David Lurie ist ein geschiedener Literaturprofessor, der einmal ein Buch über einen englischen Naturdichter des 18. Jahrhunderts geschrieben hat. Sein Erfolg in dieser Tätigkeit war mäßig, wie auch sein Engagement als Lehrer an der Technischen Universität Kapstadt eher als zurückhaltend denn als leidenschaftlich bezeichnet werden kann. Die Studenten, denen das nicht entgeht, besuchen seine Seminare deshalb immer seltener. Aber David Lurie ist ein großer Freund der doppelten Lebensführung. Wäre er es nicht, ginge es ihm sehr viel schlechter. Denn seine Ausgeglichenheit hat er der Teilzeithure Soraja zu verdanken, die er diskret jeden Donnerstag um Punkt 14 Uhr in einem eigens von einem "Begleitservice" angemieteten Appartement trifft. Dass dieser
Das Ende der Souveränität
KRITIK DES AUTHENTISCHEN ERZÄHLENS In seinem Roman "Schande" schildert J. M Coetzee das Scheitern der abendländischen Kultur in Südafrika
Exklusiv für Abonnent:innen
ser die Hälfte des Honorars kassiert, welches Lurie auf den Nachtisch legt, findet er ungerecht, akzeptiert es aber. Und Soraja, die "seine Tochter sein könnte", nimmt daran auch keinen Anstoß, denn eigentlich heißt sie ganz anders und hat ihr Leben ebenfalls in zwei Teile geteilt, eins, in dem sie heimlich für ein paar Stunden die Woche als Edelhure arbeitet, und eins, von dem Lurie zunächst nichts weiß. Dann aber trifft er sie eines Tages mit ihren beiden Söhnen in der Einkaufszone der Stadt. Den Blick, den Lurie mit ihr durch ein Fenster hindurch wechselt, bereut er sofort. Die Atmosphäre der Diskretion ist durchbrochen. Ein paar Mal kommt sie noch in das Appartement, dann lässt sie durch den Begleitservice ausrichten, sie stünde nicht mehr zur Verfügung.Im Grunde enthält diese kurze Eingangsgeschichte aus J.M. Coetzees Roman Schande Luries ganzes Problem. Es ist die Ouvertüre zu einer Krise, in die der distinguierte Literaturprofessor "alter Schule" nach und nach gerät. Denn sein Umgang mit der Welt ist durchaus vergleichbar mit dem Verhältnis, das er zu der Hure Soraja hat. Seine Vorstellung von einem kultivierten Leben zwischen den Gedichten von Byron und der Musik von Brahms, umgeben von immer neuen, schönen jungen Frauen, all das lässt sich in seinem Alter nur noch mit doppelter Lebensführung verwirklichen. Der Preis dafür, dass er einen Moment lang vergisst, wie der Tod an ihm nagt, ist aber nicht nur bei Soraja hoch. Luries Haltung dem Leben gegenüber, seine Befürwortung der "doppelten und dreifachen Lebensweisen", des "Lebens als Nischendasein", rächt sich nicht nur bei ihm, er rächt sich überall; ganz besonders aber rächt er sich in Südafrika.Es ist eigenartig, wie dieses Land, das während der Apartheid eines der umstrittensten Themen in der westlichen Öffentlichkeit war, jetzt mehr oder weniger an den Rand der Berichterstattung gedrängt worden ist. So als wären mit der Vermeidung eines Bürgerkrieges bei der Abschaffung der Rassentrennung alle Probleme gelöst. Offenbar bedarf es eines Autors wie Coetzee, der sich oberflächlich betrachtet während der Apartheid weniger engagiert hat als etwa Nadime Gordimer oder Breyten Breytenbach, der aber umso subtiler die Folgen dieser Gewalt beschreibt und sie damit wieder ins Bewusstsein hebt. Südafrika war während der Apartheid ein Thema, weil der Westen sich damit selbst feiern konnte. Seht her, hier werden die abendländischen Werte der Menschenrechte mit Füßen getreten, und wir kämpfen dagegen. Jetzt, wo diese Menschenrechte formell gültig sind, in Wirklichkeit aber der Unterschied zwischen Schwarzen und Weißen, zwischen Elend und Reichtum, Gewalt und