Die Frau von nebenan

Hörbar Es ist noch gar nicht so lange her, da war Russland etwas ganz anderes als die Sowjetunion. Ein Land der Vergangenheit, der Zaren und vor allem einer ...

Es ist noch gar nicht so lange her, da war Russland etwas ganz anderes als die Sowjetunion. Ein Land der Vergangenheit, der Zaren und vor allem einer endlose Geschichte von Unterdrückung und Gewalt. Die Sowjetunion dagegen irgendwie ein Fortschritt, auch wenn dort die Menschenrechte wenig galten. Zumindest war sie die "reale" Gegenwart, aber eigentlich auch die Zukunft, denn wer hat schon damit gerechnet, dass sie innerhalb weniger Jahre von der Landkarte verschwindet?

Wie oberflächlich diese Auffassung vom radikalen Bruch zwischen Zarenreich und nachrevolutionärer Gesellschaft gewesen ist, aber auch, wie ähnlich uns Menschen aus diesem Land sind, wird durch ein Hörbuch deutlich: Gert Westphals 19-stündige Mammutlesung von Tolstois Anna Karenina. Es mag eine Binsenwahrheit sein, dass Anna die Frau von nebenan ist. Aber in Westphals großartigem Vortrag erscheinen plötzlich auch viele der anderen Figuren des Romans als modern. Seine Fähigkeit, allein mit der Stimme die Gefühle und Eigenschaften der einzelnen Personen darzustellen, sich auch noch in die kleinsten Nebenfiguren hineinzuversetzen und ihnen ein individuelles stimmliches Leben einzuhauchen, zieht den Zuhörer nicht nur in die andere Zeit, sondern lässt sie gleichzeitig auch als die eigene erscheinen. Bei dem Gedanken an die Gegenwart hat er plötzlich das Gefühl, von lauter "Vernunftehen" (die meisten ohne Trauschein) umgeben zu sein und in dem alternativen Unternehmer, der den Betrieb am Ende der Kollektiv-Ära übernommen hat, einen Lewin zu erkennen, der genauso wie jener seine Ideen von oben durchzusetzen versucht und sich damit den Unmut seiner Mitarbeiter (Bauern) zuzieht. Und dabei war wirklich vieles ganz anders! Denn welcher Frau droht heute bei einem Ehebruch noch gesellschaftliche Ächtung?

Zu den Dingen, die sich über die Jahrhunderte ohne Einschränkung nicht geändert haben, gehört der Schrecken des Krieges. Daran können auch die Bilder und Berichte, die heute im Fernsehen gezeigt werden und die etwas anderes behaupten, nichts ändern. Der Tod durch eine lasergesteuerte "Präzisionsbombe", der im Afghanistan-Krieg (unpräzise) schätzungsweise 3.000 bis 4.000 völlig unbeteiligte Zivilisten zum Opfer gefallen sind, kann genauso grausam sein wie der Tod durch den Säbel eines Kosaken der Armee General Budjonnys. Die Brutalität dieser Reitersoldaten, die Anfang der zwanziger Jahre für die Rote Armee gegen das polnische Invasionsheer Pilsudskis kämpften und in Galizien vor allem unter der jüdischen Bevölkerung mordeten und plünderten, hat der Schriftsteller Isaak Babel als Berichterstatter für eine Armeezeitung erlebt und in Erzählungen, die später unter dem Titel Die Reiterarmee veröffentlicht wurden, beschrieben.

Gerade wenn man aber an die Bilder denkt, die uns von den letzten, angeblich "sauberen" Kriegen des Westens ins Wohnzimmer gesendet wurden, öffnet die Hörbuchlesung der Reiterarmee nicht nur die Ohren, sondern auch die (inneren) Augen. Abgebrüht von den ständigen Katastrophenmeldung, aber vor allem von der inszenierten Gewalt im Kino und im Fernsehen, nimmt man den Schrecken, der in Babels Erzählungen steckt, beim eigenen Lesen gar nicht mehr richtig wahr. Die Hörbuchfassung des Textes arbeitet nicht nur die Melancholie heraus, die die Gewalt von Budjonnys Kosaken bei den Leidtragenden des Krieges hinterlässt, sondern drängt den Zuhörer durch Sprechpausen, sich das in seiner ganzen Tragweite vorzustellen, was er gerade gehört hat. Der Eindruck ist erschreckender und bedrückender als jeder Antikriegsfilm.

