Nur noch beten

TASCHENBÜCHER Destruktion und Lust. Über die Wiederkehr des Bösen

Destruktion und Lust. Über die Wiederkehr des Bösen betitelte Rüdiger Safranski einen Aufsatz, der in dem Sammelband der neuen nationalen Rechten, Die selbstbewußte Nation, 1994 erschien. "Aber von der heutigen Krisenstimmung aus gesehen, fällt auf, wie eigentümlich harmlos und idyllisch das Denken der vergangenen Dezennien gewesen ist und dass in ihm ein Thema, das doch über Jahrhunderte hin das abendländische Denken bestimmt hatte, kaum vorkam: das Böse." Safranski übersah dabei die in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren unentwegt geführte Diskussion über die nationalsozialistische Vergangenheit. Allerdings hat ihn die auch weniger interessiert. Nicht die Auseinandersetzung mit dem, was hinter dem "Bösen" konkret stehen könnte, vermisst Safranski, sondern die Rede um ein mythisch aufgeladenes Wort. In dem offenbar als Weiterführung des Aufsatzes gedachten Buch, Das Böse oder Das Drama der Freiheit wird der Leser gleich im Vorwort darüber in Kenntnis gesetzt: "Das Böse ist kein Begriff, sondern ein Name für das Bedrohliche, das dem freien Bewußtsein begegnen und von ihm getan werden kann." Und: "Das Böse gehört nicht zu den Themen, denen man mit einer These oder einer Problemlösung beikommen könnte." Was nicht bedeute, dass es keine "Perspektive" gäbe. Die allerdings sieht dann recht einfältig aus: Da das Böse unerklärlich ist, bleibt nur seine Bekämpfung, und wenn das nicht helfen sollte, ein an Hiob orientiertes Vertrauen in Gott.

Calel Perechodnik, Mitglied der Ghetto-Polizei von Otwock, einer kleinen polnischen Stadt, hat dieses Vertrauen nie fassen können. In dem falschen Glauben, seine Frau und seine dreijährige Tochter würden als Angehörige der Ghettopolizei verschont, bringt er sie zum Sammelplatz und damit in den Tod. Von Gewissensbissen gepeinigt, schwankt er in den Aufzeichnungen, die er vor seinem eigenen Tod 1943 niederschrieb, zwischen der pauschalen Rache an allen Deutschen und dem Versuch, zwischen den einzelnen Menschen zu differenzieren, hin und her. Sein Bericht verstört, weil er Ausdruck einer völlig chaotischen Realität ist, die den Autor und mit ihm den Leser emotional von einem Extrem in andere wirft. Das gilt nicht nur im Hinblick auf seine Rachegefühle, sondern ebenso für die Vergötterung seiner toten Frau und das ambivalente Verhältnis zu seinen Eltern. In der verzweifelten Situation, in der er sich befindet, ist ihm alle Mystifizierung und Dämonisierung des Bösen fremd. Wie für Ruth Klüger in ihren Erinnerungen an Auschwitz ist auch für Perechodnik nicht das Böse, sondern das Gute unerklärlich, zum Beispiel das Verhalten des polnischen Eisenbahnschaffners, der immer wieder unter Lebensgefahr Juden half und ihn und seine Eltern bei seiner Geliebten versteckte.

Das "Gute" in Form der platonischen Frage nach dem "guten Leben" ist seit einiger Zeit Thema der Philosophin Ursula Wolf. Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben lautet der Titel ihres neuesten Buches. Die Anstrengung des Begriffs ist für Wolf eine Herausforderung. Von der platonischen Fragestellung ausgehend, versucht sie einen Zusammenhang zwischen dem "guten Leben" und der Methode der Philosophie herzustellen. Dort, wo Camus in den fünfziger Jahren die einzige wirkliche Frage der Philosophie sah - die nach dem Selbstmord - drückt sich Wolf weniger dramatisch aus. Für sie liegt die grundlegende Aufgabe der Disziplin in der Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens. Darauf zumindest spitzt sie das Problem Platons zu. Aber Wolf bleibt zu sehr einer geistesgeschichtlichen Diskussion der Frage verpflichtet. Sie erkennt zwar auch für die Philosophie die Berücksichtigung historisch-gesellschaftlicher Einflüsse an; aber ihre Hypothese, dass "die Frage nach dem guten Leben in ihrer tiefsten Schicht (also die Sinnfrage) jeweils im Rahmen derjenigen Erfahrung formuliert wird, die in einer Epoche vorherrschen", bleibt seltsam unbelegt. Allein in Nebensätzen erfährt der Leser etwas darüber. Wobei es dann in dem Abschnitt über Descartes heißt: "Die Unsicherheit ist eine konkrete Erfahrung der historischen Epoche, in der Descartes lebte." Eine Formulierung, die eines Schulaufsatzes würdig wäre. Aber immerhin, Ursula Wolf wirft nicht so schnell die Flinte ins Korn wie Rüdiger Safranski.

Einer, der leidenschaftlich Wissenschaft und Vernunft gegen eine vorschnelle Kapitulation des Denkens verteidigt, ist der westschweizer Schriftsteller und Publizist Étienne Barilier. Bereits der Titel seines Essays, Gegen den neuen Obskurantismus, wäre einem deutschen Denker wie Safranski zu unwürdig vorgekommen, da er den Beitrag zur öffentlichen Diskussion signalisiert, die Safranski erst gar nicht aufkommen lassen will. Barilier bringt in seinem Text Argumente, während sich Safranski dadurch unangreifbar macht, dass am Ende unklar ist, wo das Böse anfängt, also nur noch beten und das Vertrauen auf Gott bleibt, und wo es sich noch zu denken lohnt. Bariliers Text ist ein Plädoyer, die Vernunft nicht zu früh aufzugeben. "Wenn man die Vernunft vergißt, heißt das nicht lediglich, dass man sich abends in privaten Kreise mit Tischerücken beschäftigt. Es heißt vor allem, dass man jede Hoffnung aufgibt, die politische und gesellschaftliche Realität zu verstehen. Dass man die Welt nicht mehr als Beziehungsgeflecht von Individuen und Gruppen, sondern als Wirkungsfeld anonymer, unmenschlicher, unkontrollierter Kräfte wahrnimmt. Kurz gesagt, als Sphäre der Notwendigkeit oder des Schicksals." Wie heißt es noch so schön in den "Bremer Stadtmusikanten": "Hör zu, Rotkopf", sagte der Esel, "du schreist dich heiser für die, die dir den Kopf abhacken wollen. Mach dich lieber mit uns auf den Weg, dann werden wir Stadtmusikanten in Bremen. Es gibt immer noch etwas besseres als den Tod."

Safranski: Böse oder Das Drama der FreiheitFischer-Verlag, Frankfurt 1999, 22,90 DM

Calel Perechodnik: Bin ich ein Mörder. Das Testament eines jüdischen Ghetto-Polizisten, Aufbau-Verlag, Berlin 1999, 19,90 DM.

Ursula Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999, 16,90 DM

Étienne Barilier: Gegen den neuen Obskurantismus, edition suhrkamp, Frankfurt am Main 1999, 18,80 DM

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