Menschlichkeit bestehen geblieben ist, wird der Westen nur an die eigenen Probleme erinnert, an die Armen, die die Forderung nach Gleichheit und Brüderlichkeit einfordern, indem sie - von einem "Begleitservice" über die Grenze gebracht - in den sauberen, gut riechenden "Appartements" der Industrieländer auftauchen.In den achtziger und neunziger Jahren waren Coetzees Romane als postmodern verschrien. Allerdings fanden die Anhänger der postmodernen Schreibweise zu wenig Spielerei und zu viel Bedeutung in seinen Büchern, während es den Realisten umgekehrt ging. Genau diese Zwischenstellung macht Coetzee jedoch zu einem der interessantesten Autoren der Gegenwart. Denn obwohl Schande im Vergleich zu den anderen Büchern des Autors (Der Junge einmal ausgenommen) ein eher traditionell erzählter Roman ist, gibt es immer einen Subtext, der sich hinter der eigentlichen Erzählung befindet und der an den spielerischen Umgang des Autors mit traditionellen Erzählinhalten und Formen in den früheren Romanen erinnert. Eine Art spielerisches Pendant, wobei das Spielerische wie im Leben wiederum einen verborgenen Sinn hat und dem Leser eine neue Bedeutungsebene eröffnet. In Schande ist es vor allem Byron, dessen letzte Jahre in Italien und Griechenland am Wendepunkt von Roman und Leben des Helden diese Funktion übernimmt. Denn die eigentliche Geschichte des Buches beginnt erst mit dem Ende der Donnerstagsbesuche bei Soraja. Die "Schande", der sich Lurie ausgesetzt sieht, ist nicht wie bei dem romantischen Dichter das Verhältnis mit einer verheirateten Frau, sondern das zu einer Studentin. Lurie hatte sie zu dem Verhältnis gedrängt, und sie hatte ihn daraufhin bei der Universitätsleitung angezeigt. Vor eine Kommission geladen, gibt er seine Schuld zwar zu, will aber keine weiteren Kompromisse eingehen, um seine Stellung zu retten. Er weigert sich, das mehr oder weniger deutlich eingeforderte generelle Sündenbekenntnis abzugeben. Kurze Zeit später ist er entlassen.Doch statt in Byrons romantisch-verklärtem Griechenland landet Lurie im streng riechenden bäurischen Leben der südafrikanischen Provinz. Mit dem Plan einer Kammeroper über die letzten Jahre Byrons im Kopf zieht er zu seiner Tochter Lucy, die in allem das Gegenteil von dem ist, was er war oder sein wollte. Gerade von ihrer Freundin verlassen, betreibt sie auf einer kleinen Farm eine Hundepension. Neben ihrem Haus in einem ehemaligen Stall wohnt Petrus, ein Schwarzer, der ihr beim Bebauen des Landes hilft und ihr ein Stück Land abgekauft hat, um sich selbstständig zu machen. Im Gegensatz zu Lurie hat seine Tochter begriffen, wie unrealistisch ein "Nischenleben" ist, eine doppelte Lebensführung. Sie weiß, dass sie sich mit Armut und Gewalt arrangieren muss und nicht vor ihr in eine andere Welt fliehen kann. Und sie weiß, dass sie dazu Petrus braucht, der ihr hilft und zu dem sie vertrauen haben kann, auch dann noch, als die Katastrophe über sie und ihren Vater hereinbricht.J.M. Coetzee hat auch ein Buch über das Scheitern der abendländischen Kultur geschrieben. Indem er jedoch den romantischen Intellektuellen als anachronistische und lächerliche Figur schildert, tritt das, was an dieser Kultur verteidigenswert ist, umso deutlicher hervor. Insofern gleicht Lurie einem Don Quichotte, der einerseits die Absurdität der Werte einer vergangenen Epoche vorführt, andererseits in seinem Scheitern das, was an ihnen verteidigenswert ist, in die Zeit danach rettet. Coetzee tut dies aus der Sicht des Weißen. Er entgeht damit der Versuchung, sich mit den Opfern von jahrhundertelangem Rassismus und Unterdrückung zu