Zu der Besonderheit diese Hörbuchs gehört die Stimme Efim Etkind, des inzwischen gestorbenen russischen Literaturwissenschaftlers und Übersetzers, der wie seine Freunde Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky die Sowjetunion in den siebziger Jahren verlassen musste. Abwechselnd mit Cornelius Obonya liest er die Passagen des Erzählers. Sein russischer Akzent und der in der Originalsprache von ihm vorgetragene erste und letzte Absatz einer jeden Erzählung machen deutlich, dass auch etwas, was fremd klingt und das man nicht versteht, Dinge enthalten kann, die einem nahe gehen.

Das Hörbuch von Babels Reiterarmee enthält nicht alle Erzählungen. Da viele Texte zunächst unabhängig voneinander in Zeitschriften erschienen sind, lässt sich das vertreten. Anders verhält es sich bei dem Buch Die Zimtläden des polnisch-jüdischen Autors Bruno Schulz. Der komplexe barock-surrealistische anmutende Text enthält keine völlig abgeschlossenen Erzählungen, sondern die einzelnen Kapitel beziehen sich - wenn auch lose - aufeinander. Dass Adela, die in dem Buch eine wichtige Rolle spielt, das Dienstmädchen der Familie ist, erfährt der Zuhörer der gekürzten Hörbuchfassung nicht, weil es nur einmal erwähnt wird und die Stelle herausgefallen ist. Das ist auch deshalb schade, weil man der Stimme von Bernt Hahn, der den Text liest, gern weiter zugehört hätte.

Trotzdem gibt das Hörbuch einen ersten Einblick in die Welt von Bruno Schulz. 1892 im galizischen Drohobycz geboren wurde er dort 1942 von dem Gestapomann Karl Günter auf offener Straße erschossen. Die kleine, heute in der Ukraine liegende Stadt ist bis zu seinem Tod der wichtigster Bezugspunkt seiner Texte gewesen. Hier sind Die Zimtläden angesiedelt, hier lässt der langsam in einen kindlichen Zustand regredierende Vater in einem bunten Experiment von "riesigen belgischen Hühnern" Eier exotischer Vögel ausbrüten und setzt sie im Dachboden des Hauses aus. Und hier ist auch das Gymnasium, in das die Zeichenschüler des Nachts kommen und ihre Kissen mitbringen und ab- und zu in einen Kindertraum wegschlummern.

Bereits die ersten Sätze des Buches beschwören jene Kindheitsstimmung herauf, die die weitere Geschichte bestimmt: "Im Juli fuhr mein Vater alljährlich ins Bad und gab mich samt der Mutter und den älteren Brüdern den weißglühenden und betäubenden Sommertagen preis. Wir blätterten, verrückt vom Licht, in dem großen Ferienbuch, dessen Blätter sämtlich vor Hitze brannten und auf ihrem Grund den bis zur Ohnmacht süßen Matsch goldener Birnen hatten." Wer kennt diese Stimmung nicht, auch wenn sie bereits 100 Jahre vergangen ist?

Leo Tolstoi: Anna Karenina, gelesen von Gert Westphal, Deutsche Grammophon 2001, 16 CD, 80 EUR


Isaak Babel: Die Reiterarmee, Sprecher: Efim Etkind, Cornelius Obonya, Martin Semmelrogge, Götz Schulte u.a., der hörverlag 2002, 3 MC 23,90 E / 3 CD 32 EUR


Bruno Schulz: Die Zimtläden, gelesen von Bernt Hahn, Lido. Der Hörbuchverlag von Eichborn 2002, 1 CD, 19,90 EUR

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