eine dritte Gruppe: diejenigen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren, weil sie kurz vor der Blockade nach Armenien reisten, um dort Verwandte zu besuchen oder zu arbeiten – und nun nicht mehr zurückkönnen. Sofi Abrahamian (21) ist eine von ihnen. Im Dezember legte sie in Jerewan die Aufnahmeprüfung an der American University of Armenia ab. Dort Internationale Beziehungen zu studieren, sei immer ihr Traum gewesen. In Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach, gebe es das Studienfach nicht. Am Abend nach dem Aufnahmetest ging sie mit Freunden zum Junior Eurovision Songcontest, der zum zweiten Mal in Jerewan stattfand. Prüfung und Party fielen auf den 11. Dezember und damit auf den Vortag der Blockade. Alle feierten ausgelassen und ahnten nicht, was kommen würde. „Schon am Morgen darauf hörten wir die schrecklichen Nachrichten“, erinnert sich Sofi. Anfangs glaubte sie, dass es nicht lang dauern würde, irgendwann aber erwartete sie keine rasche Lösung mehr. „Es ist nicht normal, aber wir können nichts dagegen tun, außer abzuwarten und zu hoffen.“Keine Sanktionen gegen AserbaidschanMittlerweile antwortete ihr die Universität, dass sie aufgenommen sei. Das Studienjahr beginnt im August, doch muss Sofi Abrahamian zuvor noch ihr Studium in Bergkarabach abschließen, indem sie ihre Diplomarbeit verteidigt – per Videotelefonat. Dass ein anderes Land Menschen in einen „Käfig“ zwingen kann, wie sie es nennt, findet Sofi „abscheulich“. Weshalb es endlich Sanktionen gegen Aserbaidschan geben müsse. Das sehen viele Beobachter ebenso, doch geht Baku ignorant darüber hinweg, dass der Europarat und der Internationale Gerichtshof der UN gefordert haben, die Grenze umgehend zu öffnen.Gern würde Sofi ihre Eltern und den 24-jährigen Bruder wiedersehen, der in der Armee von Bergkarabach dient. Seit Wochen steht ihr Name auf einer Liste des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Neben den russischen Peacekeepern ist das die einzige Organisation, der zugestanden wird, die Grenze zu überqueren. Seit Beginn der Blockade wurden so mehr als 600 Personen mit ihren Familien zusammengeführt, medizinische Transporte ermöglicht und Hilfspakete überbracht. Am Ende braucht es Glück. Wenn der Anruf vom IKRK kommt, wird Sofi Abrahamian unverzüglich nach Goris fahren, fünf Stunden von Jerewan entfernt. Dort muss sie auf die Bestätigung warten, dass es so weit ist.