identifizieren. Von dem, was Petrus denkt und fühlt, erfährt der Leser wenig, ohne dass die Figur damit zu einem Stereotyp in der einen oder anderen Hinsicht würde; ebenso steht er zunächst dem Verhalten Lucys verständnislos gegenüber. Sie ist der Gewalt schutzlos ausgeliefert und will dennoch auf der Farm bleiben. Wie aber sollte Coetzee auch mehr über die anderen Figuren seines Romans schreiben, glaubt er doch nicht mehr an den allwissenden Erzähler, der in das Innere aller schlüpfen kann.Die Kritik des authentischen Erzählens hatte bei Coetzee zu einer Schreibweise geführt, die unter anderem das Erzählen selbst zum Thema machte, wie in Mr. Cruso, Mrs. Barton und Mr. Foe. Hier erzählt er, wie eine Frau, die zufällig auf derselben Insel landet, auf der auch Robinson Schiffbrüchiger ist, nach Robinsons Tod und ihrer Rettung, seine und Freitags Geschichte mit Hilfe des Schriftstellers Foe zu erzählen versucht. In Der Junge, der autobiographisch geprägten Schilderung einer weißen Kindheit in der südafrikanischen Provinz, wusste der Leser nicht mehr genau, wer überhaupt erzählt. War es der allwissende Erzähler? Oder versucht der Autor, sich in einen zehnjährigen Jungen zu versetzen und aus dessen Perspektive zu berichten? Hier wie in Schande scheint es, als wenn Coetzee nicht nur dem auktorialen Erzählen misstraut, sondern auch nicht mehr an die radikal-subjektive Perspektive der Ich-Erzählung glauben kann, die ja in gewisser Weise nur eine weitere Folge der Forderung nach Authentizität war. Wenn ich schon nicht alles über den Anderen erzählen kann, dann zumindest alles über mich. An die Stelle dieser Positionen ist nun eine Schreibweise getreten, bei der der Erzähler gleichzeitig der Held der Handlung ist, der - so, als stünde er neben sich - seine eigene Geschichte erzählt. Im Text ist deshalb immer von einem "Er" die Rede, obwohl die Perspektive des Helden und die des Erzählers identisch sind, Coetzee also auch zum "Ich" hätte greifen können. Eine Schreibweise, die nicht unbedingt neu ist, aber der Tatsache Rechnung trägt, dass am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts das Subjekt weder als Erzähler noch sonst sauber von der Welt, die es umgibt, zu trennen ist. Und eine Erzählhaltung, die einerseits an Schizophrenie erinnert, weil der Erzähler nicht mehr als "Ich" auftreten kann, sondern durch das vom Helden erzählte "Er" in Subjekt und Objekt des Erzählens zerfällt, die aber andererseits weder die Allmacht des Subjekts behauptet, noch die Allmacht der Verdinglichung, also das Ende seiner aufklärerischen Souveränität.Man mag den Entscheidungen der Jury von Literaturpreisen kritisch gegenüberstehen. Dass die englische Booker-Kommission Coetzee im letzten Jahr zum zweiten Mal mit ihrem Preis ehrte (und er damit der einzige Autor ist, der ihn zweimal erhielt), war mehr als begründet. Coetzee hat einen ungemein spannenden Roman geschrieben, der auf eine verwirrende Weise ein neues Licht auf den Zusammenhang von Gewalt und Kultur wirft. Der auch formal intelligent Widersprüche erzählt, die nicht nur in Südafrika virulent sind. Der damit weit über die Probleme des Landes hinaus an Bedeutung gewinnt und deshalb auch noch 10.000 Kilometer weiter nördlich anregend und mit Gewinn zu lesen ist. J.M. Coetzee: Schande, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2000, 288 S., 38,- DM.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken. Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos. Mehr Infos erhalten Sie hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt. Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.